Читать книгу Wohlstand macht unbescheiden - Hans Joachim Gorny - Страница 6
Altstadt
ОглавлениеFrüher war es organischer, der Wohlstand macht alles steriler.
Nur eine Minderheit hat es gerne organisch, die Mehrheit liebt es eher anorganisch. Wer sein Haus mit ausländischen Gewächsen, Beton und Kies umgibt, kann auf seinen Vorgarten wahrlich nicht stolz sein. Denn hier können nur wenige Insekten leben, findet kaum ein Vogel etwas zu fressen. Das Leben befindet sich dort, wo der Rasen etwas wachsen darf, das Grundstück ein paar wilde Ecken aufweist und einheimische Büsche stehen.
Meine Heimatstadt hat derzeit ungefähr 40.000 Einwohner, mindestens 10.000 mehr als bei meiner Geburt. Seither wurde unsinnig viel gebaut, Gewerbegebiete und Wohngebiete, was vor allem dem größeren Raumbedarf der Bevölkerung geschuldet ist. Gebaut wurde auf Kosten der Landwirtschaft und der Natur. In den Fünfzigerjahren lebte der Deutsche im Durchschnitt auf 15 Quadratmeter Wohnraum. Der heutige Deutsche verfügt über 45 Quadratmeter und 40% der Bevölkerung leben als Single-Haushalt. Viele alte Leute wohnen, als Überbleibsel einer vielköpfigen Familie, alleine in einer großen Wohnung oder einem Haus. Es wird allein schon deshalb viel gebaut, weil sich die Bürger immer mehr Platz und Einfamilienhäuser leisten können.
Wenn heutzutage etwas neu gemacht wird, sieht es aus wie frisch aus dem Ei gepellt. Fast alle Gebäude sind ordentlich verputzt und gestrichen, denkmalgeschützte werden mit viel Geld und hohem Aufwand aufgemöbelt. Alle Schlupflöcher und Brutgelegenheiten für Tiere werden beseitigt. Alles muss schick, gestylt, geleckt und sauber sein. Selbst Naturschutzmaßnahmen sehen aus wie für eine Repräsentation gemacht. Zum Beispiel werden an Flüssen, als ökologischer Ausgleich, riesige Einlass- und Auslassbauwerke errichtet, um die Auen wieder zu vernässen, oder gewaltige Fischtreppen gebaut. Für die Produktion der vielen hundert Tonnen Beton und für die erforderlichen Lastwagenfahrten müsste eigentlich noch ein weiterer Ausgleich geschaffen werden. Aber ein richtig ökologischer, so mit Lebensraum und Lebewesen.
Bei uns muss möglichst alles klotzig und grau sein. Auf meinen Reisen in fernen Ländern sind mir Städte und Dörfer lebendiger vorgekommen. Und sie waren immer bunter. Grau scheint bei uns unsinnig modern zu sein und seriös zu wirken. Komplette Straßenzüge sind von farblosen Gebäuden flankiert. Architekturbüro, Finanzdienstleister, Gemeinschaftspraxen, Fliesenleger, Modehaus, Küchenstudio, Autohaus stehen, in unterschiedlich hellen und dunklen Grautönen auf Kundschaft wartend, im neusten Gewerbegebiet und finden sich toll. Einzig eine Malerfirma hat auf ihrer grauen Fassade ein großes buntes Emblem. Die Architekten verpassen sogar den Schulen graue Fassaden. Das macht Laune, so richtig für die Fantasie der Kinder.
In den Wohngebieten ist es auch trist. Außer grau dominiert viel weiß; bunte Häuser sind eindeutig in der Minderheit. Die meisten Vorgärten sind so angelegt, wie ich sie hasse. Mäuerchen aus Betonsteinen, Plattenwege aus Betonplatten, Betontröge, Betonsäulen. Dazu möglichst teure exotische Pflanzen. Vor einigen Häusern stehen auch Natursteinbrocken, die von weit herangekarrt wurden. Dazu wird kurzer Rasen gezüchtet. Die ganz schlimmen Hausbesitzer haben Rasen durch Kies ersetzt. Steriler geht es nicht mehr.
Auch die Landwirtschaft bemüht sich, fast schon verbrecherisch, Deutschland immer steriler zu machen. Sie will Fläche und nochmals Fläche, auf die man alles säen und gießen kann was die EU erlaubt. Fläche, die sich leicht bewirtschaften lässt, die frei von Hecken, Bäumen und Tümpeln ist. Organisch ist auf den Feldern nur noch das was geerntet wird.
