Читать книгу Godcula - Hans Jürgen Kugler - Страница 6
3 Kurt Kurtz sucht eine Schere
Оглавление(…) Der Tod wird die einzige individuelle Erfahrung sein, die sie jemals in ihrem Leben machen werden. Einzig der Tod wird es sein, der sie einst aus ihrem Kollektiv zu trennen vermag.
(aus: Godcula’s Kleines Brevier der Tiere, a.a.O., Seite 1245)
Sub Assistance Deputy (SAD) Kurt Kurtz’ Schreibtisch glich einer aufgegebenen kommunalen Mülldeponie, die eben im Begriff stand, aus ihrem feuchten, dunklen Innern neues Leben entstehen zu lassen – eine Metapher, die so falsch nicht war. Und wirklich – sein Schreibtisch entpuppte sich alsbald als ein Ort voller Leben. Irgendwo aus der linken hinteren Ecke, zwischen den abgelegten Farbausdrucken des Kalaminia-Exposés von 98, den verklebten, mittlerweile ungültigen Briefmarken, der noch zart nach Tabasco duftenden Mexican-Pizza-Schachtel von letzter Woche und dem abgekauten Bleistiftstummel von gestern lugten scheu und vorsichtig zwei zwei Zentimeter lange, haarige Fühler hervor, die in hochfrequenten Schwingungen vorsichtig die umgebende Raumluft sondierten.
Kurt Kurtz bemerkte allerdings nichts von diesen zaghaften Versuchen einer auf diesem Planeten noch unbekannten Lebensform in neue Territorien vorzustoßen, da er im Moment vollauf damit beschäftigt war, in den unergründlichen Tiefen seines Schreibtischcontainers nach einem Klebestift zu suchen, den er, da war er sich ganz sicher, erst vor einem Jahr dort irgendwo deponiert hatte und mithin im Augenblick seine ganze Aufmerksamkeit der anspruchsvollen und äußerst diffizilen Aufgabe gewidmet hatte, mit den am linken Handrücken gespreizten Fingern den stetig nachrutschenden Berg angefangener Merkdemos, nicht verbuchter Quittungsbelege, leerer Farbpatronenverpackungen eines längst ausrangierten Tintenstrahldruckers, zerknüllter Coladosen und je nach Belegung wahlweise vertrockneter oder verschimmelter Sandwichüberreste einigermaßen in Schach zu halten, während sich die Finger der rechten Hand einem Ölbohrer gleich in immer tiefere geologische Schichten aus Papier, Plastik und einer Unzahl von Verbundstoffen wühlten, bis sie sich endlich auf dem Grunde seines Schreibtischcontainers in den verborgenen Sedimenten einer ausgeklügelten Ablagetechnik von etwa zwei Jahrzehnten Dauer, vorwärtstasten konnten, um diesen nun so dringend gebrauchten Klebestift endlich ans Tageslicht zu befördern.
In einem für ihn ungewöhnlichen Temperamentsausbruch stieß er einen triumphierenden Schrei aus, als er an seinen Fingerspitzen endlich die klebstoffverkrustete Spitze des Klebestiftes spürte, stieß dann die rechte Hand noch etwas tiefer in das geheimnisvolle Dunkel und zog in einer entschlossenen Bewegung seine Beute hervor.
Der plötzliche Ruck, mit dem Kurt Kurtz den Klebestift aus seinem Schreibtischcontainer gezogen hatte brachte jedoch das in jahrelanger Arbeit sorgfältig austarierte Gleichgewicht dieses Materialkompendiums auf seinem Schreibtisch in beträchtliche Schwingungen. Kurz, der ganze Haufen kam ins Rutschen und begrub das gerade eben noch scheu sich regende Leben unwiderruflich unter sich.
Und so wurde auf diese Weise wieder einmal eine hoffnungsvolle Spezies von Menschenhand ausgelöscht und folgte damit dem unbeirrbaren und grausamen Lauf der Evolution. Viele Prototypen, die untergehen, bevor sie noch recht die Chance gehabt hätten, sich auszubreiten und weiterzuentwickeln.
