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Der Aufstand des Bayernherzogs Tassilo

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König Karl empfing Boten, gab Audienzen, führte Einzelgespräche, sandte Schreiben an ganz unterschiedliche Verantwortungsträger, veranstaltete abends seine geliebten Symposien oder scherzte mit seinen Töchtern.

Immer häufiger frönte er in den häufig angenehmen Frühlingstagen seiner Jagdleidenschaft.

Im Monat Mai anno 788 überschlugen sich dann die Ereignisse. Aus Bayern erging sich Herzog Tassilo, der Vetter des Königs, in despektierlichen Reden gegen König Karl. Angeblich von seiner unversöhnlichen langobardischen Gattin Luitberga aufgestachelt, suchte Tassilo verzweifelt den Rückhalt, den sein verstorbener beneventianischer Schwager Herzog Arichis von den Byzantinern hatte, in einem Bündnis mit seinen östlichen Nachbarn, den heidnischen Awaren im mittleren Donauraum gegen den Frankenkönig zu gewinnen. Es wurde ihm von den Franken sogar vorgeworfen, er habe auf Drängen seiner Gemahlin Luitberga mit der oströmischen Kaiserin Irene korrespondiert und ihr ein Bündnis Bayern-Konstantinopel-Awaren vorgeschlagen, um damit die italienischen Truppen des fränkischen Königs zu binden. Die Vorwürfe gegen den Herzog bestätigten sich sehr schnell, als dem König gemeldet wurde, dass sich jenseits der Enns awarische Reitertruppen zu einem Entlastungsangriff gegen den fränkischen König und zugunsten Tassilos formiert hätten.

„Ich hab’s geahnt“, sagte der König voller Zorn zu seinen umstehenden Beratern und schlug sich mit der geballten Rechten wieder und wieder in die linke offene Handfläche. „Hinter den Absichten meines meineidigen Vetters Tassilo steckt ein Plan, alles ist Absicht, alles ist Intrige“, konnte sich Karl nur schwer beruhigen. „Ich verstehe diesen Mann nicht“, sagte Karl kopfschüttelnd zu Angilbert und Theodulf, die gerade neben ihm standen.

„Er muss doch wissen, dass er keine Unterstützung mehr findet, weder bei den bayerischen Edlen noch bei den Kirchenfürsten Bayerns oder beim Papst“, bestätigte Theodulf des Königs Einschätzung.

„Was macht er denn? Rüstet er gegen uns?“, fragte der König.

„Nein, er verteilt Gold und Silber an seine Klöster, schenkt Ländereien an die Kirche und lässt im ganzen Herzogtum Messen für sich lesen“, antwortete Angilbert, der die Meldungen aus Bayern gesammelt und koordiniert hatte.

„Mein Vetter hat Angst“, sagte König Karl. „Aber Tassilos Stolz ist stärker als sein Verstand. Und sein ehrgeiziges Weib Luitberga wird zu seinem dümmlichen Verhalten sicherlich auch ihren Beitrag geleistet haben. Aber nun gut, dann soll er sehen, wohin ihn seine Unvernunft führt!“

Karl reagierte umgehend und befahl seinem Heerführer Theoderich mit fünf Hundertschaften seiner fränkischen Scaras und mit weiteren alemannischen, ostfränkischen und thüringischen Reiterkontingenten dieser Herausforderung zu begegnen und Flagge zu zeigen. Theoderich wurde angewiesen, Kampfhandlungen nur auf fränkischem Hoheitsgebiet anzunehmen. Dann wurde durch Boten Markgraf Erich von Friaul und auch Graf Adalhard am Hof von Karls Sohn Pippin in Padua Kenntnis über die eingetretenen Ereignisse gegeben. Beide erhielten den Befehl, ein Reiterkontingent von jeweils fünfhundert Scaras in Alarmbereitschaft zu versetzen, um gegebenenfalls die Truppen des Theoderich rasch unterstützen zu können.

