Читать книгу Alwins Suche nach Erfüllung - Hans Joachim Gorny - Страница 4

Elli

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An dem Tag, als Claudia Reuter ihre Männer verließ, befand sich ihr Sohn Alwin bei fragwürdigen Freunden.

Alwin war Hauptschüler und Klassenbester seines Jahrgangs, was ihn selbst am meisten überraschte. Denn als Schüler war er nicht von Ehrgeiz getrieben, hatte die Hausaufgaben meistens abgeschrieben und auf Klassenarbeiten nur sporadisch gelernt. Alwin gehörte zu den Typen, die nicht wussten, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, die sich ständig fragten was das alles soll, das mit dem Dasein. Ohne existenzielle Vorstellungen zu haben, ließ er die Zukunft kritiklos auf sich zukommen. Aber im Gegensatz zu anderen, die mit ihrem Leben nichts vorhatten, entschied sich Alwin gegen Unsinn und behielt eine reine Weste. Weil es sich so gehörte, begann er nach der Schule eine Lehre als Landschaftsgärtner, die er nach drei Jahren ebenfalls als Klassenbester beendete. Einige seiner ehemaligen Klassenkameraden waren noch nichts oder mehr oder weniger erfolgreiche Diebe und Dealer.

Sein größter Traum war ein eigenes Motorrad, ein Chopper sollte es sein, auf dem er dann aufrecht sitzend mit ausgestreckten Beinen durch die Heimat gondeln wollte. Es musste kein großes Bike sein und auch kein neues, aber selbst für ein gebrauchtes wollte sein Erspartes nicht reichen. Um den Militär bedingten monetären Engpass zu beseitigen und die neusten Einkommensmöglichkeiten zu sondieren, besuchte er seine alten Kameraden Kalle, Findus und Troll. Die drei hatten auf eine Lehre verzichtetet und waren nach der Schule gleich voll ins Geschäft eingestiegen, indem sie zahlreiche Hilfsarbeiter-Jobs annahmen. Und nebenher auch mit „krummen Dingern“ Kasse machten. Alwin interessierte, wie er am schnellsten und risikofreisten zu ein paar tausend Mark kommen konnte.

„Ich will mir einen Chopper zulegen“, machte er seine drei Kameraden, die mit zwanzig ihre beste Zeit schon hinter sich hatten, mit seinem Wunsch bekannt.

„Ich klau dir einen“, schlug Kalle vor. „Sag mir Marke und Modell.“

Alwin lachte und schüttelte seinen Kopf. „Und wenn mich die Polizei mit dem geklauten Bike anhält, komme ich in Erklärungsnöte. Wisst ihr nichts Besseres?“

„Ich wüsste jemand, für den du dealen könntest“, meinte Troll. „Ein Pfundskerl, ganz ohne Risiko. Du bekommst dein eigenes Revier, idiotensicheren Nachschub und ein garantiertes Einkommen von, na sagen wir, fünfhundert Mark in der Woche.“

„Und weshalb macht ihr den Job nicht?“ wunderte sich der Landschaftsgärtner.

„Uns mag er nicht“, gab Troll zu.

„Und wo steckt der Dealer, der dieses sagenhafte Geschäft bislang gemacht hat?“ wollte Alwin dann doch wissen.

„Ja, der sitzt, weil er dumm war“, meinte Findus ungerührt.

„Wenn ich Schülern Drogen verkaufen müsste, würde ich das Schwein anzeigen“, zeigte Alwin Gewissen. „Kennt ihr keine sichere Art, um an Kohle zu kommen?“

„Doch“, sagte Findus langgedehnt. „Wir wollten schon immer mal in die Baufirma meines Onkels einbrechen und den Tresor herausholen. Kalle und ich wissen auch genau wo er steht, wir haben dort schon gearbeitet.“

„Am Monatsende ist dort am meisten drin“, ergänzte Kalle.

Das wurde immer besser. „Ja wisst ihr denn, wie man einen Safe knackt?“

„Wenn wir den erst mal haben, bekommen wir ihn auch auf“, war Troll überzeugt.

