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Schule

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Am 9. November 1955 wurde ich geboren. Der 9.11. ist ein Tag, an dem seit Jahrhunderten viele schreckliche Dinge passieren.

Zum Beispiel hatte Napoleon Bonaparte am 9. November (18. Brumaire VIII) 1799 geputscht und den Rat der 500 aufgelöst. Zahlreiche totbringende Feldzüge waren die Folge.

1848 wurde der deutsche Revoluzzer Robert Blum am 9.11. in Wien hingerichtet. Damals ein reichsweiter Skandal. Ausgerechnet am 9. November hatten die deutschen Truppen 1870 gegen die Franzosen bei Coulmiers ihr einziges Gefecht verloren. Am 9.11. 1918 hatte Kaiser Wilhelm der Zweite abgedankt, war 1923 der Putsch in München, 1938 die Kristallnacht. Um nur einige Daten zu nennen. An einem 9. November sind auch große Persönlichkeiten gestorben. Zum Beispiel 1970 Charles de Gaulle.

Der absolut einzige positive 9. November war 1989, als die Mauer geöffnet wurde.

Meine männlichen Vorfahren platzierten, seit Menschen Gedenken, vor ihrem Familiennamen den Namen eines ehemaligen französischen Königs; der weibliche Nachwuchs bekam den Namen einer französischen Königin. So hieß mein Urgroßvater Franz, wurde mein Opa als Karl getauft, mein Vater als Heinrich und mein älterer Bruder heißt wieder Franz, weil Franz I. ein so gigantischer König gewesen war, der allerdings mit den Bourbonen, die alle Ludwig hießen, nicht viel zu tun hatte. Ludwig Ludwig hieß noch keiner meiner Vorfahren. Meine Schwester wurde nach Katharina de Medici getauft, die mit Heinrich II. verheiratet war; ich selber nach Phillip, einem Bruder von Ludwig XIV. Aber mit doppel-„l“, nicht mit doppel-„p“ am Ende, wie der originale Philipp. Mein Vater fand doppel-„l“ schöner. Was mich aber herzlich wenig interessiert und worüber ich selten spreche. Meine Mutter hatte den Quatsch bereitwillig mitgemacht.

Meine Heimatstadt liegt in Baden an der französischen Grenze. Baden ist der wichtigste Landstrich der Welt. Dort wurde das Fahrrad erfunden und bald darauf auch das Auto. Aus Baden stammen solche Titanen wie Oliver Kahn, Jogi Löw, Jürgen Klopp, Hansi Flick, Boris Becker, Steffi Graf und Wolfgang Schäuble, den besten Bundeskanzler den wir nie hatten. Etwas südlicher meiner Heimatstadt wurde sogar Amerika erfunden. Der Offenburger Kartograph Martin Waldsehmüller benutzte 1506 die Daten des Navigators Americo Vespucci für den ersten Globus und nannte den neuen Erdteil, zu Vespuccis Ehren, Amerika. Mit „a“ deshalb, weil Kontinente weiblich benannt wurden. Was mir eine extra Freude bereitet, ist die große politische Bedeutung meiner recht kleinen Heimat. 1871 hatte Friedrich I von Baden in Versailles Wilhelm I zum Kaiser ausgerufen. Max von Baden hatte dann am 9.11. 1918 Wilhelm II entlassen. Und der erste Reichspräsident der Weimarer Republik war auch ein Badener, Friedrich Ebert aus Heidelberg.

