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Prinzipiell bin ich gegen alles was bequem macht. Angesichts der Bequemlichkeit meiner Mitmenschen kann ich richtig verächtlich werden. Viele sind inzwischen sogar zu bequem, um beim Autofahren zu Blinken. Bequemlichkeit ist einer der Schwachpunkte des Homo sapiens, was ihn empfänglich für Werbung macht, denn diese suggeriert ihm, was man haben muss. Die meisten Menschen gehen ihr auf den Leim und das ständige Verlangen nach Neuem tut das Übrige. Die Deutschen, so empfinde ich, sind konsumvernebelt und vom Wohlstand sediert.

Mit jeder Neuerung stellt sich mir die Frage: Wie modern und elektronisch willst du eigentlich sein und werden? Und: Muss ich jeden Trend und jede Mode mitmachen? Die meisten Kinder und Jugendlichen wollen irgendwo dazugehören und anerkannt sein, haben deshalb den Drang das Neueste zu wollen. Diesen Drang kannte ich nicht. Ich sah mich immer zwischen den Gruppierungen stehen, fühlte mich nirgends zugehörig. Misstrauisch verfolgte ich, was die Gleichaltrigen so trieben und sich anschafften. Selber konnte ich, weil es die jeweiligen Umstände gerade nicht zuließen, weder einen Kassettenrekorder, noch einen Walkman oder iPod gebrauchen. Und zu keiner Zeit meines Lebens wollte ich mir ein Handy zulegen.

Smartphones waren mir von Anfang deshalb unsympathisch, weil viele Menschen ihr Leben nach dem kleinen Gerät ausrichten. Dass man mich jederzeit überall erreichen könnte, wäre mir unangenehm. Ich kann es nun mal nicht leiden, wenn man mir meine Zeit stiehlt. Wer mit mir reden will, muss das über den guten alten Festnetzanschluss machen. Was ich wissen will, erfahre ich aus der Tageszeitung, der Tagesschau und von Wikipedia. Und bin damit weniger angeschmiert als die Handy-Nutzer. Ich wollte schon immer Zeit haben; Zeit für mich war mir von klein auf das Wichtigste. Das haben meine Eltern und meine Geschwister nie begriffen. Einfach Zeit zu verbrauchen ohne sie fürs Weiterkommen zu nutzen, war für die anderen Ludwigs undenkbar. In meinen Augen war die angeblich verplemperte Zeit immer sinnvoll genutzt, denn so wie der Doktor Faust, (dass ich erkenne was die Welt, im innersten zusammenhält) versuchte ich, die Welt und die Menschen zu begreifen und dachte dabei vermutlich genauso intensiv nach, wie meine Geschwister im Studium. Doch das wurde mir erst im Erwachsenenalter bewusst.

Außerdem traue ich der Elektronik nicht. Elektronik ist nur so gut, wie die Menschen, die sie anwenden, fähig sind. Deshalb habe ich keine Kreditkarte und mache ich auch kein Homebanking. Bei meinem Lebensstil brauche ich das alles sowieso nicht und es widerspricht auch dem Kerngedanken meiner Philosophie. Der Abneigung gegen Bequemlichkeit.

In meiner Jugend war ich ein eifriger Schallplattenkäufer. Das üppige Taschengeld, um das mich viele beneidet hätten, weshalb ich dessen Höhe lieber für mich behielt, machte es möglich. Die Musik der Beatles setzte in mir eine Euphorie frei, die ich nicht gekannt hatte. Später entdeckte ich Slade, T. Rex und Alice Cooper. Deep Purple mit Made In Japan, brachte mich vollends aus dem Häuschen. Wie war es möglich, eine so kraftvolle und lebendige Musik so perfekt zu spielen? Ohne Noten! Meine Geschwister mussten Klavier spielen lernen, obwohl Gitarre angesagt war. Mich hatte man vergessen, zu Klavierstunden zu nötigen. Oder es ganz einfach unterlassen, weil meinen Eltern die Energie fehlte zu überprüfen, ob ihr Herumtreiber überhaupt zum Klavierunterricht ging.

Meine Schallplattensammlung wurde monatlich größer und umfangreicher. Ich hielt es für ratsam, meinen Musikgeschmack vor den Eltern zu verheimlichen. Die hörten oft Orgelmusik von Bach, auch Beethoven schallte manchmal durchs Haus, seltener etwas Getöse von Richard Wagner. Für mich war das tote Musik, die zudem sich endlos hinzog. Länger als Child in Time von Deep Purple und Stairways to Heaven von Led Zeppelin. Ich hörte meine Musik heimlich mit Kopfhörer, was meine Eltern nie taten. Sie genossen ihre Musik, die seit ewig dieselbe war, hausfüllend.