Die Vorschläge liefen aus dem Ruder. „Was Anderes.“

„Am ungefährlichsten wäre“, fand auf jeden Fall Findus, „wenn wir im Südend, dort wo der Bürgermeister wohnt, in eine Villa einbrechen und diese nach Schmuck und Bargeld durchsuchen.“

Alwin schüttelte heftig sein Haupt. „Oh nein, dort habe ich schon gearbeitet. Dort sind mir zu viele Alarmanlagen und Hunde.“ Aus reinem Blödsinn spekulierte er nun wild mit. „Es muss doch eine Möglichkeit geben, wie man jemand um Geld erleichtern kann. Am besten jemand, der mit dem Geld eines anderen unterwegs ist, damit der Verdacht auf den Geldboten fällt.“

Findus pfiff durch seine angeschlagenen Schneidezähne. „Sehr gute Idee. Wir beobachten den Nachttresor der Sparkasse und finden heraus, welche Firma die meisten Geldbomben versenkt. Diesen Boten fangen wir ab.“

„Hab was Besseres“, wusste Kalle. „Was meinst du, was die Geldboten jeden Tag aus dem Handelshof herausholen. Da geht ein Mann allein hinein und kommt mit dem Geld allein heraus. Den könnten wir uns krallen, den Fahrer halten wir im Fahrzeug gefangen.“

Alwin wurde es nun doch mulmig. „Au, au, das wäre mir zu heiß. Das sind Profis, da kommen schnell Schusswaffen ins Spiel. Auch kennt ihr deren Tricks nicht.“ Mit den Dreien komme ich zu keinen Reichtümern, dachte er sich und machte einen weiteren nicht ernst gemeinten Vorschlag. „Aber wie wäre es, wenn man einfach in den Handelshof hineinspaziert und sich von den Frauen die Kassen leeren lässt. Zu dritt müsste man in Windeseile die Tageseinnahmen von mindestens drei Kassen plündern können. Da kommt es nur noch auf einen sicheren Fluchtweg an.“

Die drei schauten sich mit leuchtenden Augen an, alles schien so einfach. Der Handelshof war der größte Supermarkt der Stadt und damals gab es noch den langen Donnerstag.

Findus: „Wo treffen wir uns?“

Alwin: „Ich mache da nicht mit.“

Troll: „Es ist aber deine Idee.“

Alwin: „Ich weiß ja noch gar nicht ob ihr das könnt. Wenn ihr das Ding erfolgreich hinter euch bringt, weiß ich es und mache bei nächsten Mal mit.“

Alle drei schauten überrascht. Dann meinte Kalle: „Wir zeigen dir, dass wir sowas können. Aber es muss schnell gehen, es ist kurz vor Weihnachten, vor Weihnachten wird das meiste Geld ausgegeben. Ich schlage vor, wir nehmen den letzten langen Donnerstag.“ Seine Kumpels nickten.

„Geht aber kein Risiko ein. Und seid nicht gewalttätig“, sagte Alwin locker, der nicht damit rechnete, dass seine ehemaligen Klassenkameraden den Schneid haben, einen Raubüberfall durchzuführen.


Am Donnerstag den 18.12.1986 wurde der Handelshof überfallen. Die Kerle gingen geschickt und schnell vor. Die drei maskierten und bewaffneten Räuber rasten mit einem gestohlenen Pkw in das Foyer des Supermarktes und ließen ihn im Eingang stehen, sodass man das Gitter nicht herunterlassen konnte. Fünf Kassen waren besetzt, alle Damen mussten unter vorgehaltenen Waffen den Inhalt ihrer Schubladen in mitgebrachte Taschen entleeren. Nach kaum drei Minuten flohen die Räuber mit knapp zwanzigtausend Mark. Die drei, so stand am Samstag in der Zeitung, hielten sich für besonders schlau und flüchteten durch eine Einbahnstraße. Beim Verlassen derselben stießen sie mit einem Polizeiauto zusammen und konnten mit ihren Schreckschusswaffen den Waffen der Beamten kein Paroli bieten.

Als der Opa seinem Enkel die Zeitung hinlegte und Alwin die Schlagzeile las, wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Als er zu der Stelle mit dem Zusammenstoß kam, schlug er sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Es war seine Idee gewesen, die er seinen Kumpels flapsig unter die Nase gerieben hatte. Er überlegte, ob man ihn deswegen belangen konnte. Nach einigen unangenehmen Gedankengängen kam er zu dem Schluss, dass die Polizei ihn wohl als Drahtzieher des Ganzen abholen würde. Denn dass alle drei dichthielten, konnte er sich nicht vorstellen.

