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Papa zieht aus

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Alwin und Elli sind in den Siebzigern und Achtzigern aufgewachsen. Damals war alles viel bunter und verrückter. Und die Sitten lockerer, Gruppensex war weit verbreitet. Beim ersten warmen Sonnenstrahl lagen die Studentinnen oben ohne oder ganz nackt an den Baggerseen, den Flussufern und in den Stadtparks. Am Körper flatterten die Klamotten, waren teils schreiend bunt, die Fahrzeuge leuchteten in den unwahrscheinlichsten Farben, es gab verrückte, grelle, unpraktische Möbel zu kaufen. Die Reklametafeln waren farbiger, die Häuser wurden es dann auch, es gab Großdemonstrationen, bei denen Innenstädte in Schutt und Asche gelegt wurden. Ganze Banden zogen durch die Republik auf der Suche nach Demos, um sich mit Polizisten zu keilen und abzureagieren. In den Siebzigern konnte man ungestraft LSD konsumieren, die Möglichkeiten der Rockmusik wurden bis ins Bestialische ausgereizt, die ersten Superstars starben am Drogenmissbrauch. In den Achtzigern ging es ungebremst weiter, es kam zur „Neuen Deutschen Welle“, die oberverrückt und abgefahren ganz Europa erfasste. Danach räumte Michael Jackson ab, was ging.

Es gab auch den Terror der RAF, der Roten Armee Fraktion, in der oberschlaue Kinder reicher Eltern zusammenfanden, um die Republik zu verbessern und sich dabei grandios verrannten. Eine Reihe spektakulärer Morde erschütterten Deutschland, die Bevölkerung spürte eine nervöse Polizeipräsenz. Bei Fahrzeugkontrollen standen die Polizisten mit Maschinenpistolen auf der Straße oder sie leiteten sogar den kompletten Autobahnverkehr über einen Rasthof und kontrollierten alle.

Dann kam die Wende. Deutschland wurde eins und, was keiner für möglich gehalten hatte, wieder grauer. Trendsetter war die neugeschaffene Telekom, die die gelben Telefonzellen beseitigte und dafür Graue aufstellte, denen ein Hauch von Rot anhaftete, das als Magenta bezeichnet wurde. Grau dominierte die Fahrzeugfarbe, grau wurden viele Fassaden. Doch ich greife der Zeit voraus.


Alwin lebte und arbeitete in einer Kleinstadt, die von vierzigtausend Menschen bewohnt wurde und bis auf Oper und Theater alles hatte, was das deutsche Herz begehrte. Was der Stadt fehlte, bot die Großstadt in zwanzig Kilometern Entfernung. Wenn die Jungend mal ableben und so richtig Scheiße bauen wollte, tat sie das lieber im Großstadtdschungel und verdrückte sich danach in die Heimat. Umgekehrt galt das aber auch für die Großstädter, die lieber im Hinterland über die Stränge schlugen, in Besenwirtschaften die Sau raus ließen und unerkannt Sexabenteuer nachgingen. In Alwins Heimatstadt gab es viel bessere Discos, Bars und Striplokale, als in der Großstadt.


Die Bank schickte die Jahresabschlussberichte, fünf Stück, jeweils einen für Opa Robert, Vater Rolf, Mutter Claudia, Alwin und die ausgewanderte Inge bekam auch einen. Vater öffnete den Umschlag seiner Frau und fing an zu heulen. Auf Mutters Konto hatte seit ihrem Verschwinden keine Bewegung stattgefunden. Vater Rolf ging damit wieder zur Polizei und meinte, seiner Frau müsse etwas passiert sein, vielleicht würde sie von jemandem festgehalten. Die Beamten fanden das unangetastete Konto nicht außergewöhnlich, nahmen aber trotzdem dieses Mal eine Vermisstenanzeige auf. Dass Menschen auf dem Weg zum Zigarettenautomat verschwinden würden, so ein Polizist, sei kein Witz. Oft werden sie Jahre später bei einer zufälligen Kontrolle wieder entdeckt. Und, dass manche alles liegen und stehen lassen und verschwinden, käme auch vor. Weil viele der Vermissten gefunden würden oder zurückkämen, wüsste man, dass selten ein Verbrechen dahinter steckt. Der Vater besuchte daraufhin Mamas Behörde, forschte dort nach Beziehungen, wollte wissen, ob sonst noch jemand verschwunden sei, er dachte natürlich an einen Geliebten und brachte so lange Unruhe in den Dienstablauf, bis er Hausverbot erhielt. Rolf durchforstete die Ordner seiner Frau, ihre schriftliche Hinterlassenschaft, forschte bei allen Verwandten und Bekannten, kontaktierte Vereine und Organisationen, bei denen sich Claudia früher engagiert hatte und rief alle ehemaligen Klassenkameraden an, deren Adressen er ausfindig machen konnte.