Mein Leben war auf jeden Fall um einiges organischer als das meiner Familie, die mir im Aussehen und Verhalten immer steril vorkam.
Als ich sechzig wurde - ich feierte diesen Geburtstag nicht, weil ich meine Geburtstage grundsätzlich nicht feiere - bekam ich in einer dösigen Minute einen nicht geringen Schrecken. Sechzig Jahre, sinnierte ich. Bei meinem hervorragenden Zustand könnte ich durchaus noch neunzig werden. Das war der Grund des Schreckens. Das bedeutete nämlich, dass ich noch ein ganzes Drittel Leben vor mir hatte. Was mache ich bloß mit diesem Drittel? grübelte ich und es war mir gar nicht wohl. Noch mehr Bücher lesen, noch mehr Reisen, noch mehr Foto-CDs herstellen, noch mehr Biotope pflegen? Irgendwann werde ich wohl körperlich abbauen und vieles nicht mehr können. Alles läuft sich tot, alles nutzt sich ab.
Doch jetzt, mit 65, ist mir klar was ich bis zu meinem Tod treiben werde. Auch ich habe diesen Trieb, der viele Alte am Leben hält. Ich bin neugierig und will meine Neugier befriedigen und beobachten, wie es mit dem Planeten, Deutschland, meiner Heimatstadt und ihren Menschen weitergeht.
Die Entwicklung meiner Heimatstadt habe ich jahrzehntelang verwundert verfolgt. Mein Elternhaus lag im Osten der Stadt, dort wo im Kaiserreich die Wohlhabenden ihre Villen hingestellt hatten. Die Luft dort war frischer. In den Jahrzehnten nach dem Krieg wurden dem Villenviertel Bauplätze für gehobene Ansprüche angegliedert. Auf der Ostseite der Stadt hatte ich keinen einzigen Freund. Die Westseite, zum Rhein hin, dort wo noch in den Fünfzigerjahren Malariaerreger nisteten, war für mich der interessantere Teil der Stadt.
Dort liegt der nicht kleine Stadtteil Brunnental, in dem früher die Handwerker, Feierabendbauern und auch Tagelöhner gewohnt hatten. Im Brunnental lebte damals der wilde Michael, den ich in der ersten Klasse kennenlernte. Michael wohnte mit seinen Eltern und drei Geschwistern in einer Gasse, in einem alten landwirtschaftlichen Gebäude. In irgendeinem Kämmerchen hauste noch eine alte Tante, die im Haushalt half.
Die Häuser im Brunnental waren klein, alt, undicht und kalt. Der Teil mit Scheune und Stall war in der Regel größer als der Wohnbereich. Die Bewohner lebten in sehr beengten Verhältnissen, meist drei Generationen unter einem Dach - weil die Jungen nicht wussten wo sonst wohnen, und weil sie nicht wussten wohin mit den Alten. So mussten einige Kinder auf dem Dachboden unter den Ziegeln schlafen und wenn es dort zu heiß oder zu kalt wurde, stahlen sie sich ins Heu. Heu fand ich toll und rutschte mit meinen Freunden gerne den Heustock hinunter. Oder wir spielten Fallschirmjäger, die gerade Kreta erobern. Der letzte Krieg war ja noch allgegenwärtig, den Erwachsenen steckte er noch in den Knochen, uns Kindern erzählten sie nur die heroische Propaganda.
Die Alten damals waren noch richtig alt gewesen - mit fünfundsechzig, wenn sie es überhaupt wurden, hatten die keine Sprünge mehr gemacht. Ihre Gesichter waren sonnenverbrannt, windgepeitscht, schmerzgezeichnet und tiefgefurcht. Sie sahen aus wie die rumänischen, irakischen oder afghanischen Bauern aus dem Fernsehen. Kein Vergleich zu den heutigen Rentnern, die unstrapaziert noch joggen und walken und mit ihren Autos die Welt unsicher machen. Wenn damals jemand Krebs oder eine andere schlimme Krankheit bekam, saß und lag er solange zuhause herum, bis er endlich das Zeitliche segnete. Viel mehr als Schmerzmittel wurde nicht verschrieben. Ich habe da einige Omas und Opas in Erinnerung, die den Tag in ihren Sesseln verbrachten. Meist mit Radio. Wenn es die Augen zuließen, was selten der Fall war, wurde noch genäht und gestrickt. Michaels Nachbar saß manchmal vor dem Hühnerstall und rieb die Körner von den Maiskolben. Für den Weg zurück in die Küche, wo ein Weinschorle wartete, brauchte er ewig. Die schwerste Tagesarbeit dieser ausgelaugten Alten war, morgens aus dem Bett und abends wieder hinein zu kommen.