Opa verbrachte den Heilig Abend in seiner Hütte, Vater war mit unbekanntem Ziel außer Haus. Der Enkel überlegte, ob er auf die Polizei warten sollte, entschied sich dann aber dafür, das einzige geöffnete Lokal zu besuchen, das vor allem von Alleinlebenden und Heimatlosen angesteuert wurde. Dort machte Alwin auf lustig, trank einige Pils und wartete insgeheim auf die Polizei. Um Mitternacht begab er sich ins Bett, schlief lange aus und wartete auf die Polizei. Um zwölf machte er sich ein doppeltes Wurst-Käsebrot mit Gurken und hörte oben seinen Vater hin und her tapsen. Er ging nach oben, sein Vater sah schlecht aus, vermutlich verkatert. Sie unterhielten sich über traurige Weihnachten, vor lauter Umbaustress seien die Geschenke vergessen worden.

„Ich hätte mir eh nur ein Motorrad gewünscht“, gab Alwin zu.

Der Vater wiegelte gleich ab. „Für so was gibt es von uns keinen Pfennig“, womit er seine verschwundene Frau miteinbezog. „Für unvernünftige Wünsche ist der Opa zuständig.“ Weil sein Vater so schlecht drauf war, hatte Alwin auf weitere Unterhaltung keine Lust, holte sein Rennrad aus dem Schopf und radelte ins Feld zu Opas Hütte.

Vom Feldweg aus sah man nur das gemauerte Hühnerhaus und einige überdachte Ster Brennholz. Das Ensemble war von Kirschlorbeer, Koniferen und Holunderbäumen überwuchert. Das Brennholz lagerte schon seit Jahrzehnten am gleichen Platz, denn es verbarg die Rückwand von Opas illegal errichteter Hütte, deren Küchenteil sich im gemauerten Hühnerhaus befand. Der Enkel lehnte sein Rad an das Holz und ging um das Hühnergehege herum, wo sich auf der Südseite zwei massive Holztüren befanden. Die eine Tür war der Zugang zu den Eiern, die andere führte in Roberts Allerheiligstes. Alwin klopfte zweimal kurz und zweimal lang. „Komm rein“, rief es von drinnen. Alwin trat in die winzige Küche, die mit einem Campingherd, einem Spültisch und einem Küchenschrank aus der Kaiserzeit ausgestattet war, und von dort in das Wohnabteil. Durch zwei Fensterchen drang wenig Licht, die verborgene Hütte wurde von den immergrünen Gehölzen beschattet. Opa saß an einem kleinen Tisch, der von drei Stühlen umgeben war, vor einem Viertele Rotwein und las im Schein einer Campingleuchte in einer Zeitschrift. In seinem Rücken prunkte ein bequemes ausziehbares Sofa, an der Stirnwand stand ein Buffet aus den Vierzigern, das genauso mitgenommen aussah wie der alte Küchenschrank.

„Weihnachten war bei uns noch nie das Gelbe vom Ei“, empfing er seinen Enkel. „Aber dieses Jahr ist es eine Katastrophe.“

„Ich hab sogar vergessen, dir ein Geschenk zu kaufen“, entschuldigte sich Alwin, der seinem Opa sonst was Interessantes zum Lesen besorgte. Beide schwiegen eine Weile. „Und du hast echt nicht gehört, wie Mama das Haus verlassen hat?“, nahm er das momentane Dauerthema auf, denn auch die Nachbarn hatten nichts gesehen.

„Als ich mit dem Glätten angefangen hab, hat sie mal kurz mit bösem Blick reingeschaut. Vermutlich wegen dem lauten kratzenden Geräusch.“ Er überlegte. „Oder sie hat sich vergewissert, ob ich beschäftigt und abgelenkt bin.“

Alwin nickte. „Das muss sie schon länger geplant haben. Der Vater eines Bundeswehrkameraden ist bei der Polizei. Angeblich bringen sich vor Weihnachten gerne Leute um, erzählte er mir, weil sie nicht mehr in der Lage sind, intakte Familie zu spielen. Oder sie hauen ab.“

Opa wollte das Thema nicht unnötig vertiefen und fragt: „Wie war es denn beim Barras? Haben sie dich auch ordentlich schikaniert?“

„Ich bin eigentlich mit allen gut ausgekommen. Manchmal war es richtig kernig. Wer sich gerne bewegt, kann sich bei den Gebirgsjägern richtig austoben.“ Der Obergefreite grinste. „Ich könnte an einem Seil den Kirchturm erklettern.“ Dann berichtete er von chaotischen Kameraden und Ausbildern, von feinen Kameraden und kompetenten Ausbildern, von Hektik und Leerlauf, seltsamem Essen und kaputtem Gerät. „Es funktioniert alles nicht so ganz, wie es funktionieren sollte. Wenn etwas klappte, war die Kameradschaft zwischen Wehrpflichtigen und Ausbildern am schönsten, am schlimmsten waren die Besäufnisse.“.

