Читать книгу Alwins Suche nach Erfüllung - Hans Joachim Gorny - Страница 7

Trixi

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Auch im Sommer 1989 blieb Alwins Mutter verschwunden, sein Vater meldete sich nur selten. Im Obergeschoss wohnte ein älteres, berufstätiges Ehepaar zur Miete. Robert und Alwin waren zufrieden, die Mieter verhielten sich leise. Das mit den jungen Damen hatte nicht geklappt, obwohl Opa es an der Uni versucht hatte. Leider meldeten sich nur männliche Studenten.

Die Gelegenheit zu einer 88er-Vaterschaft ließ Alwin verstreichen. Meistens war er solo, die Richtige hielt sich gut versteckt. Alle Mädchen die er auf Herz, Nieren und Charakter prüfte, hatten nicht akzeptable Mängel. Aber Opa erfreute sich wieder einer festen Freundin, er hatte sich eine alte Studienrätin angelacht. Robert machte sich fast nur an Akademikerinnen heran, deren erhöhtes Mitteilungsbedürfnis nahm er in Kauf. Diese Liselotte, kurz Lilo gerufen, war erst noch schlank und knackig, eine richtige Salat- und Müsli-Esserin. Alwin konnte es nicht fassen, als bei einer seiner sporadischen Übernachtungen, eindeutige Geräusche durch die Wand drangen. Er beschwerte sich und fand das Ganze unschicklich.

„Dein Bett knarrt, man könnte meinen, ihr habt Geschlechtsverkehr.“

„Du hast doch keine Ahnung vom Alter“, reagierte Opa ungewohnt heftig. „Diese Frau ist Witwe und wartet seit Jahren, dass sie mal wieder einer feucht macht. Ich weiß noch, wie es war jung zu sein und diese Lilo fühlt sich an wie ein junges Mädchen. Du Jungspund kannst dir nicht vorstellen, dass auch alte Leute noch Sex wollen.“

Alwin war schockiert, wie spitz sein Opa noch war. „Ja hört das denn nie auf? Du wärst noch im Stande und würdest mir einen Onkel oder eine Tante zeugen.“

Opa grinste unverschämt. „Im Stande schon, aber nicht verrückt genug. Das ist auch das Schöne daran, ab einem gewissen Alter muss man weder aufpassen noch verhüten.“

Diese Lilo war aber eine umgängliche Person, man konnte sich mit ihr vernünftig unterhalten und sie ließ andere an ihrer Bildung teilhaben. Alwin freundete sich mit ihr sogar an. Doch wenn er mit ihr alleine war, wurde ihm mulmig, weil lüsterne Blicke auf ihm lauerten. Die würde mich vernaschen, wenn ich mich dazu hergäbe.


Im November wurde die Mauer zur DDR geöffnet. Eigentlich war es ein Zufall, vielleicht auch ein Versehen. Trotz der weltgeschichtlichen Bedeutung geschah dies ohne politisches und festliches Trara. Um genau zu sein, bei Nacht und Nebel. Am nächsten Tag waren die Republik und die Welt eine andere.

Robert und Alwin Reuter hatten weder Bekannte noch Verwandte in der DDR, und auch keinen sonstigen Bezug zum Arbeiter- und Bauernstaat. Ihre Informationen stammten aus den Westmedien. Alwins Hauptaufenthaltsort war immer noch die Hütte. Nur bei Regenwetter wohnte er bei seinem Opa, der geschäftiger denn je unterwegs war. Nachdem Al im Radio diesen hochbrisanten Vorgang vernommen hatte, musste er unbedingt zum Opa.

„Ist das nun gut oder schlecht für uns?“ fragte der Enkel.

Opa kratzte sich sein stoppeliges Gesicht. „Ich glaube, für die DDRler ist das gut. Jetzt können sie reisen wohin sie wollen und hemmungslos dem Konsum frönen.“

„Jetzt können sie in Westdeutschlands Supermärkten alles einkaufen, was sie aus der Westwerbung kennen und zuhause ausprobieren“, meinte Al. „Dann haben die vielen Demonstrationen doch etwas gebracht.“

Opa lachte. „Das stand auf Messers Schneide. In Leipzig warteten in den Seitenstraßen schon hunderte Soldaten und Vopos, um loszuschlagen. Die waren aber von den Menschenmassen total überwältigt.“

Alwin war überzeugt: „Die haben sich ihren Freigang redlich verdient.“

„Vielleicht werden sie sogar in den Westen ziehen und dir den Arbeitsplatz streitig machen. Dann leben die Ostdeutschen bei uns auf der Straße und drüben stehen die Plattenbauten leer.“

„Das glaubst du jetzt aber selber nicht“, zweifelte der Enkel.