Meine Eltern besaßen eine Anwaltskanzlei, die gleichermaßen deutsche wie französische Mandanten vertrat. Mein Elternhaus war ziemlich frankophil. So hatte ich als Kind unbewusst nebenbei Französisch gelernt, weil das bei uns zuhause oft gesprochen wurde. Richtig schreiben und lesen kann ich es bis heute nicht. Anwalt war aber nur mein Vater, sein Beruf war sein ein und alles. Mittelgroß, gertenschlank, mit schütterem dunkelblondem Kurzhaar, war er außerhalb des Hauses nur im Dreireiher anzutreffen. Meiner Mutter Hilde unterlag die Büro-Organisation. Als schwangerschaftsbedingte Studienabbrecherin hatte sie keinerlei Abschlüsse, war aber sehr etepetete. Mager, agil und immer geschäftig, trug sie jeden Tag ein anderes Kostüm und ein anderes Paar Schuhe, dazu leichten aber stark funkelnden Schmuck, sie war dezent geschminkt und ihre üppige blonde Frisur saß immer wie frisch aus dem Coiffeur-Salon. Wer sie kennenlernte, gewann den Eindruck, vor irgendeiner Hauptaktionärin zu stehen. Oder vor Ursula von der Leyens größerer Schwester.

Meine Eltern wirkten vornehm, tranken nur wenig Alkohol und rauchten selbstverständlich auch nicht. Sie verkehrten nur in den Kreisen, die sich für die Elite unserer Kleinstadt hielt. Also mit dem Bürgermeister, den Stadträten, der Ärzteschaft, den Industriellen und angesehenen Geschäftsleuten. Um diese vielen Bekanntschaften und Beziehungen pflegen und auch neue knüpfen zu können, was für die Kanzlei nur von Vorteil sein konnte, waren meine Eltern mehrmals die Woche abends außer Haus.

Lief die Kanzlei gut, verließen sie morgens mit uns schulpflichtigen Kindern das Haus. Alle zu Fuß. Zu Mittag aßen meine Eltern mit Geschäftsleuten in jeweils wechselnden Restaurants, abends wurden noch Überstunden gemacht und Gespräche geführt. Lief die Kanzlei schlecht, blieb der Tagesablauf der gleiche, weil meine Eltern bis spätabends herumtelefonierten, um neue Mandanten zu werben. Mutter Hilde ging meist etwas früher, um uns zu erziehen.

Zuhause ging es gepflegt zu, die Wohnung war immer aufgeräumt. Die Möbel waren aus Frankreich und eingekauft wurde auch nur auf der anderen Seite des Rheins. Selbst unsere Raumpflegerin kam von drüben und durfte nur französisch sprechen. Sie war es dann auch, die uns Kinder mit warmen Mahlzeiten versorgte. Nachdem sie das Haus Richtung la France verlassen hatte, pflegte meine Mutter ins Haus zu schneien. Zuerst mussten alle drei Kinder antreten und vom Tag berichten. Was ich mit einem Satz erledigte. Dann wurde Schulisches durchgekaut, anschließend die neusten Verhaltensregeln ausgegeben. Nachdem sie ihren Nachwuchs ordentlich aufgemischt hatte, wurde sie gnädiger. Manchmal wurde ein wenig Fernsehzeit erlaubt; eine erfolgreiche Anwaltsfamilie musste damals selbstverständlich einen Fernseher besitzen und eine Garage haben, in der ein Mercedes stand. Die Raumpflegerin indes, unsere geliebte Anike, hatte Erbarmen und ließ uns heimlich fernsehen. Wir wollten ja in der Schule mitreden können, was es so alles gab. Vor jeder Sendung mussten wir drei in ritueller Weise Anike schwören, sie nicht zu verraten. Sonst wäre es aus gewesen mit fernsehen, weil sie entlassen worden wäre. Wenn ich mit ihr allein war, ich hatte ja weniger Unterricht als meine älteren Geschwister, konnte ich den Fernseher anmachen wie ich wollte. Sie achtete darauf, dass er rechtzeitig abgestellt wurde, damit er bis zum Eintreffen meiner Geschwister abkühlen konnte. In unserem Haus gab es nur eine verschworene Gemeinschaft, das waren Anike und ich.