Oft war die Küche der einzige warme Raum. Das Abwaschwasser ging direkt aus dem Spülstein durch die Wand nach außen in den Rinnstein. Die Aborte befanden sich im Stall oder außerhalb neben dem Misthaufen. Vor fast jedem Häuschen dampfte einer. Dementsprechend waren die Küchen voller Fliegen und Fliegendreck und wurden jedes Jahr vor Ostern frisch gekalkt. Gebadet wurde samstagabends in der Küche, in einem Zuber mit warmem Wasser.
Die Türen und Räume waren niedrig. Den Leuten die hier wohnten, fehlte seit Generationen eine gehaltvolle Ernährung, die das Wachstum hätte fördern können. Satt wurden viele nur an Festtagegen; Fleisch auf dem Tisch setzte Grundbesitz voraus, auf dem man das Viehfutter anbauen konnte. Fett, Öl und Zucker waren teuer und mussten aufwendig gewonnen werden. Bis die Walnüsse eines Baumes als Öl in einer Kanne schwappten, waren viele Arbeitsgänge notwendig. Die Männer maßen im Durchschnitt nur ein Meter sechzig bis fünfundsechzig, Frauen etwas weniger. Es war der Stadtteil, in dem die Hühner in den Gassen herumliefen, Rindergespanne über das Kopfsteinpflaster holperten und Katzen den Tag verschliefen.
In den Gassen, gegenüber den Wohnhäusern und Scheunen, im Rücken anderer Häuser, standen Maissilos aus Maschendraht, Hasenställe, Hühnerhäuser, Verschläge in denen ein Schwein gemästet wurde, Brennholzlager und allerlei Gerätschaften. Insgesamt war so ein landwirtschaftlich geprägter Stadtteil eine enge Angelegenheit.
So wie auch Michaels Elternhaus. Wer ins Haus ging, betrat einen schmalen Flur, von dem aus eine steile, ausgetretene und knackende Holztreppe nach oben führte. Links ging es in die Küche, deren Boden, aus rohen blankgeschrubbten Dielen, sich bei jedem Schritt beschwerte. Rechts landete man im Stall, wo sechs oder sieben weiße Milchziegen an der Futterkrippe angekettet standen. Michael und seine Geschwister sind mit Ziegenmilch großgeworden. Stall und Küche kannte ich am besten. Die Eltern und Kinder schliefen in zwei Räumen im Obergeschoss. Das jüngste zwischen den Eltern, was mich neidisch machte. Ich musste immer allein in einem Zimmer schlafen, wo mich nachts meine Fantasie überwältigte. Die zwei nächsten Kinder teilten sich ein Bett, nur Michael hatte ein eigenes. Als ich in den Kleiderschrank der Kinder einen Blick warf und deren magere Ausstattung betrachtete, dachte ich nicht: Ach sind die arm, was haben die wenig. Ich dachte: Ja das reicht doch.
Oft wurde ich zum Essen eingeladen, auch nachdem diese Leute erfahren hatten, dass meine Eltern reiche Anwälte waren. (Untereinander machten sie Scherze über das arme magere Anwaltskind.) Meistens gab es einen Eintopf, in den Brot getunkt wurde. Ich fand die Eintöpfe herrlich und das selbstgebackene Brot sowieso. Manchmal gab es fette Pfannkuchen, die richtig nach etwas schmeckten. Zum Abendessen gab es ein wenig Wurst und Speck und viel Ziegenkäse, welchen ich als Gast anstandslos verzehrte.
Am Tisch ging es locker zu, jeder rutschte auf den zwei Bänken herum wie es ihm guttat. Michaels Vater war meistens gut drauf, denn er hatte eine Stelle in einer Fabrik und somit ein geregeltes Einkommen. Nie mehr die Sorge, ob die Ernte gut wird, die Ziegen gesund bleiben, ob genug eingemacht war für den Winter. Weil die Familie die Sicherheit eines geregelten Einkommens hatte, war auch die Mutter gut gelaunt. Am Tisch wurde über alles Mögliche geredet, gelästert und gelacht, aber nie über Geschäftliches, Politik, Gymnasium und Studium. Und keine Rede davon, was man sich gerne kaufen würde. Und es herrschte kein Zwang aus seinem Leben etwas machen zu müssen. Die Leute waren zufrieden. Vorerst. Natürlich stritten sich manchmal die Geschwister untereinander. Dann wurde der Vater laut und es herrschte Ruhe.