„Vermutlich passiert erstmal gar nichts. Veränderungen brauchen einfach ihre Zeit“, sprach der Alte aus Erfahrung.

„Ich denke, dass jetzt Ost mit West vereinigt wird und die Ostdeutschen auch die D-Mark bekommen.“

„Das wird nicht so schnell gehen, bis alles geregelt ist. Mit den Russen und Amerikanern und so, meine ich. Ich schätze, zehn Jahre wird es schon dauern“, spekulierte Opa.

„Es ist wohl auch besser, wenn die zwei Teile langsam zusammenwachsen“, mutmaßte Alwin.

„Ich bin tierisch gespannt, wie sich ein kommunistisches in ein kapitalistisches System integrieren lässt. Vielleicht bezahlen wir nächstes Jahr um die Zeit alle mit Rubel. Der Gorbatschow ermöglicht so vieles, dass man aus dem Wundern nicht mehr herauskommt.“

„Das wäre jetzt aber ein alter Bundeswehrwitz.“

Opa schaute verständnislos.

„Bei uns hieß es immer: Die Bundeswehr ist dazu da, den Feind solange mit Gesang und Spiel aufzuhalten, bis richtige Soldaten kommen. Und wenn die Bundeswehr das Wochenende verschläft, müssen wir vielleicht schon am Montag in der Kaserne mit Rubel bezahlen.“

Worüber die Soldaten gerne lachten, fand Opa nicht witzig. Er war ja in Russland gewesen.


Einmal pro Woche besuchte Opa einen ehemaligen Klassenkameraden, der kriegsversehrt war. Früher hatte Opa Robert seinen Sohn Rolf mitgenommen, später seinen Enkel Alwin. Der Mann, von jedermann Willi gerufen, war kriegsblind, aber trotzdem selbständig. Willi war Bürsten- und Besenmacher. Nach dem Krieg versorgte der Staat die hunderttausende Kriegsversehrten mit passenden Beschäftigungen, Blinde wurden in der Regel Telefonisten oder Bürsten- und Besenmacher. In seiner Kindheit hatte Alwin dem Mann gebannt auf die Finger geschaut, wie er die Haare mit Draht in die Holzteile einarbeitete, sich aber nie getraut, ihn anzusprechen. Alwin kannte auch Willis Sohn, der mit seiner Familie im selben Haus lebte. Von diesem ließ er sich vom Krieg und von Blinden erzählen. Der Sohn des Blinden kannte eine ganz andere Welt. Er sei mit Versehrten großgeworden, erklärte er. Jedes Jahr in den großen Ferien seien sie für vier Wochen in eines der Kriegsblindenkurheime gefahren, die es damals in ganz Deutschland gab. Dutzende Blinde kurten mit ihren Familien in Bad Wildbad, Bad Berleburg, Braunlage, auf Borkum oder sonst wo. Da konnte es vorkommen, dass ein Blinder ohne Ohren oder Nase mit am Tisch saß, manche hatten keine Hände. Zuhause ging es einmal die Woche zum Versehrten-Sport, wo die Blinden Klingelball spielten und für Turniere trainierten. Samstags ging es zum Versehrten-Schwimmen. Dann waren auch einige Frauen dabei, die wie die Männer ihre Bein- und Arm-Prothesen abschnallten und auf Rollbrettern zum Becken fuhren. Den meisten wurden die Extremitäten von Minen und Blindgängern abgerissen, manchen Männern waren in Russland beim Wachestehen die Füße abgefroren.

Diesem blinden Willi war Opa sehr verbunden, niemanden besuchte er so regelmäßig wie diesen Bürstenmacher. Dabei redeten sie kaum über Krieg und alte Zeiten, immer nur über aktuelle Politik, weshalb die Besuche für Alwin als Kind sehr langweilig waren. Und sie diskutierten über Neuerungen, Kassettenrecorder zum Beispiel, stritten sich darüber, ob sich diese Technik durchsetzen würde. Oder über Bildplatten, die schon kurz nach ihrer Einführung wieder vom Markt verschwanden. Oft kamen die neusten Automodelle zur Sprache oder die neuste Mode. Opa erklärte Willi auch, wie sich die Stadt veränderte, was wo abgerissen und was neu gebaut wurde. Berichtete ihm von seiner Suche nach historischem Gemäuer, was er in Archiven entdeckte und was er vermutete. Nach dem Mauerfall saßen die Beiden besonders häufig zusammen, Willis verstorbene Frau stammte aus dem Osten. Was viele Deutsche freudig begrüßten, verursachte im Blinden eine düstere Stimmung. Er fühlte sich von der kommunistisch verdorbenen ostdeutschen Bevölkerung bedroht. Die Stasi wird den Westen unterwandern und sabotieren, prophezeite er. Opa meinte unsensibel, als Blinder sähe er zu schwarz.