Der gröbste Unfug wird immer von betrunkenen Soldaten fabriziert“, wusste Opa. „Mit zwanzig sind die noch immer wie die Kinder, auch die Unteroffiziere.“

Für Alwin war das ein Stichwort. „Habt ihr in Russland auch gesoffen?“

Der ehemalige Unteroffizier Robert Reuter zögerte mit der Antwort, es war ja auch schon über vierzig Jahre her. Dann gab er zu: „Wir haben den Russen jede Menge Wodka abgenommen und oft heimlich getrunken. Das wurde hart bestraft. Gegen Ende des Krieges konnte das die Hinrichtung bedeuten.“

„Au, au“, machte Alwin. „Wer bei uns auf Wache besoffen angetroffen wurde, landete ein paar Tage im Bau. Habt ihr hungern müssen?“

Der Opa rang mit sich. „Ich war ja im Nachschub, da gab es immer genug. Aber Nahrung war bei uns meistens vorhanden, die haben wir uns bei den russischen Bauern besorgt. Was wenig schön war, die hatten selber fast nichts.“

„Und auf dem Rückzug hat die Wehrmacht alles niedergebrannt, damit der russischen Armee nichts blieb“, wusste der Bundeswehrsoldat.

Opa stöhnte. „Das waren wohl die Pioniere die hinter uns die Brücken und Straßen sprengten. Meine Einheit war da weit voraus. Dazu habe ich sogar eine schöne Erinnerung. Irgendwo auf dem Rückzug haben wir eine Zuckerfabrik geplündert und uns die Hosentaschen mit Zuckerwürfel gefüllt. Während dem Marsch steckten wir die ständig in den Mund. Das war sozusagen eine süße Flucht.“ Er lächelte versonnen.

„Wurde es für deine Einheit auch mal brenzlig?“

„Oje. Daran erinnere ich mich überhaupt nicht gerne. Wir waren einmal sechs Wochen lang eingekesselt. Der ständige Beschuss zerrte wahnsinnig an den Nerven. Wir mussten uns eingraben, bald darauf wurden die Rationen gekürzt, auch für den Nachschub.“ Er grinste. „Wir konnten uns nicht waschen, in den Unterkünften fraßen uns die Läuse auf. Die waren einfach überall, ich habe mich schier zu Tode gekratzt.“ Es schüttelte ihn.

„Und wie habt ihr es aus dem Kessel geschafft?“

„Keine Ahnung. Eines Tages hieß es: Aufladen was geht, und in der Nacht sind wir losgefahren. Dabei wurden auch einige Fahrzeuge und Soldaten getroffen, es war alles furchtbar hektisch und unübersichtlich, fast jedem stand die Todesangst ins Gesicht geschrieben.“ Den Opa mit Todesangst im Gesicht konnte sich der Enkel nicht vorstellen, dafür erzählte er zu sachlich.

„Wie war das mit den Juden im Osten?“ sprach der Junge eine heikle Sache an.

Der Alte runzelte die Stirn, rieb sich das Kinn, beantwortete aber die Frage. „Wir sind immer wieder SS-Einheiten begegnet, die separat operierten. Aber was genau die machten, wussten wir nicht. Nach dem Krieg waren wir dann schlauer. Die müssen ordentlich gewütet haben.“

Alwin überlegte kurz, ob er weiter fragen sollte. Er wollte seinen Opa nicht in Verlegenheit bringen. Aber da nun mal Gelegenheit war: „Habe ich dich schon mal gefragt, ob du einen Russen getroffen hast?“ Alwin hatte schon als kleiner Junge seinen Opa öfter mit Fragen zum Krieg gelöchert.

Robert lachte sogar. „Glaube ich nicht, zum Schießen kam ich nur selten. Und wenn, schoss man einfach in Richtung Feind.“ Er bekam ein finsteres Gesicht. „Aber Leichen habe ich genug gesehen. Manchmal wurden Russen in der Nähe unserer Einheit erschossen.“

„Im Kampf?“

„Exekutiert.“

„Was waren das für Soldaten, die andere hinrichteten? Konnten die überhaupt noch ruhig schlafen?“

Es war alles andere als ein Thema, das zu Weihnachten passte. Opas Gesicht passte auch nicht zu Weihnachten. Alwin befürchtete, zu viel gefragt und alte Wunden aufgerissen zu haben und bezweifelte schon, dass er eine Antwort bekommen würde. Doch Opa, der weit weggetreten schien, erzählte mit düsterer Mine weiter vom Krieg.