Der Verdienst reichte also, um die Familie zu ernähren, die Landwirtschaft und den Garten gab es aber noch. So konnte es im Sommer passieren, dass die Kinder abends in die Ebene hinausmarschieren mussten, um auf der familieneigenen Wiese, die jemand für sie mit einem Balkenmäher gemäht hatte, das Heu zu Schwaden zusammen zu rechen. Wegen des nächtlichen Taus. Morgens, vor der Schule, musste es wieder ausgebreitet, nachmittags gewendet und abends wieder geschwadet werden. Erst wenn es absolut trocken war, wurde es geholt und auf den Heustock geschafft. Feuchtes Heu kann sich selbst entzünden. Vor allem die Mutter bewirtschaftete den nicht kleinen Garten und noch ein Kartoffel- und Rübenfeld. Mit einem zweirädrigen Karren zog sie morgens los und kam mit Gemüse, Obst, Kartoffeln oder Rüben zurück. Das meiste davon überwinterte im Keller. Meinen Freunden in der Altstadt half ich mehrere Jahre lang beim Unkraut jäten.
Im Brunnental fühlte ich mich wohl, dort spürte Wärme, fand ich es organisch und war für mich das wahre Leben. Was mir besonders gefiel, war das Zusammenleben mit vielen Tieren. Ich kraulte die Katzen, raufte mit den Hunden, spielte mit den Gizzi, den jungen Ziegen. Mit Hilfe eines anderen Klassenkameraden lernte ich sogar, einem Ochsen das Kummet anzulegen und ihn vor den Wagen zu spannen.
Da die Essensreste im Rinnstein und in den winzigen Gässchen zwischen den Häusern landeten, waren die Ratten bestens versorgt. Was die Hunde und Hühner tagsüber verschmähten, reichte nachts den Nagetieren immer noch zum Überleben. Das Rattenproblem war kein kleines. So war es für uns Jungs ein eifriges und hitziges Unternehmen, auf Rattenfang zu gehen. Je nach Vorliebe bewaffnete sich der eine mit Speer, der andere mit Schnellenbogen, wieder andere mit Schleuder oder einfach nur mit Steinen, um eines der flinken Tiere zu erlegen. Aufgeregt und mit viel Geschrei haben wir die lästigen Viecher aufgestöbert und wenn wir es tatsächlich einmal geschafft hatten, eine Ratte zu töten, standen wir angeekelt davor und wussten nicht wohin mit dem Kadaver, weil keiner ihn anfassen wollte. Er blieb dann einfach liegen, Verwerter gab es ja einige.
Meine Familie hatte mit meinem Umgang ein Problem, vor allem ein geruchliches. Als ich das erste Mal von Michael zurückkam, lag etwas Unbekanntes in der Luft. Weder meine Eltern noch meine Geschwister konnten es stofflich einordnen. Anike, die Putz-Fee, verließ zufällig gerade verspätet das Haus. „Sag mal Phillip, warst du in einem Ziegenstall?“, fragte sie auf Französisch. Chevre hatte ich verstanden.
Erst da erzählte ich Erstklässler, der sonst nie viel erzählte, mit flammenden und begeisterten Worten, dass ich Gizzi gestreichelt und Hühner in den Stall getrieben hätte. Es sprudelte nur so aus mir heraus. Die Familie war baff, so kannte sie mich nicht. Irgendwann war auch geklärt was Gizzi waren. Die Eltern hatten sich danach nicht getraut mir die Besuche zu verbieten, befürchteten wohl, dass ich nicht gehorchen würde und sich ernsthafte Konflikte anbahnen könnten. Sie hielten es für eine vorrübergehende Schwärmerei. Aber Anike erhielt die Order, falls ich mal wieder aus dem Ziegenstall nach Hause kommen sollte, mich gleich zu waschen und frisch einzukleiden.
Es wurde normal, dass ich unbemerkt das Haus verließ, unbemerkt zurückkam und mit entwaffnendem Lächeln immer so tat, als wäre alles in bester Ordnung. Außer dass Hosen und Schuhe schmutzig wurden, ist auch nie etwas passiert. Nur blieben die Noten schlecht.
Aber die meiste Freizeit während meiner Schulzeit verbrachte ich außerhalb der Stadt, auf dem Bauernhof von Alex‘ Familie.