Zu Alwins Gärtnerei gehörte auch ein Blumengeschäft, mit dem die Gärtner berufsbedingt nur sporadisch zu tun hatten. Der Laden war die Domäne der Chefin und ihrer Floristinnen. Die Blumen, die dort verkauft wurden, brachte ein LKW. Sie stammten in der Regel aus den Niederlanden, Afrika oder Südamerika, nur weniges kam aus der eigenen Zucht. Vor lauter Vasen, Kübeln, Blumenampeln, Blechfiguren und anderem Firlefanz, fand man die Pflanzen nicht. Die Floristinnen, alle mit dicken Hintern und Schenkeln, fühlten sich als Krimskrams-Verkäuferinnen. Wenn Alwin, selten genug, etwas in den Laden bringen musste, zum Beispiel Blumenerde, sah er sich erst gar nicht nach ihnen um.

Es ging auf den Advent zu, das Geschäft brauchte Unmengen Tannreisig, Schlinggewächse wie Efeu und Füllmaterial für Kränze und Sträuße. Al musste die Gärtnereigrundstücke durchforsten und seine Ernte im Laden abliefern. Er kam herein, grüßte freundlich seine Chefin, die ebenso freundlich zurück grüßte, stellte die erste Kiste auf eine Arbeitsplatte, ging wieder hinaus, holte die nächste. Mit der zweiten Kiste in Händen blieb er wie angewurzelt vor der Platte stehen. Aus der ersten bediente sich ein fremdes Mädchen. Ihr grüner Schurz wies sie als Angestellte aus. Das Mädchen schaute auf und nickte ihm mit einem süßen Lächeln zu. Ihr Wesen passte nicht in diesen Laden, sie war total schmal, Kopf, Oberkörper, Hüfte und Schenkel. Sie wirkte wie eine filigrane Elfe aus einem Fantasiegemälde. Alwin war verlegen, was ihm bei Mädchen sonst nie passierte, nickte ihr zu und stellte die zweite neben die erste Kiste, um noch eine dritte zu holen. Beim Abstellen schaute er dem Mädchen ins Gesicht, fand darin nichts was ihn störte, schätze sie auf über Eins siebzig. Sie lächelte wieder, zupfte mit flinken Fingern im Gestrüpp, zog mit langen dünnen Armen an den Schlingpflanzen. Er wollte sich gerade vorstellen und dann nach ihrem Namen fragen, als es aus dem Nebenraum rief: „Trixi, könntest du mir Efeu bringen.“ Die Chefin schaute mit ernster Miene herein, starrte aber Alwin an.

Er verließ den Laden und konnte sich den Rest des Tages nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren. Ganz gefangen von dieser märchenhaften Erscheinung wusste er zuerst nicht, was er von dieser Begegnung halten sollte. Diese Trixi war freundlich und dünn wie ein Rebstecken, soviel stand fest. Die Pflanzen durchsuchte sie mit schneller Hand, ohne hektisch zu wirken. Welche Augenfarbe hatte sie? Die zu einem Pferdeschwanz gefassten dunkelblonden Haare hingen ihr bis ins Kreuz. War sie schön? Auf jeden Fall hatte sie etwas, das ihn faszinierte, was sich bei der nächsten Betrachtung aber schon in Luft auflösen konnte. War sie überhaupt schon achtzehn? Er musste ihr unbedingt nochmal begegnen und das klären.

Alwin stand völlig neben sich, wusste nicht, wie er es anfangen sollte. Sollte er in den Laden gehen und sie ansprechen? Oder nach Feierabend abpassen? Vielleicht war es besser, damit die Chefin nichts mitbekam, ihre Adresse ausfindig zu machen und dort auf sie zu warten? Es war ihm völlig fremd, dass er vor so einer jungen Person Scheu empfand. Diese Trixi passte überhaupt nicht zu den anderen Floristinnen, eigentlich zu keinem der vielen Mädchen die er kannte, sie war ein gänzlich unbekanntes Wesen. Ich werde es ganz vorsichtig angehen, schwor er sich.