Ab Januar arbeitete Alwin wieder in seinem alten Betrieb. Mit Elli hatte sich leider nichts mehr ergeben. Opa meinte noch, nachdem Al sie hinaus geleitet hatte, er solle sich mit dem Schwängern noch mindestens drei Monate Zeit lassen, damit es ein 88er wird. Alwin zeigte ihm den Vogel, Opa grinste.

Ein Landschaftsgärtner hat weniger mit Pflanzen zu tun als mit Zement und Steinen. Alwins Firma war dafür bekannt, dass sie jeden Garten in eine Festung verwandeln konnte. Im Winter mit Erde, Steinen und Wasser zu arbeiten, war ungemütlich, ständig wechselte das Wetter. Regen, Föhn, Dauerfrost, Schnee, Sonne, bei dem ständigen Auf und Ab der Temperaturen wusste Al nie, ob lange Unterhosen (die er in Nato Oliv vom Bund mitbekam) angebracht waren, oder ob es ohne gehen würde. Nach fünfzehn Monaten hatte er ganz vergessen, was Winterwetter mit den Händen macht. Er konnte froh sein, dass er keine Freundin hatte, die gestreichelt werden wollte. Seine Hände waren voller Schrunden und Hornhautfetzen, zarte Haut hätte er aufgekratzt. Bis Mitte Februar ärgerte er sich über das Wetter und die eintönige Arbeit, dann wurde es interessant.

Am Stadtrand, dort wo die Oberschicht auf Hang-Grundstücken residierte, Alwin musste dabei an Kalle, Findus und Troll denken, durfte sein Betrieb einen Garten umgestalten und dabei aus dem Vollen schöpfen. Es war das Grundstück des Baubürgermeisters. In der Nähe befanden sich auch Haus und Grundstück des Oberbürgermeisters. Leider verzichtete der OB auf Gärtner und ließ es wuchern. Seine Einfahrt bestand aus Kopfsteinpflaster, auf dem das Moos wuchs, im Garten standen Sandsteinmauern, aus denen Farne und andere Pflanzen sprießten, ringsum wuchsen billige, einheimische Büsche und Bäume, die das Haus zu ersticken drohten. Rasenflächen hatte er zwei winzige: eine als Lücke vor der Haustür, damit man sie fand, die andere bei der rückwärtigen Terrasse für den Liegestuhl. Der Rest war Wildnis.

Da war der Baubürgermeister von ganz anderem Kaliber. Der bestellte tonnenweise Betonplatten, Steine, Tröge, Säulen und Simse, damit die Landschaftsgärtner daraus eine Landschaft basteln konnten. Alwins Chef, der auch Gartenarchitekt war, zeichnete eine gut sortierte Gartenanlage. Im Vorfeld waren umfangreiche Planierarbeiten erforderlich. Dann wurden zaghaft erste Mäuerchen in ein Zementbett gestellt und, als Unterlage für die Plattenwege, einige Laster voll Kies abgeladen. Alwin war tagelang mit der Schubkarre unterwegs, um den Kies dort hinzubringen, wo die umfangreichen Plattenwege verlaufen sollten. Jeder Winkel des Gartens musste, ohne sich die Schuhe schmutzig zu machen, gut erreichbar sein. An markanten Punkten wurden Säulen aufgestellt, auf die Säulen Simse zementiert. Als nach langwierigen Vorarbeiten der Rahmen des Gartens endlich stand, wurden die Beete und Rasenflächen mit Steinen eingefasst, danach ging es an die eigentliche Gartenarbeit. Natur durfte nur in Rahmen wachsen, Blumen und Grün wurden in ein strenges Korsett gebannt.