Meinen Geschwistern Franz und Katharina wurden Ordnung, Disziplin und Ehrgeiz beigebracht. Eine Erziehung, die in der damaligen Zeit selbstverständlich war. Im Hause Ludwig geschah das aber ohne Gewalt; der gewünschte Erfolg wurde durch moralischen Druck und Stubenarrest erreicht. Trotz ihrer häufigen Abwesenheit, widmeten unsere Eltern ihre wenige Freizeit ganz der Formung ihrer Kinder. Womit aber nur Franz und Katharina gemeint waren. Beide nahmen die Sache Abitur bierernst. Beide waren überdurchschnittlich ehrgeizig und auch begabt, wollten aus ihrem Leben etwas machen, zeigen, dass sie etwas Besonderes waren und sich von den Mitmenschen unterschieden. Haben sich vermutlich in Gedanken über andere erhoben.

Besonders unsere Mutter betrachtete die Erfolge ihrer Kinder als ihre eigenen. Da sie selber keine Lorbeeren eingeheimst hatte, wollte sie wenigstens die errungenen Lorbeeren ihrer Kinder auf sich beziehen. Mutter Hilde sonnte sich in den sehr guten Noten, den Theaterauftritten, sportlichen Erfolgen, künstlerischen Produkten und Einser Abituren ihrer zwei Gymnasiasten. Franz wollte ein erfolgreicher Politiker, Katherina eine berühmte Ärztin werden. Die Eltern unterstützen sie wo sie nur konnten, rieben sich dabei richtiggehend auf. Der Name, den sich die eigenen Kinder machen, wirft auch Licht auf die Eltern.

Während meine Geschwister zu Höherem gepuscht wurden, wuchs ich Spätling unbeschwert heran. Keinen störte, dass ich in den Kindergarten ging wie es mir gerade passte. Keiner vermisste mich, wenn ich auf dem Nachhauseweg in der Stadt herumstromerte und mein Umfeld genauer unter die Lupe nahm, als meinen Eltern recht sein konnte. Die Raumpflegerin-Köchin-Miterzieherin Anike ließ mich gewähren, weil sie mit den zwei anderen schon überfordert war. Meine Eltern waren unglaublich froh, dass ihr Nachzügler sich alleine beschäftigen konnte. Geschwister und Eltern vergaßen zeitweise, dass es mich gab.

Als ich in die Schule kam, waren die Eltern voll und ganz in das gymnasiale Leben meiner Geschwister verstrickt und verbrauchten damit ihre Energie. Um den ganzen Aufwand auch noch mit ihrem Jüngsten durchzuziehen, fehlte ihnen danach der Elan. Meine Mutter hatte schlicht und einfach von Erziehung die Nase voll, mein Vater hatte schon einen erfolgreichen Sohn, was ihm genügte. Ich kleiner Phillip wurde mir selbst überlassen.

Mit Erleichterung registrierten alle Familienmitglieder und Anike, dass ich keine Ansprüche stellte. Für mich galten nicht einmal die allgemeinverbindlichen gemeinsamen Mahlzeiten. Ich bin bei dem und dem, reichte meinen Eltern und Geschwistern als Entschuldigung. Ich behauptete es mit einer angeborenen Selbstverständlichkeit und einem natürlichen Charme, der Gedanken, dass es nicht seine Richtigkeit haben könnte, gar nicht zuließ. Wie ich Erwachsene für mich einnehmen und um den Finger wickeln konnte, hatte ich schon im Kindergarten herausgekriegt. Ich lernte auch früh, mich aus dem Kühlschrank zu versorgen. Ich genoss Freiheiten, von denen meine Geschwister gar nicht wussten, dass es sie gab.

Als ich in die Schule kam, bekam ich, außer einer übertrieben großen Schultüte und einigen halbherzigen Ratschlägen und Ermahnungen, ein üppiges Taschengeld, damit ich als Sohn einer erfolgreichen Familie angegeben konnte, womit sich meine Eltern halbwegs von ihrem schlechten Gewissen befreiten, das sie mir gegenüber hatten.

Mit dem Geld hätte ich mich beliebt machen und Freunde kaufen können, so wie es einige andere vormachten. Doch das hatte ich nicht nötig, denn ich bin von speziellem Charakter und bis heute ein Separatist.