Die Landschaftsgärtner machten um fünf Feierabend, der Laden schloss erst um sechs Uhr dreißig. Schon am nächsten Abend lauerte er im Dunkeln, frisch geduscht und gestärkt, in sicherer Entfernung auf Trixi. Die vier Floristinnen verließen den Laden, die drei Schweren stiegen in ihre Autos, die Dünne schwang sich auf ein Rennrad und schoss davon. Alwin rannte zu seiner Maschine, setzte sich den Helm auf den Kopf ohne ihn festzuzurren, nestelte den Schlüssel aus der Hosentasche und versuchte, in den Verkehr zu finden. Trixi war verschwunden, sie fuhr ohne Licht. Mit einem Fahrrad kam man innerorts oft schneller vorwärts als mit einem Auto und wenn man bei Rot über die Ampel fuhr, auch schneller als ein Motorrad. Er suchte noch ein paar Straßen ab, dann gab er auf. Jetzt wusste er aber, welche Straße sie nahm. Am folgenden Abend war er kecker und wartete mit der Kawa am Straßenrand. Er stellte die Maschine auf den Hauptständer, setzte sich drauf und schaukelte etwas vor und zurück. Mit dem Motorrad unterm Hintern, so dachte er, machte er mehr Eindruck.

Der Feierabend kam und Trixi sauste mit einem außerirdischen wissenden Lächeln an ihm vorbei. Alwin konnte nicht anders und erwiderte es automatisch mit einem Grinsen, kam sich aber vor wie ein Grünschnabel. Er schaute ihr nach, setzte sich den Helm auf und sah sie gerade noch bei Rot über die nächste Ampel enteilen. So wird das nichts, schimpfte er sich. Morgen bleibe ich startbereit und verfolge sie dann. Mal sehen, wo die Göre wohnt. Gesagt getan, ein Tag später wartete er, verdeckt durch einen parkenden PKW, am Straßenrand und hatte die Hand am Zündschlüssel. Auf ihrem Rennrad raste sie mit wehenden Haaren und mit mindestens dreißig km/h an ihm vorbei. Alwin musste noch zwei andere Fahrradfahrer vorbeilassen und nahm die Verfolgung auf. Trixi fuhr in die Altstadt, Alwin dicht hinter ihr her. Beim Pfarrhaus, dort wo Opa die alte Kirche vermutete, bog sie ab ins Zentrum, danach in eine Gasse, die für Fahrzeuge gesperrt war. Alwin hielt an und schaute ihr nach, sollte er verbotenerweise? Er gab Gummi und fuhr außen herum, war aber zu spät. Wieder hatte er sie verloren. Was mache ich eigentlich? Er kam sich unendlich blöd vor. Auf dem Weg zu Opas Haus, er brauchte frische Wäsche, suchte er noch halbherzig die Gassen ab.

Schon von weitem sah er vor dem Haus gegenüber eine langhaarige Person mit Fahrrad stehen, die auch ein dünner Jüngling sein konnte. Doch es war die Floristin. Alwin ließ die Maschine ausrollen, bis zu ihr. Langsam stieg er ab und nahm auch langsam den Helm vom Kopf. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, der Ernst stand ihr gut, ihr Gesicht verriet Offenheit und Eigensinn. Sie schaute fordernd, er schaute verlegen.

„Hallo Kollegin“, sagte er endlich. „Bist du zufällig hier?“

Sie sprach mit einem hellen, dünnen Stimmchen, das voll zu ihrer schmalen Statur passte, aber Selbstbewusstsein verriet. „Ich habe mich erkundigt, wo der Kerl wohnt, der mich beobachtet.“

Alwin war nahe daran einen Witz zu machen, fand das Risiko, es sich mit ihr zu verscherzen, aber zu groß. „Hier wohnt mein Opa. Manchmal auch ich. Die meiste Zeit lebe ich in einer Hütte. Heute hole ich nur frische Klamotten, die ich letzte Woche gewaschen habe.“

„Dann habe ich ja richtig Glück, dich hier anzutreffen.“

Beide blieben ernst, es wurde kein Grinsen und kein Lächeln gezeigt. Jetzt müsste ich eigentlich Gastgeber spielen, kam ihm die rettende Idee.

„Darf ich dich zu einem Kaffee einladen?“ Sie nickte. Alwin öffnete das Schopf-Tor, schob die Kawa hinein und auch ihr Rad. Vom Schopf aus gelangte man in den Hausflur. „Opa“, rief er. Sie waren allein. So zeigte er ihr zuerst die Wohnung. Sie betrachtete alles mit interessiertem Blick, die Schlafzimmer zeigte er nicht. Sie gingen in die Küche. Beim Kaffeemachen verlor Alwin etwas von seiner ungewohnten Sprechblockade.

„Bist du schon lange in unserem Betrieb?“

„Seit den großen Ferien. Ich habe bei der Konkurrenz gelernt“, sagte sie der Kaffeemaschine.

„Dann bist schon achtzehn“, stellte er fest.