Das Ergebnis gefiel der Hausfrau nicht, sie fand ihren neuen Garten irgendwie komisch, ohne beschreiben zu können weshalb. Der Chef redete sich den Mund fusselig, wusste aber keine Lösung, um den Garten attraktiver zu gestalten. Alwin saß in der Mittagspause auf einer Mauer, biss herzhaft in sein doppeltes Wurstbrot und las in der Tageszeitung irgendwas von Perestroika, die der sowjetische Parteichef Gorbatschow voranbringen wollte. Völlig überraschend kam die Hausherrin und brachte ihm eine Flasche Bier. Alwin dachte sofort: „Die will mich aushorchen.“ Er bedankte sich für das Bier und ließ mit Hilfe einer Spachtel den Kronkorken schneppern.

„Sie machen mir einen intelligenten Eindruck“, schmeichelte die Frau des Baubürgermeisters. „So junge Leute haben doch oft wilde Ideen. Wie würden sie denn den Garten gestalten? Sie brauchen kein Blatt vor den Mund zu nehmen, dass hier etwas nicht stimmt, sieht doch jeder.“

Alwin befürchtete Fettnäpfchen. Dann fiel ihm ein, wie wenig er den Job mochte und dass er sich ruhig das Maul verreisen konnte, weil ihn eine Kündigung nicht jucken würde. „Der Garten ist zu streng angelegt“, tastete er sich zu einer persönlichen Meinung.

„Er soll übersichtlich sein“, meinte die Frau.

„Es ist alles so gerade, so hat der Garten wenig Liebliches“, hielt Alwin dagegen.

Die Hausherrin betrachtete ihn gespannt, der immer noch saß und über das Gelände blickte.

„Ich würde die Ecken der Beete abrunden, in den einen oder anderen Plattenweg würde ich leichte Bögen hineinbringen, damit das Ganze etwas Schwung bekommt, etwas lebendiger wird. So wie jetzt sieht es ziemlich geschäftsmäßig aus, wie Industrie.“ Fast hätte er gesagt, wie ein Gefängnis. „Die Grenzmauer da hinten würde ich unterschiedlich hoch machen, der würde ich ein Auf und Ab verpassen. Halt irgendwie die geraden Linien durchbrechen. Trotz der Gefahr, dass es den Garten unübersichtlicher macht, macht es ihn aber organischer.“

„Ich verstehe“, meinte die Frau. „Danke“, und verließ ihn.

Er sah ihr hinterher. „Jetzt bin ich gespannt, was sie macht und ob es Ärger mit dem Chef gibt.“

Die von Alwin vorgetragenen Vorschläge würden den Garten nicht organischer machen, im Prinzip handelte es sich um einen typischen Spießergarten. Betonmäuerchen, Betonwege, Betontröge, hielten die Botanik strikt in vorbestimmten Grenzen, aus denen sie nicht ausbrechen durfte. Und wehe, der Rasen würde es wagen, über eine Platte zu wuchern, oder eine Blume es wagen, ihr angestammtes Beet zu verlassen, dann wird der Gärtner gerufen, damit er diesem Freiheitsdrang den Garaus macht. Solch einen Garten aus Betonteilen bezeichnete Alwin als steril; manche Leute wollten es anorganischer, andere etwas organischer. Manche wollten Natur gezähmt, andere nahmen auch Unkraut, Insekten und andere Tiere in Kauf.