Die entsprechenden Dekrete zur Einberufung der Kontingente hatte Karl unterzeichnet und am gleichen Tag durch Boten auf den Weg bringen lassen. Herzog Tassilo konnte sich offensichtlich nicht damit abfinden, dass der fränkische König im Vorjahr mit drei Heeressäulen gegen ihn gezogen war und ihn in demütigender Weise auf dem Lechfeld zu Augsburg einen Vasalleneid hatte leisten lassen. Auch die Stellung von dreizehn Geiseln, darunter sein ältester Sohn und designierter Nachfolger Theodor, hatte Tassilo sehr gedemütigt und zeugte nunmehr von seinem geminderten Rang. Selbst Papst Hadrian hatte Tassilos Autonomiebemühungen durchkreuzt, eine Reihe der hohen bayerischen Geistlichkeit und auch des bayerischen Adels hatten daraufhin oft sehr opportunistisch, nur ihren eigenen Vorteil bedenkend, die Seiten zu König Karl gewechselt. Die Schmähreden und treulosen Machenschaften Tassilos und seines Eheweibs Luitberga gegenüber König Karl konnten somit nicht verborgen bleiben und drangen vielmehr ungeschminkt von der Residenz des bayerischen Herzogs Tassilo in Regensburg zur Pfalz des Frankenkönigs in Ingelheim. Damit dieser bayerische Rebell endlich seine Versuche aufgebe, sich aus dem fränkischen Staatsverband zu lösen, musste König Karl vor aller Öffentlichkeit ein Exempel seiner Macht demonstrieren. Es fiel Karl daher nicht schwer, Tassilo im Juni 788 nach Ingelheim zu zitieren, dort seinen Anklägern, den nach Aussagen der Reichsannalen getreuen Bayern, gegenüberzustellen.

Das Drama um den Bayernherzog und seine Familie nahm seinen Lauf. Herzog Tassilo erschien nicht als demütiger Sünder in Ingelheim oder als unbotmäßiger Vasall, der beim fränkischen König Abbitte zu leisten hatte, sondern traf mit großem Gefolge als ein unabhängiger Reichsfürst ein, der dem Ruf des Königs folgt. Er wusste wohl, dass dies sein letzter Auftritt war und so entfaltete er nochmals allen Glanz. Hoch zu Ross, umgeben von Hofbeamten, einigen Grafen und Bischöfen, strebte Herzog Tassilo auf das Westtor und den Innenhof der Pfalz zu. Auf seinem Kopf funkelte die Lilienkrone, in seinem linken Arm ruhte das Zepter, seine rechte Hand umfasste den Knauf des edelsteinbesetzten Prunkschwertes. Sein stolzes Gesicht zeigte keine Spur von Angst und Unsicherheit, selbst dann nicht, als seinen Begleitern der Zugang zum Innenhof verwehrt und seinem gesamten Tross bedeutet wurde, vor der Pfalz zu lagern. Wer als Betrachter dieses Vorgangs nicht erkannte, dass hier ein Gedemütigter und Gestürzter sich in die Hände seiner Richter begab, konnte meinen, Herzog Tassilo nehme in allen Ehren an einer Reichsversammlung des Königs teil.

Der fränkische König schritt jetzt mit Erzkaplan Angilram, Karls Berater Theodulf, Alkuin, Bischof Arno von Salzburg und Kanzler Richbot die Holztreppe hinunter, die von der Königshalle zum Innenhof führte. Als der König mit seinen Beratern im Innenhof angelangt war, reichte Tassilo sein Zepter an Arno von Salzburg, stieg sehr behände vom Pferd und umarmte den König. Der König ließ die Umarmung seines Vetters ohne jegliche Gefühlsregung zu und führte ihn ohne ein Wort zu verlieren zu Graf Meginfred, der nach dem Tod von Haimo als neuer Pfalzgraf bestellt war. Meginfred bat ihn um sein Schwert und teilte dem Herzog mit, er sei festgenommen, bis das Gericht über seine Verbrechen entschieden habe. Die umstehenden Zuschauer wunderten sich, dass Tassilo sich durch diese Vorkommnisse nicht überrascht zeigte und keine Anstalten machte, sich gegen diese unehrenhafte Entwaffnung und anschließende Einkerkerung zu sträuben.

Um Tassilo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wurde auch seine Ehefrau Luitberga als Drahtzieherin und Feindin des Frankenreichs mitangeklagt. Karl schickte eine Gesandtschaft nach Regensburg, um die Herzogin Luitberga mit ihrem Sohn Theotbert sowie den Töchtern Hroddrud und Cotani nach Ingelheim zu holen. Theodo, der designierte Thronfolger und älteste Sohn Tassilos lebte ohnehin seit letztem Jahr als Geisel des Königs im Kloster St. Goar am Rhein.