„Sogar schon neunzehn“, betonte Trixi wichtig. „Bis zum sechzehnten Lebensjahr besuchte ich ein Gymnasium.“

Er stellte Tassen auf den Tisch, holte Zucker und Milch, schenkte ein. Verwundert meinte er: „Und dann lernst du so etwas wie Floristin? Mit zehn Schuljahren“ (er vermied den Ausdruck Mittlere Reife, weil Elli ihn immer stark betonte) „hättest du schönere und anspruchsvollere Berufe lernen können. Vor allem welche, die besser bezahlt werden.“

Sie schlürfte an der Tasse. „Mann, ist der stark.“

Alwin schob die Milch hinüber.

Nach dem Milchzuschuss schlürfte sie wieder und sah ihm fest in die Augen. „Jeden Job, egal wie schlecht er auch bezahlt wird, muss man gewissenhaft ausüben. Wo bleibt denn sonst die Selbstachtung.“

Ihre langen Wimpern beschatteten die grünblauen Augen. Sie redete mit einem energischen Gesichtsausdruck. Dabei fiel Alwin auf, dass ihr schmales Gesicht überhaupt nicht knochig war, keine Jochbeine die hervortraten, keine harten Linien, alles war weich gezeichnet und angenehm zu betrachten.

„Meine Eltern sind Lehrer“, fuhr sie fort. „Da muss das Kind zur Ehre der Familie in der Schule Leistung bringen. Sie haben mich zu sehr getriezt.“ Sie wirkte gelassen und schlürfte wieder Kaffee. „In irgendeinem Jugendbuch las ich, dass man nicht machen muss, was Eltern und Lehrer fordern. Sechs Wochen lang dachte ich nach, dann wusste ich Bescheid. Ich muss kein Abitur machen, um Eltern und Lehrern zu gefallen, ich muss keinen Beruf ergreifen, der Ansehen bringt. Ich muss weder Kariere machen noch sonst irgendwas, was die Gesellschaft angeblich fordert. Wenn es mich mit Freude erfüllt, kann ich als Obdachlose leben. Was ich nie machen würde, ein wenig Sicherheit muss sein. Aber ich muss auch nicht heiraten und Kinder gebären, ich muss überhaupt nicht das machen was alle machen, ich muss nicht einmal den Führerschein machen, wenn ich keine Lust dazu habe.“

Sie sagte das so dahin, als würde sie Erbsen zählen. Beide schwiegen, dann meinte Alwin: „Du hast eine ganz besondere Art. Versteh mich nicht falsch, eine sympathische Art. Wenn man dir zuhört könnte man meinen, dass du über den Dingen schwebst, als wären die Maßstäbe der Gesellschaft für dich nichtig.“

„Du kannst dich gut ausdrücken, das könnte von meinem Vater sein. So was nennt sich Gärtner.“

Beide dachten nach, irgendwann musste sie raus, die große Frage, beide trauten sich nicht.

„Wie hast du es geschafft deine Lehrereltern zu überzeugen?“

Ein feines, kaum erkennbares Lächeln, erhellte ihr Gesicht. „Ich fand Blumen schon immer schön und Blumen sind lebendig und spenden Trost. Zufällig kannte ich den Beruf Floristin, weil mich Papa manchmal zum Blumenkauf mitnahm. Ich besorgte mir einen Ausbildungsvertrag und legte ihn meinen Eltern zur Unterschrift vor. Die fielen aus allen Wolken, wurde doch ihr Traum einer erfolgreichen Tochter zerstört. Je länger sie mich beschwatzten, desto sturer und schweigsamer wurde ich. Ich war nie ein lautes Kind, aber bei einem besonders nervigen Mittagessen habe ich gebrüllt was ich konnte. „Entweder unterschreibt ihr mir den Ausbildungsvertrag, oder ich bin am ersten Schultag über alle Berge.“ Am ersten September konnte ich anfangen.“

„Du hast dich tatsächlich durchgesetzt“, sagte Alwin bewundernd.

„Ich muss hinzufügen, dass ich ohne Ehrgeiz geboren wurde. Wenn man die Maßstäbe tiefer hängt, wird das Leben einfacher und erträglicher. Das Triezen lag hinter mir, der Druck war weg, ich konnte befreit ein leichtes Leben beginnen.“

Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihre Weisheiten irgendeinem Buch entnommen hatte, die schlauen Sprüche wollten nicht so recht zu dem zarten Persönchen passen. Die Frage die Beide beschäftigte, war immer noch nicht gestellt.