In Punkto organischer Garten war der Oberbürgermeister ein Vorbild. Dort versickerte das Regenwasser zwischen dem Kopfsteinpflaster, wuchsen standortgerechte Blümchen aus den Ritzen. In den Fugen der Sandsteinmauern lebten Käfer, Blindschleichen und Eidechsen. Die billigen einheimischen Gehölze produzierten Blüten für Insekten und essbare Beeren, alles zusammen lockte Vögel an, die in diesen Gehölzen auch ihre Nester bauten. So ein organischer Garten war Lebensraum, war Natur pur. Das Gegenteil von Beton steril. Nur, an so einem Garten würde Alwins Chef nicht viel verdienen, deshalb wurde der Kundschaft allesmögliche Zeug aufgeschwätzt, von der Betonsäule bis zum sündhaft teuren exotischen Busch, von dem einheimische Tiere aber nicht leben können.

Alwins Chef wurde her zitiert und besprach mit der Auftraggeberin eine weitere Umgestaltung, die Alwin persönlich ausführen durfte. Er riss dem vordersten Beet die Ecken heraus und setzte die Randsteine ins Rund. Al ging vorsichtig zu Werke. Vor jeder neuen Veränderung suchte er bei der Hausherrin das Gespräch, erklärte ihr sein Vorhaben und ließ es von ihr absegnen. Der Chef stellte ihm nur eine stämmige Gärtnereigehilfin zur Seite. Tag für Tag wurde die Betonlandschaft kurviger, was Alwin als lebendiger verkaufte. Auf einmal machte ihm sein Beruf wieder Spaß, für seine eigenen Ideen war er Feuer und Flamme. Rita die Helferin, machte ohne zu murren was er von ihr verlangte, ihr gefiel die neue Arbeitsweise, für Gestaltung schien sie sogar Talent zu besitzen.

Vor die lange Mauer an der Grundstücksgrenze stellte Alwin ein paar Säulen, machte aus der Mauerkrone Wellen, verhalf den eigentlich fertigen Plattenwegen zu kleinen Schwingungen und dort wo ihm die Platten zu reichlich erschienen, riss er welche heraus und schuf kleine grüne Inseln. Er und Rita waren gerade dabei, ein paar hundert Pflanzenzwiebeln zu setzen, als eines Nachmittags, im Gefolge der Hausherrin, mehrere Damen interessiert durch die Betonlandschaft schlenderten. Er musste erklären, welche Bereiche für Rosenstöcke reserviert waren, wo er Bonsaibüsche pflanzen wollte, was Rasen und was Blumenbeet wurde. „Sehr schön“, sagten einige. „Ich bin sehr zufrieden“, freute sich die Bürgermeisterfrau.

Nach Feierabend musste er zum Chef, wohin man nur mit einem unguten Bauchgefühl ging. Alwin nahm an, er hätte seinen Arbeitgeber brüskiert, immerhin war der von ihm gezeichnete Plan zur Makulatur geworden. Sein Chef hatte studiert und war um die vierzig. Bei diesen Typen, wusste Al, zählten vor allem Geltung und Eitelkeit. Dieser studierte Gartenarchitekt setzte sich, mit einem Hefter in der Hand, ihm gegenüber und begann zu blättern. Dann sagte er ernst:

„Du hast uns zu ein paar Aufträgen verholfen. Finde ich gut. Einige Damen der Oberschicht würden gerne ihren Garten umgestalten.“ Der Chef zeigte keine Emotion, überlegte. „Sie wünschen sich deine Ideen in ihren Gärten. Finde ich auch gut, es muss nicht immer so gemacht werden, wie ich es plane. Wir sind doch für Vielfalt.“

Alwin wusste nichts zu kommentieren und auch nicht, worauf das Gespräch hinauslaufen würde.

„Dein Talent als Gärtner ist vermutlich das Kleinere.“ Plötzlich grinste der Chef. „Dein Haupttalent ist wohl, dass du mit diesen Damen umgehen kannst. Du hast sie beeindruckt und sollst nun ihre Gärten auf Vordermann bringen. Einen Gärtner mit diplomatischem Geschick hat nicht jeder. Weil wir ein paar schöne Aufträge bekommen haben, bekommst du ein paar schöne Arbeitsstellen. Und eine Mark Lohnerhöhung.“ Der Chef sah ihn an, Alwin nickte. „Sag den anderen aber nichts“, war der Arbeitgeber wieder ernst.