„Ich habe mich mit einem unterhalten, der bei Exekutionen von Partisanen und so dabei war. Der erzählte mir, nachdem er seinen ersten Zivilisten erschossen hatte, sei ihm schlecht geworden. Tagelang hätte er das Gesicht vor sich gesehen und in der Nacht sowieso. Jedes Mal wenn es weitere Russen zu erschießen gab, holte ihn der Hauptmann aufs Neue. Manchmal waren auch Jugendliche und Frauen darunter, die danach in seinen Träumen herumspukten. Was meinst du, wie er seine Gespenster losgeworden ist?“ Der Opa erwartete von seinem gespannt schauenden Enkel keine Antwort. „Du musst einfach weiter töten bis es so viele Gesichter geworden sind, dass du sie dir nicht mehr merken kannst, war seine Lösung gewesen. Wenn die Gesichter zu viele werden, wird das Töten zur Gewohnheit, man denkt überhaupt nicht mehr drüber nach. Und damit es unpersönlich bleibt, darf man die Opfer auch nicht zählen.“

Alwins Blick verriet Fassungslosigkeit. „Brutal. Das Töten wurde für ihn so selbstverständlich, dass er dabei nichts mehr empfunden hat. Geschäftsmäßig wie ein Metzger. Hat der Mann den Krieg überlebt?“

„Keine Ahnung, er war nicht aus meiner Einheit.“

Alwin holte sich aus dem Buffet ein Weinglas und schenkte sich Roten ein.

„Was darf ich dir denn zu Weihnachten schenken?“ wechselte Opa das Thema.

„Ein Motorrad“, kam ziemlich schnell die Antwort.

„Du meinst wohl Bargeld als Zuschuss. Nach Neujahr arbeitest du ja wieder in deinem alten Betrieb. Wenn du drei Monate durchhältst, hast du bestimmt dreitausend Mark zusammen. Dann gebe ich dir einen Kredit von weiteren dreien. Abgemacht?“ Robert wusste, wie demotiviert Alwin in seine Gärtnerei zurückging, dass er gerne wechseln würde. Leider gab es im Winter keine freien Stellen und sein Arbeitgeber musste ihn nach dem Bund wieder einstellen. Um zu verhindern, dass Alwin hinschmiss, hatte sein Opa das Angebot ersonnen. Der Enkel schlug ein.


Eigentlich war Alwin bescheiden, kam mit wenig aus und wünschte sich kaum etwas. Als Freundeskreis reichten ihm sein Karateverein und sein Opa. Seinen Eltern ging er lieber aus dem Weg. Er las Bücher, Opas Magazine, die Tageszeitung und schaute im Fernsehen die Tagesschau. Das Weltgeschehen jedoch ließ ihn genauso kalt wie die lokalen Ereignisse. Aber auch er begehrte Einiges; Dreierlei, um genau zu sein. Um diese drei Ziele zu erreichen, nahm er Manches auf sich. Außer einem heißen Bike, begehrte er auch eine heiße Freundin und als Drittes, einen schöneren Arbeitsplatz. Das mit dem Chopper schien in die Wege geleitet, nun konnte er das mit der Freundin angehen. Der neue Arbeitsplatz musste bis zur Frühjahrsbelebung warten.

Polizei ließ sich auch weiterhin keine bei ihm blicken, Alwin konnte es kaum fassen und wurde täglich gelöster. An Silvester durchstöberte er mit zwei Karatekameraden einige Discotheken nach bekannten und unbekannten Mädchen, was ihn unbescheidene Eintrittsgelder kostete. Sein letztes Frauenerlebnis lag Monate zurück. In Mittenwald ließ er sich von einer älteren Frau, sie war achtundzwanzig, in deren Wohnung verführen. Die Begegnung verlief sehr hitzig, die Rothaarige hatte sich verlangend auf ihn gestürzt, was er ebenso heftig erwiderte. Nach einem letzten Akt, kurz vor dem Frühstück, eröffnete ihm die leidenschaftliche Frau, dass sie verheiratet sei und es zu keiner weiteren Begegnung kommen dürfe. Alwin, dem die Nacht ausgesprochen gut gefallen hatte, war ernüchtert. Wochen später erfuhr er per Zufall was es mit der Rothaarigen auf sich hatte. Sie war eine unverheiratete Arzthelferin und ständig auf der Jagd nach jungen Rekruten, von denen sie nie genug in ihr Appartement lotsen konnte. Sie wollte einfach so viele junge Männer wie möglich ausprobieren und in ihre Trophäen-Liste einreihen. Alwin ärgerte sich und fühlte sich benutzt, obwohl er ihr für diese Nacht eigentlich dankbar sein sollte.