„Das war für deine Eltern bestimmt ein vernichtender Schlag, wenn sie dich schon für hochtrabende Ziele verplant hatten. Wohnst du noch zuhause?“

„Sobald ich eine billige Bude gefunden habe, bin ich dort weg.“ Dann stellte sie die Frage, die in der Luft lag. „Kommt deine Freundin noch vorbei? Vorher möchte ich lieber gehen.“

Alwins Verstand ratterte, jetzt bloß nichts Falsches sagen. „Ich hab keine, ich bin solo.“ Und er wagte ein „Und du?“

Sie schaute auf eine witzige Art zur Decke. „Auch. Dann könnte ich dich, ohne Gefahr zu laufen, dass mir jemand die Augen auskratzt, um eine Motorradtour bitten?“.

„Das ist Anfang Dezember eine frische Angelegenheit“, gab er zu bedenken.

„Nur einen Kurztrip zur Ruine hoch. Ich will das Fahrgefühl kennenlernen.“

„Wann hättest du Zeit?“

„Du kannst mich Samstag nach Ladenschluss abholen, einen Helm bringe ich mit.“ Sie grinste und sah dabei aus wie ein kleiner Schelm. Wie ein sehr sympathischer Schelm.


Im Winter war für die Gärtner keine Samstagarbeit angesagt. Alwin wartete in einiger Entfernung zum Geschäft, die Chefin musste nicht wissen, was sich unter den Angestellten tat, behielt die Ladentür im Auge, um rechtzeitig winken zu können. Kurz nach eins kam Trixi angerannt, in dicker Bomberjacke und dünnen Jeans, mit einem Schalenhelm, der vermutlich ihrem Vater gehörte und aus den fünfziger Jahren stammte. Alwin gab ihr eine kurze Einweisung und zeigte, wo sie Füße und Hände unterbringen sollte. Er fuhr gemütlich, zur Ruine hinauf betonte er die Kurven. Der Streckenkürze zum Trotz waren sie bei der Ankunft schon durchgefroren. Der Himmel war bewölkt, es sah nach Regen aus, die Temperaturen bewegten sich, je nach Höhe, zwischen drei und sechs Grad. Sie wanderten zum höchsten Punkt, um warm zu werden, was die Kälte aber nicht aus den Knochen trieb.

„Jetzt würde ich doch gerne einmal diese Hütte sehen, in der du angeblich wohnst“, meinte sie beim Blick über das Tal und die Rebterrassen.

„Da hätte ich wohl vorheizen sollen. Dort ist es jetzt kalt.“

„Ich will nur feststellen, ob du mir Märchen erzählst.“ Ihre zarte Stimme war so gelagert, dass sie keinen Wiederspruch zuließ.

Sie eilten nach unten, es verdunkelte sich bedrohlich. Er fuhr nun etwas rasanter, aber dennoch zu langsam. Als er die Rebberge hochschoss überschüttete sie ein kräftiger Guss, sofort waren die Jeans durchnässt, das Wasser sickerte über die Krägen ins Innere der Jacken. Alwin preschte zur Hütte hoch und bei der Fahrt um das Hühnergehege herum hätte es sie fast noch hingeschmiert. Sie stiegen ab, er stellte die Kawa unter den Kirschlorbeerbaum und suchte den Schlüssel. Drinnen meint er zu ihr: „Mach es dir bequem, ich hol draußen Holz.“

Enkel und Opa hatten zusammengelegt und einen modernen Kaminofen mit Fenster gekauft. Sofort stopfte Al Papier und Spänne in den Ofen, entzündete beides, legte kleine Scheite nach und große obendrauf. Erwartungsvoll setzten sich die Beiden vor die Scheibe. Trixi zitterte, an ihr war nichts, was sie warmhalten würde. Alwin holte eine Decke und legte sie ihr über die Schulter. Als Trixi nach oben sah, entdeckte sie eine Stange, über der ein Handtuch hing. Sie warf die Decke ab, zog Jacke und Stiefel aus und schlüpfte aus der nassen Jeans. Dann schälte sie sich auch noch aus dem Pullover, holte von oben das Handtuch, trocknete sich ab, hängte ihre nassen Sachen über die Stange und Alwin fielen fast die Augen heraus.

Trixi war zwar schmal, aber nicht flach. Was ein Mann an einer Frau mochte, war an ihr deutlich ausgebildet. Alwins Augen glitten über die langen Linien ihrer Arme und Beine, ihm gefiel außerordentlich gut was er sah. Er setzte sich so, dass sie seinen Ständer nicht sehen konnte, von seiner Absicht, auch seine Jeans über dem Ofen zu trockneten, nahm er Abstand. Als Trixi wieder unter der Decke verschwunden war, starrte er nur noch in die Flammen.

„Gibt es noch eine zweite Decke?“ piepste sie.

