Читать книгу Godcula - Hans Jürgen Kugler - Страница 4
1 Die Verwandlung
ОглавлениеIch habe mich verwandelt. Ganz gewaltig sogar. (Gewaltig ist das richtige Wort.) Wenigstens das weiß ich. Denn am meisten scheint sich mein Erinnerungsvermögen geändert zu haben. Alles, was ich jetzt noch weiß, ist, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war, und dass es auch nie mehr so sein wird. Ich kann es nicht erklären, ich weiß nur, dass ich mit einem Mal nicht mehr derselbe war, der ich noch bis vor kurzem gewesen bin. Und doch bin ich derselbe geblieben. Aber ich habe mich verändert.
Die Verwandlung nahm draußen, außerhalb der Röhre, ihren Anfang. Wie an jedem Morgen bin ich auch an diesem Tag schon in aller Frühe aus dem Bau herausgekrochen, ganz wie sonst auch, der gewohnte Gang aus dem Dunkel ins Licht, in die unbekannte, gefährliche Welt außerhalb des freundlichen, warmen Kollektivs.
Zunächst schien alles so wie immer zu sein. Der kurze Schock vor dem grellen Licht, die vielen verwirrenden Düfte, die unsere Straßen überlagerten; die sich drohend abzeichnende Phalanx des Waldes und das Spiel der Schatten, nachdem sich meine Augen an die überwältigende grelle Fülle angepasst hatten; der kühle Wind auch, der über meinen Körper strich.
Weil ich durstig war eilte ich noch schnell einen Grashalm hinauf, um mich an dem verlockenden, in der Sonne silbern glitzernden Wassertropfen zu erfrischen, der von der Spitze herabhing. Mit den vorderen Gliedmaßen packte ich in geübtem Griff diese unter meinen Greifklauen immer so rasch vor sich hinwirbelnde glänzende Kugel. Es ist nämlich jedes Mal aufs neue eine Herausforderung, diesem so schwer fassbaren, kaum zu bändigenden Element habhaft zu werden. Schließlich bekam ich sie aber dennoch zu fassen, eine pralle, in der Frühsonne wie ein Diamant glitzernde Wasserperle, und stach mit meinen Mandibeln in die gleißende Flüssigkeit, um davon zu trinken. Normalerweise ist das eine ganz gewöhnliche Angelegenheit; die lediglich zur Folge hatte, dass meine durch die Austrocknung in der Nacht spröde gewordenen Membranen sich wieder etwas dehnen konnten und geschmeidiger wurden. Die Flüssigkeit kühlte mir etwas den durch die Anstrengung hitzig gewordenen Körper – ein Vorgang, der für mich so selbstverständlich war, dass ich ihn kaum jemals bewusst registriert hatte. Aber an diesem Morgen war alles anders. Das Wasser rann mir an diesem Tag nicht wie sonst kühl und erfrischend den Schlund hinab, sondern raste mir wie flüssiges Feuer direkt in die Eingeweide hinein, ich hatte dabei ein Gefühl, als ob ein glühendes, wildes Tier sich in meinen Körper hineinfräße. Es ist wahr: Das Wasser dieses einen Tropfens erfrischte und belebte mich auf eine Weise, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte, auch wenn es mich innerlich zu verbrennen schien.
Ich hatte kaum ein paar Schlucke von dieser ungewöhnlichen Flüssigkeit getrunken, da spürte ich, dass etwas mit mir, mit meinem Körper vorging. Ich sah an meinen vorderen Gliedmaßen entlang und konnte beobachten, wie der Abstand zwischen mir und dem Halm, an den ich mich geklammert hatte, zunehmend zu schrumpfen schien. Der Halm wurde kleiner und immer kleiner, sehr bald schon wurde er so winzig, dass ich Mühe hatte, ihn noch weiter umklammert zu halten, was ich in meiner Verwirrung natürlich dennoch instinktiv versuchte.
Aber es hatte keinen Sinn. Nach ein paar Sekunden neigte sich der Halm zu Boden, weil er mein Gewicht nicht mehr tragen konnte. Es war kein großer Sturz, im Gegenteil. Ich landete sauber auf der Erde und konnte beobachten, wie die Halme der Gräser ringsumher immer weiter nach unten sanken. Ich befand mich schon lange nicht mehr im Graswald, sondern auf ihm. Schon konnte ich das Gras von oben betrachten und musste zu meinem nicht gerade geringen Erstaunen feststellen, dass diese so scheinbar unermessliche grüne und braune Landschaft, die ich bisher aus meiner Ameisenperspektive für die ganze Welt gehalten hatte, zu einem winzigen Fleckchen Erde zusammengeschrumpft war.
Nachdem ich meine Augen neu ausgerichtet und auf eine größere Entfernung hin eingestellt hatte, konnte ich erkennen, dass der grasbewachsene „Hügel“, auf dem ich stand, nicht mehr als eine winzige Ausbuchtung von einem Splitter eines Felsens war, der wiederum in einen kleinen, unscheinbaren Teil eines kleines Berges am Fuße einer weiten Kette von Bergen eingebettet lag, die sich in einer unendlichen Reihe über und über und aneinander auftürmten, bis sie sich endlich in einer immer weiter entfliehenden Ferne in einem dunstigen Bereich aus Wolken, blassen blaugrauen Farbschlieren und kaum noch erkennbaren, verwaschenen Mustern aufzulösen schienen.
Ein Schwindel erfasste mich, als ob ich taumelnd und mich überschlagend nach allen Seiten hin zugleich stürzen würde. Wie groß ist die Welt! Wie gewaltig! Wie erdrückend und zugleich auch wie weit und erhaben!
Und plötzlich erkannte ich, inmitten dieser umwälzenden Veränderung, die sich da mit mir vollzog – es ist alles nur eine Frage der Perspektive! Nicht die Welt war es, die da vor meinen Augen in Nichts zusammenschnurrte und dabei zugleich auch bis ins Unendliche expandierte, sondern ich war es, ich selbst, der plötzlich größer und größer und noch größer wurde. Die Welt blieb, was sie ist, aber ich wuchs und wuchs …
Meine Gedanken wirbelten wie wild durcheinander. Nichts erschien mir mehr wirklich. War wirklich ich es, der – gestern? – noch wie jeden Morgen aus dem Bau gekommen war und all die notwendigen Dinge getan hatte, die nun einmal getan werden mussten; war wirklich ich es, der da plötzlich aus völlig unbekannten Gründen über sich hinaus gewachsen ist, dass ihm die Welt schrumpfte wie ein fallender Ball, dem die Welt sich so plötzlich ins Riesenhafte auftürmte wie ein Gebirge …
„Eine ganz neue Erfahrung, wie?“
Da war sie wieder, die altvertraute Stimme, die mich seit einiger Zeit immer dann zu begleiten pflegte, wenn ich auf meinen vertrauten Streifzügen durch die äußere Welt hin und wieder den Kontakt zum Kollektiv verloren hatte.
„In der Tat, soo groß hätte ich mir den Unterschied nicht vorgestellt“, antwortete ich ihr.
„Nun, soo groß ist der Unterschied im Grunde auch gar nicht. Denn ohnehin ist alles, was ist, nur der Traum im Traum eines geträumten Träumenden.“
„Was sagst du da?“
„Die Wahrheit.“
„Nun, wenn es die Wahrheit ist, dann ist es ja gut, denke ich.“
„So, meinst du …?“
(Independente Selbstbezügliche Kollektiv-Textdatei <INSEKT>, Fragment Alpha Origo 0/00.1–00.5)