Seine ersten Erfahrungen mit Mädchen machte er auf Partys. Knutschen, Haare kraulen, Brüste streicheln, Po kneten und so. Auf so einer Party lernte er, nicht mehr ganz nüchtern, seine Freundin Ilona kennen. Ilona war nüchtern und berechnend, entschied sich spontan für den sportlichen, großen und hübschen Alwin und verließ ihren Freund. Besonders gefielen ihr seine lockigen, dunklen und auch schulterlangen Haare, in denen sie dauernd herumgreifen musste. Bei Ilona, die nicht mehr Jungfrau war, durfte er dann auch eindringen, woran er mit gemischten Gefühlen zurück dachte, denn es war hektisch, umständlich und unfeierlich in seinem Zimmer vonstattengegangen. Die Beziehung hielt nur ein Jahr, sie waren zu unterschiedlich. Alwin dachte schneller als sie, handelte schneller, war ordentlich und pünktlich, Ilona war träge. Alwin stellte fest, dass sie sich gehen ließ und langsam aber stetig zunahm, weil ihre Bequemlichkeit nur Kekse und Pommes als Nahrung zuließ. Am liebsten ernährte sie sich von Highspeed-Fastfood, das waren Torten, von denen sie in fünf Minuten drei Stücke verzehren konnte. Ilona glaubte tatsächlich, ihren Alwin sicher zu haben und für ihre Attraktivität nichts mehr tun zu müssen.

Es musste eine Freundin her, mit der er auch angeben konnte. Eine große, dünne und langbeinige, quasi ein Statussymbol. Im Gegensatz zu seinen zwei Begleitern traute sich Alwin, Mädchen anzusprechen, was er auf spaßige Weise machte. Je nachdem wie sie reagierten sagte ihm sein Instinkt, ob sie Grips und Niveau hatten, oder eher von der drögen Sorte waren. Alwin war bekannt für sein großes Allgemeinwissen. Hauptschule hin, neun Schuljahre her, machte er wiederholt die Erfahrung, dass er mehr wusste als die meisten Gleichaltrigen. Vor allem suchte er nach einer Frau, mit der er sich, wie mit dem Opa, über alles unterhalten konnte.

Sein zwei Jahre älterer Kamerad Heinz, der zwar den zweiten Dan, aber noch nie eine Freundin hatte, fuhr sie in seinem R5 von Disco zu Disco. Den „Glasboden“, Alwins Lieblings-Disco, den er aber wegen der acht Mark Eintrittsgeld nur selten besuchte, betraten sie zuletzt. Da war es schon zwei Uhr, der Eintrittspreis halbiert. Die Tanzfläche bestand aus einer Glasplatte, darunter drohten eine Egge, Sensen, Sägeblätter und Stacheldraht. Im Lokal verteilt standen schmale Glastrennwände, die sich mit ebenso großen Spiegelwänden vermischten. Wer betrunken im Lokal umherwandelte, bekam enorme Orientierungsprobleme und fand alleine nicht hinaus. Über die Spiegelwände ließen sich unauffällig Leute beobachten, in Alwins Fall junge, dünne Frauen. Über gewisse Spiegel konnte man sogar hinter die Wände schauen und in Spiegeln in denen sich Spiegel spiegelten, das Lokal überblicken.