Er holte eine. „Das tut mir echt leid, das mit dem Regenguss. Dass deine erste Motorradtour so enden muss.“

„Aber jetzt kenne ich deine Hütte, du hast mich nicht angeschwindelt. Es ist schön hier, ich fühle mich wie im Urlaub. Ein Tee wäre nicht schlecht.“

Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Tschuldigung, man, was bin ich für ein Stoffel, da hätte ich als Gastgeber selber draufkommen müssen.“

Trixi lachte. „Grün-, Kamillen- oder Pfefferminztee, wenn du hast“, rief sie mit ihrem hellen Stimmchen in die Küche. Opa hatte Kamille, Beutel, fünf bis sieben Minuten ziehen lassen. Al machte zwei Tassen.

„Und du wohnst tatsächlich in dieser Hütte?“

„Meistens. Nach Feierabend gehe ich einkaufen, bereite mir ein üppiges Abendessen und danach setzte ich mich mit einer Flasche Bier vor die Reben und genieße den Sonnenuntergang.“

„Wie romantisch“, meinte sie nicht ganz ernst. „Und wenn es regnet?“

„Dann esse ich hier drin und lese anschließend.“

„Und alles ohne Freundin. Kaum zu glauben, wenn man dich so anschaut.“

„Einer Freundin müsste ich ein Badezimmer bieten.“

Die Glut verbreitete nun Hitze, sie rutschten vom Ofen weg, Trixi warf die obere Decke ab. Dabei sah er kurz ihre Gazellen-Beine. „Treibst du Sport, du bist so ungewohnt fettfrei“, umschrieb er ihre schlanke Figur.

„Ich bin im Leichtathletikverein. In der A-Jugend war ich Kreismeisterin im Fünftausendmeterlauf. Dass ich so dünn bin ist erblich, meine Mutter ist genauso dünn und ihre Mutter war es auch.“

Alwin drohten vom Schneidersitz die Beine einzuschlafen, sie wechselten aufs Sofa. Sie setzte sich wieder wie ein Indianer, die Decke fest um sich gewickelt, er streckte seine Beine aus und legte sie mit nassen Socken auf einen Stuhl. Sie unterhielten sich eine Zeit lang über Leichtathletik und Sportvereine. Alwin fühlte sich bemüht, von seinem Karateverein und schwarzen Gürtel zu erzählen. Das würde sie auch interessieren, ob er ihr ein paar Katas zeigen könnte. In der Hütte sei es zu eng, meinte er, aber gerne ein andermal. Dann musste er sie doch fragen: „Weshalb hat ein so hübsches Mädchen wie du kein Freund?“

Sie verformte ihr Gesicht zu einer Grimasse, die Nachdenken ausdrücken sollte. „Vielleicht, weil mir Jungs seltsam vorkommen? Vielleicht, weil ich kontaktscheu bin? Ganz bestimmt, weil mir der Richtige noch nicht begegnet ist.“

Er kam ins Grübeln. Stimmte mit ihr etwas nicht, war sie vielleicht beziehungsunfähig? Alwin schwebte das Wort Autist im Kopf herum, konnte den Begriff aber gerade nicht erklären. Trixi umgab eine mentale Aura, die andere automatisch auf Distanz hielt. Hier sie, dort die anderen, dazwischen ein unsichtbarer spiritueller Graben, der zwei Welten trennte. Sollte sie deshalb so unnahbar erscheinen, weil sie mit anderen Menschen keine Gemeinsamkeiten sah? Sie saß dicht vor ihm, es müsste möglich sein, jegliche atmosphärische Blase zu durchdringen.

Er wollte sie fragen, ob er sie küssen darf, erzählte stattdessen von seinem Opa, dessen Reben und historischen Forschungen. Während die Klamotten trockneten, Trixis auf der Stange, Alwins am Leib, wurde es draußen dunkel. Trixi wollte heim. Bevor sie sich wieder in die Kälte hinauswagten, machten sie noch einen Treffpunkt für einen Kinobesuch aus, Trixi war eine Filmnärrin.

„Es läuft noch Crocodile Dundee II, den würde ich gerne nochmals anschauen“, schlug Alwin vor.

„Der ist ganz amüsant, es kommt aber auch noch Rain Man, der hat viele Oskars bekommen, den müssen wir sehen.“ Letztlich war es ihm egal.

Nach dem Kinobesuch wusste er über Autisten Bescheid. Trixi war da von ganz anderem Kaliber. Ohne zu fragen, legte er nach dem Kino den Arm um sie, sie ließ es geschehen. Begeistert unterhielten sie sich über den Film und schlenderten durch die Innenstadt an den Geschäften entlang, ohne in ein Schaufenster zu schauen. Mit einem Ruck löste sie sich von ihm. „Ich muss jetzt heim.“

Alwin kam das zu plötzlich. „Ich würde dich sehr gerne wiedersehen“, hauchte er ihr entgegen.