Dann kam der Kassettenrecorder auf und ich spürte deutlich, wie der Fortschritt und die Wirtschaft die Konsumenten zu einer Verhaltensänderung nötigten. Aber damals waren mir Bier trinken, Discotheken und Konstanze wichtiger gewesen. Einen Kassettenrekorder habe ich nie besessen. Als viele Jahre darauf sich wieder alles änderte und die CDs auf den Markt kamen, war ich mit Elfi und ihren zwei Kindern beschäftigt.

Auf meiner ersten Afrika-Safari, auch ich gönne mir manchmal etwas, wurde ich von einem Naturfotograf in die Fotografie eingeführt. Das begeistert mich so stark, dass ich mir zuhause eine Spiegelreflexkamera mit Wechselobjektiven zulegte. Seither gilt mein Interesse der heimischen Natur und zwischenzeitlich habe ich eine Unmenge Fotos geschossen. In mein analoges Fotografieren war ich so verliebt, dass ich die digitale Entwicklung jahrelang ablehnte. Bis ein Kollege vom NABU mir die neuen Möglichkeiten aufzeigte. Zum Beispiel konnte man Foto-CDs herstellen und vervielfältigen. Nach Jahren gab ich dann wieder viel Geld aus und kaufte mir eine Digitalkamera und einen Computer mit CD-Brenner. Bei Sachen, die ich gut gebrauchen kann, habe ich mit dem Fortschritt kein Problem. So wird es wohl auch anderen ergehen. Nur brauche ich kein Spielzeug, weil ich in meiner Freizeit hauptsächlich lese.

Inzwischen kann ich die neueste Musik endlos umsonst hören und frage mich, ob die Musiker nun von den Einnahmen ihrer Konzerte leben müssen. Auch mit fünfundsechzig interessiere ich mich noch für aktuelle Musik, sitze samstagabends mit Kopfhörer in meinem Häuschen, durchforste die Charts nach neuen Songs, kenne AnnenMayKantereit und Capital Bra, liebe Apache 207 und Rammstein. Einmal Rocker, immer Rocker.

Aber ein Smartphone? So herumlaufen wie die anderen? Das empfinde ich nicht als modern. Ein Smartphone ist der schlimmste Gleichmacher der Gegenwart. Die Geräte haben ihre Besitzer, die bequeme Unterhaltung suchen, voll im Griff. Wenn ich mir gegenüber ehrlich bin, lehne ich vieles schon deshalb ab, weil Besitz mich belastet. Wenn mein Hab und Gut unübersichtlich wird, fühle ich mich sofort unwohl. Außerdem führe ich ja ein Nischendasein in bewusst gelebter Diversität. Aber es hatte Jahrzehnte gedauert, bis ich endlich den Lebensstil gefunden habe, der mir wohltut und mit dem ich sogar glücklich bin.

Ich habe nicht nur eine Abneigung gegen Bequemlichkeit, sondern auch gegen Luxus. Für Luxus fehlt mir der Sinn. Da steckt der ewige Widerstreit dahinter, was nötig ist und was nicht. Ich neige nicht gerade zu Geiz, aber doch zum Einfachen. Um es überspitzt zu schildern: Es gibt Menschen, denen genügt ein Taschenmesser. Andere brauchen jeweils ein Messer für Brot, Butter, Wurst, Speck, Käse, Tomaten, Obst, Gemüse, Fleisch und sonst was. Ich bin eher der mit dem Taschenmesser. Luxus ist fürs Museum.

Meinen Hang zum Einfachen empfinde ich als glückliches Naturell. Damit habe ich auch gut lachen, denn mich plagen keine negativen Eigenschaften. Viele Mitmenschen leiden zum Beispiel unter ihrer Gier. Geldgier, Habgier, Machtgier, Fressgier und was es sonst noch alles an Gierigem gibt. Leiden unter zu wenig Beachtung, Anerkennung, Wertschätzung, Würdigung. Leiden unter ihrem Aussehen, ihrem Status, ihrer Herkunft, unter Krankheiten. Am meisten leiden die Süchtigen. Nikotin-, Alkohol-, Drogen- und Spielsucht sind die bekanntesten Abhängigkeiten, die Familien zerstören und Menschen verarmen lässt. Es gibt sogar Sexsüchtige. Keinem der aufgeführten Laster bin ich verfallen und blieb somit von den schlimmsten Problemen, die man als Mann bekommen kann, seit Geburt verschont. Meinen zeitweiligen Bierkonsum ignoriere ich hiermit.