Alwin holte sich ein sündhaft teures Pils für fünf Mark und schlenderte langsam durch die Gäste, lehnte sich manchmal an eine Säule, um Frauen zu beobachten, nahm seine Wanderung wieder auf und landete letztendlich an der Theke, die die Tanzfläche flankierte. Trotz der „frühen“ Stunde wurde der Dancefloor eifrig genutzt. Nun trauten sich auch solche, die nüchtern nie tanzen würden. Auf der Tanzfläche bewegte sich ein betrunkener Querschnitt aus Deutschlands Jugend, kaum jemand war über dreißig. Zwischen all den auf der Stelle tretenden oder öde vor und zurück schleichenden Tänzern, bewegte sich ein kleineres Mädchen, das aufgrund seiner Sportlichkeit auffiel. Die quirlige Person hüpfte locker wie ein Gummiball und drehte sich in einem fort. Trotz ihres Elans fasste sie nach einiger Zeit Alwin ins Auge. Sie entsprach überhaupt nicht seinem Typ, aber so wie sie zu ihm hinüber grinste, schien sie pfiffig zu sein. Mit ihrer Stubsnase, den großen Augen und dem breit lächelnden Mund, der von zwei Grübchen begrenzt wurde, hatte sie etwas Niedliches, Schnuckliges, das man gern im oder auf dem Arm halten würde. Ihre expressive Tanzweise zog den angeheiterten Alwin in ihren Bann. Obwohl sie, für seine Begriffe, zu kurze Arme und Beine hatte, konnte er seine Augen nicht von ihr lassen. Alwin war Nichttänzer und erst recht würde er sich nie neben so eine agile Person stellen, die ihn dann, im wahrsten Sinne des Wortes, alt aussehen lassen würde. Schnelligkeit in Karate war etwas ganz anderes als Schnelligkeit auf der Tanzfläche.

Während der DJ die Musik wechselte, rief Alwin „Du begrüßt das Neue Jahr aber sehr sportlich“, hinüber. Sie lächelte zwar, flippte aber weiter, vermutlich, weil ihr die Rockmusik gerade so gut gefiel. Dass ihm die Kleine Spaß machte, konnte er nicht verhehlen. Er schaute auf ihr Hemd, unter dem die nicht kleinen Brüste hüpften und auf den Po, der rund und kräftig, in der Bewegung ständig seine Form wechselte. Dann stellte sie sich doch zu ihm, sie ragte gerade bis an seine Schulter.

„Du siehst auch sportlich aus. Aber tanzen willst du wohl nicht?“, schrie sie. An der Theke stand man voll in der Akustik.

„Dazu fehlen mir noch einige Bier“, schrie er zurück. „Wie heißt du?“

„Ich bin Elli. Und du?“

„Können wir vielleicht nach hinten gehen? Ich verstehe dich kaum.“

Sie winkte mit dem Kopf, ihr zu folgen und stellte sich hinter eine Spiegelwand. „Wie war nochmal dein Name?“

„Ich bin Al.“

Sie sah ihn belustigt an. „Na, kürzer geht’s wohl nicht. Wie heißt du denn richtig?“

„Ich heiße Alwin und ich sage dir, dass Elli auch nicht dein richtiger Name ist.“

„Elisabeth, mit einem L. Das hört sich für mich nach Mittelalter an, so wie Kunigunde und Walburga. Deshalb müssen alle Elli zu mir sagen, weil sich das poppig anhört.“

Ihr Gesicht war ernst geworden, die Grübchen verschwunden. Wenn er sie nicht verärgern wollte, musste er sie Elli nennen, obwohl er Elisabeth sehr schön fand, der Name hatte etwas Königliches.

Ellis Haupt schmückte eine blonde Lockenpracht, er strich ihr die Frisur aus der Stirn. „Du siehst so jung aus, bist du schon achtzehn oder hast du dich herein geschmuggelt?“

Sie machte eine säuerliche Mine. „Das ist ein wunder Punkt, alle halten mich für ein kleines Mädchen. Aber ich bin einundzwanzig.“

Al tat erstaunt. „Dann könntest du ja meine große Schwester sein.“ Sie schlug mit der flachen Hand gespielt auf seine Brust, die Chemie stimmte. Beide alberten ein wenig herum, bald darauf küssten sie sich. Heinz kam vorbei, er wollte endlich heim. Elli schlug Alwin vor, ihn heim zu fahren. Heinz und der dritte Freund trotteten unlustig davon, Elli und Al knutschen weiter. Irgendwie kam die Sprache auf Wohnung und Zimmer, Elli wohnte noch bei den Eltern.

Er wollte sie neugierig machen. „Ich wohne bei meinem Opa, hab ein schönes, großes Zimmer und nebenan eine neue Dusche, die fast so groß ist wie ein Doppelbett.“

„Glaub ich nicht“, sagte sie mit einem verkniffenen Lächeln. Beide wussten, worauf das hinaus lief.