„Ich dich auch“, hauchte es zurück.

„Es kommt ja auch noch Ein Fisch namens Wanda, da können wir lachen.“


Jedes Treffen mit Trixi kostete ihn mehr Beherrschung, er wollte mehr von ihr, als nur dicke Kleidung berühren und ihre verhaltene Stimme hören. Die Überlegungen, wie er sie aus ihrer Kleidung bringt und ihre Haut sich wohl anfühlt, brachten ihn mehrmals um den Schlaf.

Auch ein junger Mann hat einmal eine gute Idee. Alwin lud Trixi auf Samstag zu seinem Opa ein, auf den sie neugierig war, mit dem Plan, zusammen zu kochen. Vorher kauften sie im Edeka, weil es dort eine Frischetheke gab, richtig teuer ein, viele Meeresfrüchte und einen guten Weißwein.

Trixi begrüßte Opa und nannte ihn den bekanntesten Historiker der Stadt. Da gäbe es ja wohl nicht viele, schmunzelte der Alte. Er half beim Kochen, denn er konnte Meeresfrüchte und Fisch zubereiten, derweil wurde ununterbrochen geredet und erzählt, Opa verstand sich mit Trixi. Oder war es umgekehrt? Später kam auch noch Liselotte und es stellte sich heraus, dass sie Beatrix, so Trixis Name, Eltern kannte. Das Mädchen beschrieb mit einfachen Worten, welchen Druck die Eltern auf sie ausgeübt hatten. Dann erzählte Lilo witzige Anekdoten aus dem Schulalltag, Opa öffnete eine zweite Weinflasche und alle vier wurden bester Laune.

Plötzlich war es ein Uhr. Opa entkorkte die dritte Flasche, Trixi weigerte sich aber, noch mehr Alkohol zu trinken. Als Opa seinem Enkel nachschenken wollte, sagte Trixi mit fester Stimme: „Er trinkt auch nichts mehr“. Man hätte auch mit schneidender Stimme sagen können. „Er muss mich noch nach Hause fahren“. Alwin war total enttäuscht, er bekam sie wieder nicht ins Bett. Er hatte extra ein Viertele mehr getrunken, um sie nicht mehr fahren zu müssen. „Tschuldigung, hab zu viel, darfst bei mir schlafen“, hätte er sich herausgeredet. Was Trixi wohl durchschaut hatte.

Um zwei verabschiedeten sich Lilo und Opa ins Bett. „Na, dann wollen wir mal“, sagte Alwin, und meinte die Heimfahrt.

„Aber benimm dich, sonst schrei ich“, meinte Trixi.

Alwin ging zur Garderobe, zog die Lederjacke an und reichte Trixi ihre Jacke. Verschmitzt zeigte sie auf Alwins Zimmertür. „Ich will wissen wie es ist, wenn man mit einem Kerl im Bett liegt“, flüsterte sie. „Nackt. Und mit einem betrunkenen Mann will ich nicht.“

Er öffnete sein Zimmer, zeigte auf sein Bett und meinte, „ich geh noch schnell Zähneputzen“, ging ins Bad und machte sich frisch. Zurück im Zimmer fielen ihm Trixis Kleider auf, die übereinander vor dem Bett lagen. Von ihr sah er nur Haare und Augen. Er zog sich aus, schob sich unter die Decke, bis er an der Hüfte ihre nackte Haut spürte. Sie sah ihn mit einem verkniffenen Lächeln an. Al drehte sich zu ihr hin und wollte mit einer Hand ihren Körper berühren. Die Hand wurde von ihrer abgefangen. Sie legte seine auf ihren Bauch, für lange Sekunden, führte sie dann zu ihrem Schamhaar, aber gleich darauf wieder nach oben, legte sie auf eine Brust. Dann wurde geküsst und gefummelt.

Mehr als Zärtlichkeiten gab es nicht. Die ganze Nacht hindurch hielt sie ihre Beine geschlossen, fasste ihn nicht zwischen den Beinen an. Alwin durfte immerhin ihren Po streicheln.

Am nächsten Morgen war die Situation eine ganz andere. Er erwachte, weil Hände durch seine, nun wieder schulterlangen, braunen und lockigen Haare strichen. „Hallo schöne Frau“, begrüßte er sie, begann sie zu küssen, küsste sich nach unten, liebkoste ihre Brüste, seine Lippen wanderten noch tiefer. Er legte sich auf sie und – sie öffnete ihre Beine. Den Rest konnte Alwin automatisch. Hinterher sagte sie verliebt: „Jetzt wirst du mich nie mehr los.“


Alwins Suche nach Erfüllung

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