Aber auch Kurt Kurtz war heftig in seinen Überlebenskampf verwickelt. Er wusste ganz genau, wenn er nicht bald eine Idee hätte, die er seinem Chef Fred als absoluten Knaller des Jahres würde verkaufen können, würde sehr bald eben dieser Fred – Kumpel hin, Kumpel her – über ihn herfallen und ihm womöglich seine ausgedehnten Rauchpausen untersagen wollen. Und dann käme garantiert noch Dr. Pandemius hinzu, der wiederum zuerst und zudem über Fred herfallen würde, was diesen mit Sicherheit dazu bewegen würde, … Und weil die Kacke dann eh schon so schön am Dampfen wäre, käme dann mit Sicherheit noch der Vorstand angelaufen, um seine – gelinde gesagt – Irritationen über das laufende Programm zu artikulieren; denn wenn Schlachttag ist, läuft die Meute stets zusammen, um ihn, das so ziemlich letzte Glied in der Kette, zu zerfleischen. Zu guter Letzt würde ihm seine Frau noch eine Szene machen, die Kinder hätten wieder einen Grund, ihren Vater zu verachten, und selbst der Wellensittich sähe sich noch veranlasst, seinen Unmut über seine mangelnde Fürsorge durch nervenzerreißendes Zetern kundzutun.
Also musste dringend eine Idee her! Er blickte auf seine Hände. Was eigentlich wollte er mit diesem Klebestift anfangen? Ach ja, die Präsentationsunterlagen von 94! Die waren ja noch ganz brauchbar. Schade, dass er diese Unterlagen nicht damals schon komplett in den Computer geladen hatte, dann hätte er jetzt nur noch die halbe Arbeit, könnte hier einen Text ersetzen, dort eine Grafik anpassen … Es würde verdammt eng werden. Und ausgerechnet heute hatte „Galle“ natürlich Urlaub genommen. Als ob er es geahnt hätte! Immer, wenn es Arbeit gab, war der Herr Galler entweder in Urlaub, hatte etwas Unaufschiebbares zu erledigen oder erkrankte urplötzlich an irgendeiner ebenso merkwürdigen wie hartnäckigen Virusgrippe oder sonst einem Zipperlein. Gut meinende Kollegen hielten ihn für einen Hypochonder, aber das war er ganz gewiss nicht. Der Begriff der Hypochondrie wäre mehr als geschmeichelt, wollte man diesen Terminus als hinreichende Erklärung für Erhart Gallers häufige Fehlzeiten wegen Krankheit anwenden. Ein Hypochonder fühlt sich ja wirklich krank, auch wenn er kerngesund ist. Und Kurt wusste ziemlich genau, was man sich unter einem Hypochonder vorzustellen hatte. Sein Kollege Walter Witzel beispielsweise war der geradezu klassische Prototyp des eingebildeten Kranken. „Eingebildet“ durchaus im doppelten Sinn des Wortes, denn neben seiner Hypochondrie zeichnete Walter auch ein ungebremstes und mitunter mehr als peinliches Geltungsbedürfnis aus. Er musste im Laufe seines Lebens nun wirklich schon jede denkbare und auch undenkbare Erkrankung, jedes im Pschyrembel oder sonst wo dokumentierte Gebrechen am eigenen Leibe erlebt haben. Walter Witzels Neigung, bei jedem Eindruck schinden zu wollen, der so unvorsichtig gewesen war, in seine Nähe zu kommen, ging einmal sogar so weit – er musste immer noch darüber schmunzeln –, dass er einem Kollegen gegenüber erwiderte, der ihm von einer diagnostizierten Hirnhautentzündung eines Freundes erzählt hatte, Hirnhautentzündung, das sei nun wirklich etwas ganz Furchtbares: „Entweder man stirbt daran, oder man wird blöd davon. – Hab ich auch schon gehabt!“
Dem Kollegen, dem er dieses Geständnis in seiner erfrischend naiven Art abgelegt hatte, fiel fast die frisch aufgebrühte Kaffeetasse aus der Hand, dann brach er in brüllendes Gelächter aus, was Walter nur noch mit einem unverständlichen Kopfschütteln quittieren konnte. Wahrscheinlich hat er bis heute nicht gemerkt, welche tiefe Einsicht er da gerade in sein tiefstes Innerstes gewährt hatte. Diese unschuldige Art von Ignoranz bringt nur der wahre Hypochonder auf. „Galle“ aber, nein, „Galle“ war ganz gewiss kein Hypochonder. Der ist kerngesund wie immer und feiert ganz bewusst – und zwar gerade nicht schuldbewusst – krank, besonders an solchen Tagen, wenn es mal wieder hoch herzugehen droht im Betrieb.
Wenn er es recht betrachtete, so fiel ihm jetzt auf, so ist in all den Jahren eigentlich nie eine Woche vergangen, in der Erhart Galler nicht mindestens einen Tag gefehlt hatte, sei es, weil er sich mal wieder kurzfristig einen Tag Urlaub genommen hatte, oder sei es, weil er – wesentlich häufiger natürlich! – wegen irgendeiner obskuren Erkrankung unpässlich geworden war. Was musste der arme Mensch leiden! Alle Arten von Infektionen hatten ihn schon heimgesucht; die Wirbelsäule, das Kreuz, der Magen, Rheuma, Asthma, Migräne … die Liste der Gebrechen, unter der Kollege Galler zu leiden beliebte, ließe sich ins Unendliche fortsetzen.