„Danke, ich freue mich richtig. Darf Rita weiterhin mit mir arbeiten?“

„Wenn du sie brauchen kannst?“

„Die macht was ich sie heiße“, grinste Al nun auch. „Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir der Garten vom OB besser, da leben Tiere drin.“

„Wenn ich ehrlich bin, mir auch. Behalt auch das für dich.“ Der Chef klopfte Alwin auf die Schulter und verschwand.

Fortan machte sein Beruf Alwin sehr viel Freude, an einen Stellenwechsel verschwendete er keinen Gedanken mehr. Da seine Tätigkeit ihn ausfüllte und er auch in der Freizeit an die Arbeit dachte, machte das Leben auf einmal Sinn. Wie sein Chef bemerkte, konnte er es mit den Kundinnen der gehobenen Kategorie ausgesprochen gut, was vor allem an seinem Aussehen und Lächeln lag. Alwin wurde der Gärtner der Oberschicht. Als nächstes landete er auf dem Grundstück eines Professors, dessen Frau grün angehaucht war. Dort redete er erstmals beruflich von Pflastersteinen und Trockenmauern, von den Tieren die zwischen den Steinen lebten und überwinterten. Das kinderlose Paar war hellauf begeistert, Alwin durfte sich auch dort verwirklichen, sein Chef musste die Region nach alten Sandsteinen abgrasen.


Ende April kaufte Al sich eine rote Kawasaki 450 LTD. Die Maschine war mit einem hohen Lenker, einer Stufensitzbank aber mit nur 36 PS ausgerüstet. Das reiche für einen Anfänger, meinte der stolze Besitzer. Opa pflichtete ihm bei. Was jetzt noch fehlte, war eine attraktive Beifahrerin. An zwei Abenden die Woche besuchte er das Karatetraining, besah sich immer wieder die Kameradinnen, besonders genau die Neuzugänge. Meistens waren es Teenager, aber für keines der Mädchen konnte er sich begeistern. In eine feste Freundin müsste ich verliebt sein, sagte er sich. Öfter fuhr er mit Mädchen auf dem Sozius spazieren, ohne dass sich etwas entwickelte. Die Mädchen würden schon gerne mit ihm gehen. Doch Alwin verweigerte, aus Angst sie nicht mehr loszuwerden, sogar das Küssen.

Ich bin zu wählerisch, meinte er selbstkritisch. Wenn ich nach einer perfekten Frau suche, kann das nichts werden, weil es perfekte Menschen nicht gibt. Er probierte es mit dem Naheliegenden und das war seine Kollegin Rita, die in ihn verliebt war. Er nahm sie einige Male auf dem Motorrad mit und auch einige Male mit ins Bett. Aber mit ihr machte es ihm keinen Spaß, da entzündete sich nichts, entstand kein Begehren. Wenn der Samen verspritzt war, war Al sofort lustlos. Rita hatte auf Grund ihrer körperlichen Arbeit zwar kaum Fett, war aber grob gebaut, fühlte sich nicht gut an, ihre Haut wies unschöne Unebenheiten auf. Wenn er sie mit dieser Elli verglich, fehlte es Rita nicht nur an einem schönen Körper, sondern auch an Charme und Witz. Auch vom Charakter her war sie eher krud, mit ihr konnte man sich nur über Arbeit, Fernsehserien und Schlagerstars unterhalten. Jeden Freitag lag sie ihm in den Ohren, weil sie am Wochenende mit ihm zusammen etwas unternehmen wollte. Wobei sie an Sex dachte, das andere interessierte sie nur am Rande. Er behauptete, keine feste Freundin zu wollen, sie solle sich einen anderen suchen. Als sie von ihrem Auserkorenen nach einem halben Jahr immer noch abgewimmelt wurde, kündigte Rita und erschien am Montag nicht mehr zur Arbeit.