Elli fuhr mit ihrem Fiat Alwin nachhause und ließ sich die Dusche zeigen, die tatsächlich einen überdurchschnittlichen Durchmesser besaß. „So verschwitzt wie du bist, kannst du sie gleich ausprobieren“, schlug er vor.

„Nicht alleine.“

So lernten sie ihre Körper kennen, aufrecht stehend bei bester Beleuchtung, und Beiden gefiel was sie in die Finger bekamen und sie genossen es, angefasst zu werden. Gegenseitig trockneten sie sich ab und Alwin führte Elli zu seinem Bett. Es wurde eine ungetrübte Nacht, beide hatten viel Wonne und Spaß, irgendwann schliefen sie ein. Sie war, er hatte es vermutet und gehofft, im Bett genauso agil wie auf der Tanzfläche. Im Liegen kroch sie um ihn herum und beglückte ihn mit zahlreichen Griffen, was ihn ermutigte, ebenfalls beherzt zuzugreifen. Mit Ausdauer rieb sie ihre vollen Brüste an seinem Körper, von Fuß bis Kopf und zurück. Das machte sie so gerne, dass sie diese Tätigkeit gleich nach dem Erwachen wieder aufnahm. Nach dem Frühsport, der einem Ringkampf gleich kam, spazierte Alwin nackt in die Küche, der Opa war natürlich schon bei den Hühnern, und ließ eine Kanne Kaffee durch.

Auf dem Bett im Schneidersitz Kaffee schlürfend fragte Elli: „Was machst du eigentlich beruflich?“

„Landschaftsgärtner, und du?“

„Bankkauffrau.“

„Aha, immer schön im Trockenen“, spottete er. Den Indoor-Weicheiern fühlte er sich überlegen.

Versonnen sah sie zur Decke. „Schade, ich hatte dich für einen Studenten gehalten.“ Sie stellte die Tasse zur Seite.

„Mit einem schlaffen Studenten hättest du nicht so viel Spaß gehabt.“ Er streichelte die Innenseiten ihrer strammen Schenkel. „Das war eine richtig sportliche Nacht, die kann sich gerne wiederholen. Gehen wir nun zusammen?“

Erstmals wurde sie richtig ernst. „Du siehst toll aus, du fühlst dich gut an, du bist anständig und witzig. Trotzdem will ich keinen festen Partner. Ungebunden zu sein, bedeutet mir sehr viel. Männer versuchen immer, so ein kleines Mädchen wie mich zu bevormunden. Mein Vater und meine Brüder sind da ganz schlimm.“ Mit einer schnellen Bewegung legte sie sich auf den Bauch.

„So was Kleines will man doch beschützen“. Er streichelte nun ihren Hintern. „Du bist zwar nicht meine Traumfrau, die müsste nämlich groß und dünn sein, trotzdem würde ich dich nehmen.“

„Hör jetzt auf“. Elli setzte sich wieder hin. „Wenn du es genau wissen willst. Ich habe ganz bestimmte Pläne und in denen habe ich für einen Arbeiter keinen Platz. Ich bin auf der Suche nach einem Mann aus guter Familie.“

Alwin unterbrach sie. „Aus reicher Familie, vermute ich.“

„Ich will mal einen Akademiker heiraten, einen Zahnarzt oder so.“

„Oder einen Bankchef.“

„Mein Vater arbeitet am Fließband, meine Mutter ist Putzfrau, aus diesem Milieu will ich raus. Ich will an der Seite eines Mannes glänzen und in der Gesellschaft etwas darstellen.“ Während sie redete, verlor Elli jegliches Nette. „Ich will zu Ereignissen eingeladen werden, zu denen meine Eltern nie Zugang hatten. Ich will in die Oper geführt werden und mit den wichtigen Bürgern in einer Reihe sitzen. Dazu in einem großen Auto herumfahren und in einer repräsentativen Villa wohnen.“

„Du willst das Leben einer reichen Frau führen und dein Mann hat sich abzustrampeln, damit er dir das bieten kann“, meinte Al fast schon giftig.

Elli stutzte. Dann meinte sie grinsend: „Du hast es erfasst. So einen Dummen suche ich.“

„Ich sage dir, du wirst bei einem alten Sack landen.“

„Dann komme ich dich besuchen und mache mit dir, was ich mit dem alten Sack nicht machen kann.“

„Solange meine Traumfrau nicht bei mir wohnt, bist du immer willkommen.“


Alwins Suche nach Erfüllung

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