Nach einigen Tagen der Vorbereitung trat eines Morgens, eine Stunde nach Sonnenaufgang, im Innenhof der Pfalz unter Vorsitz Erzkaplans Angilram das Gericht aus weiteren zwölf Großen des Reichs zusammen, um über die Schuld Tassilos zu befinden. Im Innenhof, vor der Pfalzkapelle, waren Stühle für König Karl, die Richter, für Ankläger und Verteidiger des Angeklagten aufgestellt.

Eine große Schar von Zuschauern hatte sich im Hof auf Bänken oder auch auf Holzpodesten stehend eingefunden, die Menschen unterhielten sich flüsternd, doch sie verstummten sofort, als die Fanfarenbläser das Erscheinen des Königs ankündigten. Karl trat aus der Pfalzkapelle in den Innenhof, gefolgt von seinen Beratern, den Grafen, Bischöfen und Äbten aus Bayern, aus Lombardien, Sachsen und aus dem Frankenland. Der König nahm auf einem Feldstuhl Platz. Er trug seine gewohnte Kleidung: Wams, geschnürte Hose, einfache derbe Stiefel und wegen der morgendlichen Frische einen kurzen offenen Pelzmantel als Schulterumhang, der durch eine goldene Spange zusammengehalten wurde. An der Hüfte am Waffengurt hing ihm ein drei Fuß langes Schwert, dessen Griff und Gehenk von Gold und Silber waren. Lediglich ein schmaler Goldreif, ein aus Gold und Edelsteinen verfertigtes Diadem auf dem zum Teil schon ergrauten Haar wies auf seinen königlichen Rang hin. Seine gewohnte heitere und freundliche Miene war an diesem Morgen einem düsteren Ernst gewichen. Die großen, klugen Augen blickten hart und fremd über die Versammlung hin.

Schweigend wanderte sein Blick von Mann zu Mann dieses Gerichts, als sollte jeder wissen, was er von jedem erwartete und dass er keinen der hier Anwesenden übersah.

Nach einer Weile der Unruhe, als die hohen Herren Platz genommen hatten, wurde der angeklagte Herzog Tassilo ungefesselt in den Hof geführt. Er war einfach gekleidet und trug kein Zeichen seines Ranges mehr. Sein noch immer volles Haar war grau geworden. Er begrüßte seine Richter mit einer kurzen Verbeugung und nahm dann auf einem Feldstuhl Platz. Ihm folgte sein Sohn Theodo, der sich hinter den Stuhl seines Vaters stellte und mit beiden Händen krampfhaft die Rückenlehne umfasste. Während Herzogin Luitberga mit auf der Anklagebank saß, ersparte man den drei anderen Kindern des Herzogs, die als Gefangene zwischenzeitlich auch am Hof in Ingelheim weilten, diesen Auftritt.

Kanzler Richbot verlas die Anklage gegen den Herzog. Rede und Widerrede wurde von eifrigen Notaren aufgeschrieben. Im Wesentlichen ging es in der Anklage um sein angebliches Bündnis mit den Awaren, seine feindlichen Maßnahmen gegen fränkische Vasallen in Bayern und auch Tassilos Weisung, den Treueeid auf den fränkischen König nur unter Vorbehalt zu leisten.

Karl hatte zugelassen, dass Arno, der Bischof von Salzburg und Hunrich, der Abt vom Kloster Mondsee als Verteidiger des Bayernherzogs und seiner Familie fungierten, obwohl jedermann wusste, dass die beiden längst die Fronten zum Frankenkönig gewechselt hatten.

„Immerhin hat Tassilo das Kloster Innichen bei Bozen gegründet“, warf Waltrich, der Bischof von Passau, entschuldigend ein, „und die Gebeine des heiligen Korbinian nach Freising gebracht.

An Ehrerbietung gegenüber Gott und dem Heiligen Vater mangelt es dem Angeklagten doch wahrlich nicht.“

„Alle hier vorgetragenen Anschuldigungen treffen zu“, sagte der schwarze Arn. „Aber ich weise darauf hin, dass Tassilo sich immer wieder entschuldigt und seine Treue neu beschworen hat.“

„Das ist es ja gerade!“, stieß der König wütend hervor. „Was nützen Treueschwüre, wenn der Wind sie verweht? Und wie kann ich Sachsen, Langobarden, Aquitanier und Bretonen für einen Treuebruch bestrafen, wenn der Sohn von meines Vaters Schwester Hiltrud, der die Gesetze ebenso kennt wie ich, mich seit Jahren missachtet und verhöhnt?“

„Du verdienst auch nur Missachtung, du Bastard!“, schrie Luitberga. „Wer war dein Vater Pippin denn, als du geboren wurdest? Verwalter von stinkenden Ställen und armseligen Waldhufen.“

„Sei still, Luitberga“, keuchte Tassilo entsetzt.