Mit vierzehn wurde ich Kreismeister im Dreitausendmeterlauf. Am Montagmorgen war mein Bild in der Zeitung. Mein Vater, der als erster die Zeitung las, betrachtete den Bericht mit gemischten Gefühlen. Noch nie hatte es einer der Ludwigs, auch er nicht, in die Zeitung geschafft. Ausgerechnet der Sprössling, der sich weigerte aus seinem Leben etwas Bedeutendes zu machen, lächelte ihm nun zufrieden entgegen.

Die Jahre im Leichtathletikverein waren für mich eine super Zeit, mit viel Kameradschaft und gemeinsamen Feiern. Und den ersten Kontakten zu Mädchen. Alex und ich trainierten zwei Mal in der Woche. An den Wochenenden fuhren wir manchmal zu Wettkämpfen. Mein größter Triumph war der Zeitungsbericht, der meine Eltern und Geschwister fassungslos machte. Der schulische Leistungsverweigerer der Familie strahlte nun aus dem Lokalteil, weil er ein bisschen schneller rennen konnte als andere.

„Du fährst zu Wettkämpfen?“ fragte meine Mutter erstaunt. „Der Wettkampf war aber in Karlsruhe. Wie bist du dahin gekommen?“

„Da gibt es Eltern, die uns Sportler zu Wettkämpfen fahren“, erklärte ich mit meinem entwaffnenden Lächeln. Wie immer wussten meine Eltern nicht, ob ich nur freundlich erzählte oder darin auch eine Anklage versteckte, weil sie sich um mich nicht kümmerten.

Die Wahrheit war, ich wollte nicht, dass sie sich um mich kümmerten. Es war schon schlimm genug, dass meine Lehrer und Trainer versuchten, mich in ihrem Sinne zu lenken. Mir reichte es völlig, dass ich Eltern besaß, auf die ich in der Not zurückgreifen konnte. Fürsorge vermisste ich nicht.

Schon in meiner Kindheit hatte ich ein offenes Gesicht, das ich schnell zum Strahlen bringen konnte. Das war nicht bewusst aufgesetzt, ich hatte es einfach. So nutzte ich meinen Charme auch selten, um andere für mich einzunehmen. Bei Mädchen hätte ich damit bestimmt viel Erfolg gehabt. Aber im menschlichen Umgang war ich von Natur aus vorsichtig, selten ließ ich mich mit jemandem näher ein. Auf diese Art passierte in Punkto Mädchen nicht viel, mehr als Knutschen und Streicheln traute ich mich nicht. Vor allem blockierte mich die Frage, ob ich eine ständige Freundin überhaupt an meiner Seite ertragen könnte und was die von mir alles verlangen würde.

Durch die Geselligkeit im Leichtathletikverein lernte ich auch das Trinken. Auf Siegesfeiern, Geburtstagsfeiern, Straßenfesten überwand ich die Abscheu vor dem furchtbaren Bier, stemmte die Halben bald wie ein Großer. Da zuhause niemand nach mir schaute, merkte auch niemand, dass mein Zimmer gelegentlich nach Alkohol stank. Bis auf Anike, aber die hielt dicht, die liebte mich smarten Phillip mehr als die anderen vier Ludwigs, die eher einen verbiesterten Eindruck machten.