Alwin tat es leid. Dass seine Kollegin wegen ihm hinschmeißt, machte ihm zu schaffen. Er brauchte Rat und zwar von einer vernünftigen Person mit der man ernsthaft reden konnte, er brauchte seinen Opa. Robert verbrachte das Wochenende in seiner Hütte, in der er immer viel las und vermutlich auch viel trank. Alwin donnerte mit seinem Motorrad ins Feld, fuhr mit Schwung das Grundstück zum Hühnerhaus hinauf, um das Gehege herum und parkte die Maschine neben Opas Moped. Der Alte hatte keinen Autoführerschein, nie gemacht, und da er so oft sein Fahrrad benutzte, vermutlich auch keinen für seine Kreidler Florett. Opa kam heraus.

„Was sind denn das für neue Sitten“, brummte er.

„Ich brauche deinen Rat“, entschuldigte sein Enkel den lauten Überfall. „Es geht um ein Mädchen.“

„Ja dann immer gerne. Wir holen uns zwei Stühle und setzen uns unter die Bäume.“

Der Alte reichte die Stühle hinaus, er schien nüchtern zu sein. Alwin hatte keine Ahnung wie viel Opa trank, wenn er so alleine in der Hütte vor sich hin brütete. Er erzählte von Rita und dass sie seinetwegen den Job, den sie eigentlich mochte, hingeschmissen hatte und verduftet war.

„Was soll ich machen“, fragte Alwin ratlos. „Soll ich einer Frau nachgeben, die ich nicht liebe, die mir zu einfach gestrickt ist, die sich wie ein Kartoffelsack anfühlt, wofür sie natürlich nichts kann? Ich kann mich doch nicht einer Frau erbarmen, die nicht zu mir passt, damit würde ich mich unglücklich machen und mir das Leben verleiden. Außerdem fühle ich mich zu intelligenten Menschen hingezogen und ihnen auch zugehörig, was vermutlich an dir liegt.“

„Das mit der Intelligenz ist so eine Sache. Als ich zur Schule ging war es normal, wenn man nur acht Klassen Volksschule besuchte. Aufs Gymnasium wechselten nur wenige, fast nur Akademikerkinder. Wer in der Volksschule nicht mitkam, blieb sitzen, einige wurden in der vierten Klasse entlassen. Nach acht Schuljahren zeigte sich, wer etwas taugte, wer Ehrgeiz hatte und wen man für Höheres verwenden konnte. Leider fanden die Minderbemittelten bei den Nazis Verwendung, die SA war ein Sammelsurium schwacher Charakter.“

Alwin stöhnte. „Was hat das jetzt mit Rita zu tun?“

„Ich will dir erklären was passieren kann, wenn die Geschmähten der Gesellschaft Beachtung finden. Beim Barras hieß es immer, wenn der Knecht aufs Pferd kommt, wird er zum Schinder“, erzählte Opa plötzlich vom Krieg. „Die Typen, die nie etwas zu sagen hatten, die in ihrem Leben nur schikaniert und herumgeschubst wurden, waren die schlimmsten Vorgesetzten. Wenn so einer auf einmal andere kommandieren durfte, gab er alles Ungerechte und Schlechte was ihm wiederfahren war, mit gleicher Münze weiter. Typen, die kaum lesen und schreiben konnten, entwickelten eine große Intelligenz, wie sie den Untergebenen das Leben zur Hölle machen. Da sie ihr ganzes Leben nur Knecht waren, wussten sie nicht viel über Menschen und noch weniger über die Welt. Mir graut vor solchen Leuten, denen fehlt der klare Blick, die sind subjektiv bis auf die Knochen, oberflächlich, primitiv und intolerant. Deshalb warne ich dich, lass die Finger von dieser Rita. Wenn du ihr nachgibst, sie sozusagen auf dein Ross nimmst, wird sie sich darauf viel einbilden und andere triezen.“