„Ach was! Soll dieser sogenannte König aus der Familie von Brudermördern und Verrätern der Blutsbrüderschaft ruhig hören, was ich von ihm denke!“ Luitberga wurde immer lauter und ihre Stimme immer schriller. „Wir Langobarden hatten bis zuletzt mehr Kultur als jeder dieser blutigen Merowinger und ihrer hochgekommenen Hausmeier!“ Luitberga spuckte vor dem Frankenkönig aus. „Ich hasse dich, Karl! Und Tassilo hasst dich ebenso!“ Der Bayernherzog starrte regungslos auf den Boden. Für endlos lange Minuten sprachen weder Ankläger noch Verteidiger. Schließlich zog Bischof Arno von Salzburg laut hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein.

„Das reicht alles nicht für ein echtes Exempel“, meinte Arno nachdenklich. Die Richter wussten zu gut, dass diese Anschuldigungen für einen Schuldspruch nicht ausreichten, dass der Bischof von Salzburg Recht hatte und alle anderen hier anwesenden Edlen des Reichs wussten es ebenfalls. Tassilo brauchte sich nur vor dem König der Franken auf den Boden zu werfen und behaupten, dass ihn die Liebe zu seiner rachsüchtigen Frau wieder und wieder untreu gegen König und Reich gemacht hatte – und jeder würde verstehen und einer erneuten Vergebung zustimmen. Der plötzliche Ausfall von Luitberga kam einigen der Anwesenden auf einmal gar nicht mehr so selbstmörderisch vor. Im Gegenteil – selbst Karl schob die Unterlippe vor und begriff, dass ihm die Hände gebunden waren. Er konnte einfach nichts ausrichten gegen Tassilo und Luitberga. Die Tochter des letzten Langobardenkönigs Desiderius besaß jeden nur denkbaren Freiraum. Sie dafür zu bestrafen, dass sie die Verbannung ihres Vaters, ihrer Schwestern und den Untergang des Langobardenreichs und des bayerischen Herzogtums beklagte, war schier unmöglich. Karl merkte, wie die ursprünglich gegen Tassilo und Luitberga vorhandene Stimmung umkippte.

„Wir wollen noch einmal daran erinnern, dass Herzog Tassilo und seine Gemahlin von königlicher Abkunft sind und stets allen Klöstern in Bayern hochherzige Geschenke gemacht haben“, sagte der Bischof von Salzburg.

„Ja, Klöster, die Tassilo selbst gegründet hat“, rief völlig unerwartet Hunrich, der Abt des Klosters Mondsee, der eigentlich als Verteidiger des Bayernherzogs ausersehen war. „Klöster wie Innichen, Kremsmünster und Mattsee haben stets seine Gunst besessen, wir in Mondsee hingegen nie, aber wir wurden ja auch schon vor vierzig Jahren von seinem Vater Odilo gegründet.“

„Ihr habt mir Schutz verweigert, als ich mit meinen Kriegern einen Umweg machen musste“, verteidigte sich Tassilo. Er merkte nicht, dass diese Rechtfertigung der schlimmste Fehler seines Lebens war.

„Ich habe dir niemals Schutz verweigert“, rief Abt Hunrich erregt. „Aber ich gebe gerne zu, dass mein Vorgänger niemand beköstigt hat, dem Heeresverlassen und Fahnenflucht vorzuwerfen war.“

„Moment mal“, unterbrach König Karl den Disput zwischen Tassilo und Abt Hunrich. „Von welchem Heeresverlassen sprecht ihr eigentlich?“

„Von Tassilos natürlich“, antwortete Hunrich aufgebracht. „Oder hast du vergessen, wie er sich anno 763 aus dem aquitanischen Feldzug deines Vaters Pippin zurückgezogen hat?“

„Was ist das hier?“, protestierte Tassilo sofort. „Eine Befragung während des Reichstags oder ein Kriegsgericht über eine Lappalie, die längst verjährt ist?“

„Die Frage ist so interessant, dass ich sie selbst beantworte“, sagte der König. „Heeresverlassen und Fahnenflucht verjähren nicht! Weder nach fränkischem noch nach bayerischem, langobardischem oder sächsischem Recht! Wie hast du selbst bisher harisliz bestraft, Herzog?“

„Natürlich steht auf harisliz die Todesstrafe“, antwortete Tassilo spontan.