Die Eltern hielten es für gegeben, dass ich in die Fußstapfen meiner Geschwister trat. Mein fröhliches und sorgloses Auftreten ließ sie im Glauben, dass in der Schule alles in Ordnung sei. Für mich war es das auch. Doch in der zweiten Klasse gab es die ersten Noten. Als das Zeugnis zur Unterschrift auf dem Küchentisch lag, hielten meine Eltern es für eine Halluzination. Da standen mehrere Ausreichend drin, d.h. Vieren. Und wenige Gut. Meiner Mutter hatte es die Sprache verschlagen. Auch meinem Vater fehlten zuerst die Worte.

„Ist das dein Ernst?“, fragte er schließlich. „Bei deinen Geschwistern stand da überall Sehr gut.“

„Muss ich so unlustig werden wie meine Geschwister?“ fragte ich allen Ernstes mit einem völlig offenen und unschuldigen Gesicht, in dem sich Empörung ankündigte.

„Ja willst du nicht mal was Großes werden und viel Geld verdienen?“ wagte die Mutter einzuwenden.

„Ich wüsste nicht für was das gut sein soll“, sagte ich doch glatt als Zweitklässler. „Ich will mal Bauer werden und nicht immer im Büro sitzen so wie ihr.“ Da war ich schon zu sehr von meinem Freund Michael und dessen Familie beeinflusst, die in einer Gasse der Altstadt lebte.

„Bauer?!“ rief die Mutter empört. „Lokomotivführer und Feuerwehrmann könnte ich noch verstehen. Unsere Kinder machen Abitur und studieren etwas Hochwertiges. Aber ein Bauer mit Stallgeruch kann nicht zu uns gehören.“

„Wenn ich groß bin, muss ich auch nicht mehr zu euch gehören.“

Da merkten die Eltern, dass es schwierig werden könnte.

Lesen konnte ich sehr gut, aber Rechtschreibregeln und Rechnen wollten einfach nicht in meinen Kopf. Die Menge der Leichtsinnsfehler in den Klassenarbeiten und die daraus resultierenden Noten, machten Mama und Papa fassungslos. Mein Zeugnis hatte sich bis zum Ende der dritten Klasse nicht gebessert. Es gab wieder Diskussionen.

„Aber es hat doch gereicht“, war mein Einwand.

„Das Zeugnis reicht gerade zum Tagelöhner“, kommentierte der Vater.

„Das muss bedeutend besser werden“, warnte die Mutter. „Wir wollen dich nach der vierten Klasse auf dem Gymnasium sehen.“

„Damit ich so komisch werde wie meine Geschwister? Die haben doch für nichts Zeit. Haben die überhaupt schon einmal im Heu gespielt? Oder mit einem Kätzchen? Wisst ihr überhaupt wie kuschelig andere wohnen?“

Der Vater runzelte seine Stirn. „Bei uns ist es sauber und ordentlich und wir haben viel Platz. So ist das nur bei Leuten die reich sind.“

Darauf benutzte ich ein verbotenes Wort, was mir erstaunlicher Weise nicht einmal eine Rüge einbrachte. „Reich sein ist Scheiße. Ihr habt jede Menge Zeug, aber keine Zeit.“

Die Eltern vermuteten, dass den Satz mir jemand vorgesagt haben musste. Aber irgendwie hatte er gepasst.

Durch meine bevorzugten Freunde hatte ich von unserer Heimatstadt ein gänzlich anderes Bild als meine Eltern. Es macht einen Unterschied ob man in Villen oder in Mietskasernen, Gassen und Bauernhöfen verkehrt. Zugegeben, in meiner Schulklasse gab es auch einige Idioten, die ihre Minderwertigkeitskomplexe mit viel Getue und Wichtigmacherei überspielten. Gewaltandrohungen oder gar Handgreiflichkeiten gehörten zur Tagesordnung. Aber ich hatte einen ganz anderen Menschenschlag kennengelernt als den, mit dem sich meine Familie umgab. Meine Bekannten waren offener und schnörkelloser.

Wohlstand macht unbescheiden

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