Alwin konnte nicht folgen. „Du meinst, sie wird eifersüchtig werden?“

„Das sowieso. Wenn eine unattraktive und unbeachtete Person eine große Eroberung gemacht hat, wird sie die mit allen Mitteln verteidigen und Jede und Jeden, der ihrer Beute zu nahe kommt, wegbeißen.“

„Du dramatisiert. Die Rita ist zwar nicht schön und nicht besonders helle, aber sie ist nett und harmlos.“

„Jeder Mensch will beachtet werden, will Anerkennung und Zuwendung. Die meisten wollen sich irgendwie hervortun und über andere erheben, weil sie es nicht ertragen können, dass sie bei der Verwesung genauso stinken wie alle. Und je geringer die Fähigkeiten, desto größer das Verlangen, es den Besseren zu zeigen. Da wird jede Gelegenheit genutzt, um andere herabzusetzen.“

Alwin zog seine Nase kraus. „Für normale Menschen scheinst du nichts übrig zu haben?“

„Ich orientiere mich an Leuten von denen man weiß, dass sie eine Menge Grips besitzen. Früher hießen die Humboldt, Goethe, Einstein und so. Das waren Leute mit einem weiten Verstand. Es ist unglaublich, was die alles bedacht hatten, was sie alles wussten, was sie alles erkannten und in ihre Überlegungen mit einbezogen. Solche Leute gibt es immer noch. Leider treten sie nicht mehr so stark in Erscheinung, weil heutzutage alles sehr spezialisiert ist. Zudem sind die Leute aus der Wirtschaft viel auffälliger. Doch die denken und handeln zu oberflächlich und einseitig. Wer die Welt vornehmlich unter wirtschaftlichen Aspekten wahrnimmt, denkt materiell, denkt nur ans Geldverdienen und den eigenen Vorteil. Diese Leute haben keinen Blick für die Nöte der Umwelt und der Natur. Oft auch keinen für die Nöte der Menschen und manchmal nicht einmal für die der eigenen Familie.

Ich will, wie Alexander von Humboldt und andere Größen von Verstand, das Ganze sehen und mich nicht vom Geld beherrschen lassen. Deshalb sind mir Konsum und Kommerz weitgehend egal. Wer nur Werte kennt die man kaufen kann, aber die Werte die man nicht kaufen kann ignoriert, ist seelenarm.“

Alwin schaute seinen Großvater schräg an. „Und was hat das nun mit meinem Rita-Problem zu tun?“

„Ich will sagen, suche dir eine Freundin mit Verstand, dann hast du außer Sex, auch noch gute Unterhaltung. Ein heller Kopf macht Freude und bereichert ungemein. Such dir eine Studentin.“

Alwin überlegte, fand jedoch gleich ein Haar in der Suppe. „Die brauchen ja ewig, bis sie Geld verdienen. Ich bin seit zwei Jahren Geselle und verdiene schon Tausende Mark. Eine Studentin würde mir nur auf der Tasche liegen.“

Der Opa verdrehte seine Augen. „Auch noch geizig. Wieso nimmst du nicht diese Elli, das war doch mal ein sauberes Dingelchen?“

„Dieses saubere Dingelchen ist auf der Suche nach einem Zahnarzt. Hat selber nur Mittlere Reife, will aber unbedingt einem Reichen den Kopf verdrehen.“

Opa schüttelte den seinen. „Oh Mann, was hat die Jugend Flusen im Kopf.“


Während des Sommers bildeten Alwin und sein Bike eine nicht zu erschütternde Kohäsion. Wo er war, war auch seine Kawa. Er lernte zwei andere Biker kennen, mit denen er in der näheren Umgebung Motorradtreffen besuchte. Der eine nannte sich Schratt und war lang und dünn. Unter seinen langen Haaren versuchte er, sein einfältiges Gesicht zu verstecken, das von einer kleinen Nase und vollen Lippen dominiert wurde. Sein Aussehen stand konträr zu seinem Mundwerk, er konnte reden wie mit Engelszungen. Schratt arbeitete auf einem wichtigen Posten bei der Bundespost. Sein Freund Tiger war eine mittelgroße, dunkle Erscheinung, die vor Kraft strotze. Tiger betrieb Body Building und arbeitete in einer Fabrik für Bad-Armaturen.