Karl holte ganz langsam und sehr tief Luft. Tassilo sah nach links, nach rechts. Überall wie versteinert wirkende Mienen.

„Tassilo, du musst von Sinnen sein“, keuchte der König. Karl blickte seine versammelten Bischöfe, Äbte und Grafen an und lehnte sich zurück. Der Spruch über Herzog Tassilo von Bayern fiel noch vor Sonnenuntergang. Er lautete einstimmig auf Todesstrafe.

So wurde als Hauptanklagepunkt sein unerlaubtes Verlassen vom königlichen Heer bemüht, das längst vergessen schien. Das Gericht aus Franken, Bayern, Langobarden und Sachsen verurteilte Tassilo zum Tode, formal also nicht wegen seiner jüngsten Eigenmächtigkeiten, sondern mit der offenbar juristisch brauchbaren Begründung, er habe fünfundzwanzig Jahre zuvor gegenüber Karls Vater Pippin in Aquitanien Fahnenflucht, harisliz, wie es in der lingua theodisca heißt, begangen. Karl übernahm die Rolle, für seinen Vetter die gnädige Umwandlung der Strafe in dauernde Klosterhaft zu erbitten, dehnte dies dann aber über die gesamte Familie Tassilos aus. Dann wandte sich der König an Tassilo. „Da du deine Strafe annimmst und von nun an als Mönch im Dienste Gottes stehen wirst, soll zum Zeichen deiner Reue und Einsicht dein Haar vor dieser Versammlung bis zu den Ohrläppchen geschoren werden, wie es einem Mönch zukommt.“

Tassilo hob abwehrend die Hände. „Nein, ich möchte nicht, dass es hier geschieht! Das ist keine weltliche Angelegenheit und darum bitte ich dich, König Karl, es im Kloster geschehen zu lassen.“ Tassilo unterstrich seine Bitte durch einen Kniefall vor dem König. Es herrschte Totenstille. Würde der König seinen Vetter vor aller Augen demütigen oder ließ er nochmals Milde walten?

Karl tat was seiner Klugheit entsprach: Da er nun ganz Bayern ohne einen Schwertstreich gewonnen hatte, warum sollte er den Gestürzten noch demütigen. Er tat, als denke er lange nach und entschied: „Es soll geschehen, wie Herr Tassilo es wünscht.“

Herzogin Luitberga, wie die Söhne Theodo, Theotbert als auch die Töchter Hroddrud und Cotani verschwanden ebenfalls hinter dicken Klostermauern. Luitberga ließ sich abführen, nicht ohne Karl, dessen Kinder und Kindeskinder vor allen Augen und Ohren mit einem Fluch zu belegen, der alle Anwesenden frösteln ließ.

Tassilo machte keine gute Figur vor den Franken und Bayern, Langobarden und Sachsen. Er wurde als Hochverräter entlarvt, als Großmaul, als Pantoffelheld, und er konnte keine der Anschuldigungen widerlegen. Vielmehr musste er gestehen, dass sie alle zutrafen. Welche Rechtsmittel er auch immer gehabt haben mag, Karls Tribunal trieb ihn gnadenlos in die Enge und raubte ihm den letzten Rest von Würde und Persönlichkeit, den er noch aufzubringen vermochte.

„Schade“, sagte Karl zu Alkuin, nachdem er Tassilo ohne das lange Haupthaar der Herrscher gesehen hatte. Er konnte nichts dagegen tun, dass er plötzlich feuchte Augen bekam. „Eigentlich habe ich meinen Vetter Tassilo stets geachtet und gemocht. Mit einem anderen Weib als dieser gehässigen und rachsüchtigen Langobardin Luitberga hätte er der beste Statthalter in meinem Reich werden können.“

„Immerhin hat er nie nach der Spur des Lindenblattes in deiner eigenen Unverwundbarkeit gesucht“, sagte Alkuin mit einem vieldeutigen Lächeln. Karl brummte nur. Manchmal verstand er diesen schlauen Geist an seiner Seite wirklich nicht.