Als Anike zu uns kam, steckte ich in den Windeln und sie war gerade zwanzig Jahre alt. Eine schlanke junge Frau mit schwarzen Locken aus einem Elsässischen Dorf. Ob sie Deutsch konnte, weiß ich gar nicht. Wir unterhielten uns mit ihr nur auf Französisch, weshalb ich es früh sprechen konnte. Ich war dann auch der Grund, weshalb Anike nach achtzehn Jahren gekündigt hat. Kurz nach der Gesellenprüfung kam ich schon nachmittags mit Bierfahne nach Hause. Was für mich kein Risiko bedeutete, Eltern und Geschwister wusste ich weit weg. Nach der Zeugnisübergabe bin ich mit einigen Kameraden sofort in der nächsten Kneipe feiern gegangen. Anike war alleine zuhause und ich befand mich, als Prüfungsbester, in einem Hochgefühl. Ich war so betrunken, dass ich das Fahrrad vor dem Garagentor liegen ließ. Unsicheren Schrittes betrat ich das Haus, Anike kam mir lächelnd entgegen und fragte: „Na Prinz Phillip, wie war’s?“ Ich setzte ein zufriedenes Grinsen auf und fragte sie direkt, ob sie mir zeigen würde wie Sex geht. Nüchtern hätte ich diese Frage nie gestellt, ich hatte auch alle Mühe nicht zu lallen. Mein Wunsch, mit übersprühendem Charme vorgetragen, ließ Anike nur kurz zögern. Sie schob mich vor sich her in mein Zimmer und zog sich aus. Zum ersten Mal sah ich eine nackte Frau aus der Nähe. Eine reife nackte Frau von bald vierzig Jahren. Ich kannte nur die dünnen und strammen Bikini-Körper der jungen Mädchen vom Baggersee, wusste auch, wie die sich anfühlen. Trotz mehrerer Flaschen Bier war ich von Anikes Körper schockiert. Es war mir in den letzten Jahren entgangen, wie dick ihre Schenkel geworden waren. Sie machte dies und das mit mir, ich musste dies und das bei ihr anfassen und das Ganze wurde nicht so der große Hit und war auch bald beendet.

Am nächsten Tag litten wir unter einem großen Katzenjammer und dem Gefühl, etwas Ungehöriges oder vielleicht sogar Verbotenes getan zu haben. Besonders Anike. Sie hätte sich bestimmt ohrfeigen können, weil sie mir nachgegeben hat. Im Prinzip hatte sie den Sohn ihres Arbeitgebers verführt. Den siebzehnjährigen Sohn eines Anwalts, was eines Tages prekär werden könnte. Auf jeden Fall konnten wir uns nicht mehr in die Augen schauen. Sie nicht, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, ich nicht, weil ich von ihrem wenig frischen Körper enttäuscht war, obwohl sie im Gesicht so nett aussah. Die Raumpflegerin, Köchin und Miterzieherin hielt das nur noch bis zum Jahresende durch und kündigte im Januar aus familiären Gründen, als ich gerade die erste Woche bei der Bundeswehr war.

Mein großer Bruder Franz, der Politikwissenschaft studierte und sich in der Landes-CDU engagierte, hatte sich vor dem Barras gedrückt und Zivildienst geleistet. Ich wollte zur Bundeswehr, damit ich etwas Kerniges erlebe und später etwas zu erzählen habe. Als gelernter Handwerker wurde ich gebraucht und führte beim Militär ein angenehmes Leben. Wenn die Sauferei nicht gewesen wäre. Bei der Bundeswehr wurde Bier zu meinem Hauptnahrungsmittel. Die Leichtathletik ließ ich bleiben.

Kurz nach der Gesellenprüfung war in der Zeitung wieder mein Konterfei zu bewundern. Dieses Mal im überregionalen Teil, mit einem glücklichen Gesicht, was die anderen Ludwigs nie bieten konnten. Der Bericht war von der Handwerkskammer und stellte die Prüfungsbesten vor. Vermutlich hatte der Redakteur dieses Bild genommen, weil der Jüngling so eine offene und freundliche Miene zeigte. Mein Vater Heinrich Ludwig musste anerkennen, dass von allen Ludwigs ich bei weiten am besten aussah. Vor allem, weil ich Arglosigkeit und Unschuld vermittelte.

Gymnasium und Studium haben meine Eltern und Geschwister ein wenig entmenschlicht, stellte ich mir vor. Immer der Beste sein zu müssen, war auch ein stressiger Kampf gegen Neider, Mobbing und ungerechte Noten. Bei meinen Eltern hatten vermutlich auch die Auseinandersetzungen vor Gericht und der Umgang mit penetranten Mandanten, Narben und Spuren hinterlassen. Mir wurde klar, dass die vielen Verletzungen und Anfeindungen, die meine Leute erlebten, mir weitgehend erspart blieben. Lebte ich als Feigling? Mogelte ich mich durchs Leben? Oder war ich einfach nur geschickt? Ich glaube, mein Vater empfand so etwas wie Neid. Wenn er rekapitulierte, wie ich mir meine Ausbildung ertrotzt hatte, musste er jedes Mal den Kopf schütteln.


Wohlstand macht unbescheiden

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