Alwins alte Freunde, Kalle, Findus und Troll, standen im Sommer vor Gericht, alle drei bekamen fünf Jahre aufgebrummt. Al besuchte sie kein einziges Mal, es sollte keiner zur Sprache bringen können, dass es seine Idee gewesen wäre. Vielleicht würde er nicht nur als Mitwisser hingestellt, sondern sogar als Auftraggeber.

Sonntagabend kam er nicht ganz nüchtern von einer längeren Ausfahrt nach Hause. Sein Vater, den er nicht mehr oft sah, wartete auf ihn. Er bedeutete Al, sich zu ihm an den Küchentisch zu setzen. „Ich habe eine neue Stelle“, sagte er ohne Einleitung. „Ich habe die Suche nach Mama aufgegeben und werde hier wegziehen. Ich kann dieses Haus nicht mehr ertragen. Ich hoffe, dass es dir besser ergeht.“.

„Ich mache es wie Opa und nehme es wie es kommt“, sagte der Sohn leicht dahin.

„Du scheinst deine Mutter nicht zu vermissen.“

Am liebsten hätte Alwin gesagt: „Ich genieße die Ruhe.“ Denn Mutter war immer gegen alles gewesen. Stattdessen sagte er: „Doch schon, aber was soll ich machen. Irgendwann wird sie wieder auftauchen und weiter zetern.“

„So siehst du es also.“

„Ich glaube, Opa sieht es auch so. Er befürchtet ein baldiges Ende der Ruhe.“

„Ist dir schon einmal aufgefallen wie ähnlich ihr euch seid? Als ob er dein Vater wäre.“

Jetzt war Alwin genervt. „Das ist nicht dein Ernst?“

„Nein, natürlich nicht“, beschwichtigte Vater Rolf, der die Bierfahne roch. „Aber du hast mehr von ihm, als von mir. Mama hat aber bestimmt nichts mit ihm gehabt, die konnten sich ja von Anfang an nicht leiden.“

„Vielleicht kann Mama Opa deshalb nicht leiden, weil sie in jungen Jahren von ihm vergewaltigt wurde, und ich bin dabei herausgekommen.“

„Jetzt geht es mit dir durch, jetzt merkt man den Alkohol.“

Das Gespräch erstarb. Dann fiel dem Vater noch etwas ein. „Bevor ich meine neue Stelle antrete, fliege ich noch zu Inges Hochzeit nach Kanada.“

„Das würde mich auch interessieren.“

„Wenn du Geld für die Flüge und das Hotel hast, kannst du mitkommen. Oder hast du im Ernst daran gedacht, dass dir jemand die Reise bezahlt?“

Alwin sagte Tschüss und ging nach unten. Dort stellte er sich vor den dreiteiligen Badezimmerspiegel und betrachtete sich von allen Seiten. Wie sein Großvater hatte er ein längliches Gesicht, kräftige dunkle gewellte Haare, die bei Opa grau durchwirkt waren, dieselbe gerade Nase, dasselbe kräftige Kinn, etwas hervorstehende Backenknochen und eingefallene Wangen. Nur waren Opas Augenbrauen buschiger, und ihm wuchsen Haare aus der Nase und den Ohren, wenn er sie zu stutzen vergaß. Und Opa war zehn Zentimeter kleiner, aber dünn und ohne Bauch. Weil er so schlank war, konnte er bei schwacher Beleuchtung als Dreißigjähriger wahrgenommen werden. Aus der Nähe sah man natürlich an der Haut, dass er schon ziemlich alt sein musste.

Opa Robert wusste sein gutes Aussehen zu nutzen, er verbrachte nur halb so viel Zeit in seiner Hütte, wie Sohn und Enkel vermuteten. Der schöne Robert hatte im Städtchen immer ein Liebchen.


Alwins Suche nach Erfüllung

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