„Warum vergisst mein Gemahl plötzlich, was er uns stets über die Härte des Herrschers gesagt hat“, protestierte die rachsüchtige Fastrada später, als sie mit dem König allein war. „Tassilo und Luitberga hatten für ihre Treulosigkeit den Tod verdient.“

„Vielleicht, weil ich vergaß, dich darüber zu belehren, dass die letzte Vollkommenheit in der Gnade der Großmut besteht“, entgegnete Karl. „Ein König muss Härte zeigen, solange jemand diese Härte anzweifelt. Aber wenn alle lauthals nach Strafe und Rache rufen, den Daumen nach unten senken und ihren Anführer zum Knecht ihres Zorns machen wollen, dann muss ein Anführer und König wiederum eigennützig handeln. Er darf keinem gehorchen – auch nicht der Meinung der Mehrheit.“

*Man überlege: Diese herzogliche Familie, diese sechs unglücklichen Menschen, gleichgültig ob Mann oder Frau, die bislang in ihrer Residenz Regensburg prachtvoll gelebt und regiert hatten, wurden nun kahlgeschoren und in ein Kloster gesteckt. Jeder von ihnen verlor seinen Namen und seinen Adelstitel. Keiner von ihnen durfte Besuch empfangen und niemanden aus seiner vertrauten Umgebung wiedersehen. Nicht Vater und Mutter, weder Geschwister noch seine Freunde. Den herzoglichen Hof und die Freuden des Lebens mussten sie gegen eine karge Klosterzelle tauschen, und darin würden sie, obwohl nicht zum Mönchsein berufen, bis zu ihrem Lebensende dahinvegetieren, vergessen von der Umwelt und ohne Schimmer auf Hoffnung. Wie viele dieser Verlorenen und Vergessenen werden sich den Tod gewünscht, gesucht und sicherlich auch gefunden haben?

Es bedarf im Nachhinein nicht großer juristischer oder gar historischer Kenntnisse, um diese Verurteilung Tassillos und seiner Familie als Schauprozess zu brandmarken, womit das Geschlecht der bayerischen Agilolfinger endgültig der generationenalten Rivalität der Arnulfinger und Pippin erlegen war. Sechs Jahre später anno 794 musste der Mönch Tassilo übrigens noch einmal vor der Reichsversammlung in Frankfurt in aller Form den Herrschaftsverzicht seines Geschlechts erklären. Die Nachwelt hat überwiegend und zu Recht dem fränkischen König die Inhaftierung der Kinder Tassilos, vornehmlich jene der beiden Töchter, als barbarischen Akt vorgeworfen, der jeglicher politischer Notwendigkeit entbehrte.*

Mit dem Sturz Tassilos war das letzte der vorkarolingischen Herzogtümer auf merowingischem Reichsboden beseitigt und überall die unmittelbare Herrschaft von Karls neuer Dynastie durchgesetzt.

Nur der Brautkelch und das Zepter Tassilos fanden sich nicht mehr ein. Wie zur Buße hatte Abt Hunold sie heimlich vor dem Auftauchen der Franken in Regensburg abgeholt und in das von Tassilo gestiftete Kloster Kremsmünster gebracht. Die dortigen Mönche formten das Zepter zu zwei Leuchtern um, die noch Jahrhunderte überstehen sollten, ebenso wie der Brautkelch, in dem später die Stimmzettel bei jeder Abtwahl im Kloster Kremsmünster eingesammelt wurden.

Karl nahm dann bereits im Herbst 788 die agilolfingische Hauptresidenz in Besitz und übertrug die weitere Integration des bayerischen Stammesgebiets, das zunächst als rechtliche und kirchliche Einheit erhalten blieb, seinem Schwager Gerold von der Bertholdsbar, dem Bruder seiner verstorbenen Frau Hildegard, der durch seine Abkunft aus altem alemannischen Herzoghaus und dessen Versippung mit den Agilolfingern selbst in kennzeichnender Weise den neuen Reichsadel repräsentierte.

Nach dem Erwerb des Langobardenreichs Ober- und Mittelitaliens sowie des noch nicht gänzlich befriedeten Sachsens war Bayern binnen Kurzem die dritte große Arrondierung, die das Frankenreich über Gallien und dessen rechtsrheinisches Vorfeld hinausführte und seinen Schwerpunkt nach Osten verschob. Wohl einzig dem fränkischen König war klar, dass damit in absehbarer Zeit und im Wesentlichen der Rahmen abgesteckt war, in dem sich die innere Sicherung des Erreichten, vornehmlich jedoch der Aufbau eines neuen Staatswesens mit zahlreichen Reformvorhaben zu vollziehen hatte. Karl hatte den festen Vorsatz gefasst, im nächsten Winter erneut mit den Großen des Reichs sein angestrebtes Reformwerk zu beraten und fortzuführen.

Anschläge auf den Frankenkönig

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