Sein Blick fiel auf die Uhr. „Verdammt, fast elf.“ Jetzt musste er sich aber wirklich beeilen, wenn er Fred bis Mittag noch irgend etwas Handfestes liefern wollte. Er ging an das alte Wandregal in der Ecke, wühlte eine Weile in den verstaubten Restposten und Ansichtsexemplaren, die sich dort seit Jahren angesammelt hatten, bis er „Meyer‘s Illustriertes Lexikon der Tiere“ gefunden hatte. Er hatte doch damals schon geahnt, dass er dieses Buch irgendwann einmal noch würde gebrauchen können. Wenn es nach Fred gegangen wäre, hätten sie diese alten Staubfänger längst zum Altpapier gegeben. Aber er, Kurt Kurtz, war dessen wiederholten Aufforderungen in bewährter Verschleppungstaktik stets mit einem zackigen „Klar, Chef, wird morgen gleich als Erstes erledigt“ begegnet und hatte die Bücher, Zeitschriften und Broschüren dort liegen gelassen, wo sie waren. Man konnte ja nie wissen, wozu man sie noch gebrauchen könnte. Dabei war Kurt Kurtz alles andere als ein belesener Büchernarr; ganz und gar nicht, bei Stephen King stieg er spätestens bei Seite 30 aus. „Wenn man den ganzen Tag auf den Bildschirm starrt, muss man abends ja nicht auch noch seine Nase in Bücher stecken. Ich mache es mir dann lieber vor dem Fernseher gemütlich“, pflegte er diesbezüglichen Fragen logisch nicht ganz zwingend zu entgegnen.
Aber ein Buch einfach wegzuwerfen, das käme ihm denn doch fast einem Sakrileg gleich. Also blieben die Bücher, dort, wo sie waren, mochte Fred ihn auch noch so oft dazu auffordern, sie endlich „endzulagern“, wie er das nannte. Er kannte Fred. Fred liebte es, Anweisungen zu geben, das bestätigte ihm stets seine Wichtigkeit. Ein Tag, ohne dass er eine Anordnung gegeben hätte musste für ihn sein, als ob er einen ganzen Tag lang nichts gegessen hätte. O ja, Befehle sind das Brot des Vorgesetzten. Ob die Anweisungen, die Fred damit täglich auch in so großer Zahl erteilte, dann auch tatsächlich ausgeführt wurden, das interessierte ihn nicht. Er hatte seine Direktiven ja gegeben. Und das musste genügen.
Er blätterte eine Weile in dem dickleibigen Wälzer herum, bis er auf das Foto einer Ameise stieß, das seinen Vorstellungen in etwa entsprach. Es handelte sich um die Makroaufnahme einer Waldameise, Formica rufa. Sie war direkt vom Boden aus aufgenommen worden, so dass der Betrachter dem maskenhaft gepanzerten Kopf mit den großen, wie die Geschützkanzeln eines fremdartigen Raumschiffs anmutenden Facettenaugen direkt gegenüber stand. Darüber wölbten sich zwei riesige Fühler, die dem Objektiv der Kamera drohend entgegenstreckt waren. Durch die ungewöhnliche Perspektive schien das linke Vorderbein dieses Ungeheuers fast die Linse zu berühren, ein langgestrecktes braun-schwarzes Gebilde, an der Unterseite gezackt und behaart, das wie die Lanze eines Gottes in den sandigen Boden gerammt war.
Genau das war es! Er wühlte eine Weile in seiner Schreibtischschublade, bis er schließlich seine Nagelschere hervorgeangelt hatte. Er hatte noch die Geistesgegenwart, an seiner Hose zuvor noch die klebrigen Reste unzähliger Milchtütenverschlüsse abzustreifen, die er mit dieser Schere zu öffnen pflegte, bevor er dann vorsichtig damit begann, an den Konturen der Ameise entlangzuschneiden und sie möglichst unversehrt aus dem Papier zu lösen. Er war so konzentriert auf seine Arbeit, dass seine Zungenspitze sich unmerklich zwischen seinen Vorderzähnen hervorschob, ein auch äußerlich sichtbares Zeichen, dass er entschlossen war, mit seiner Arbeit die Mannschaft bis an die Spitze zu führen. Die Tätigkeit strengte ihn so sehr an, dass er sich bei der schwerwiegenden Aufgabe, konturengenau den rechten Vorderfuß der Ameise zu umschnippeln unbeabsichtigt auf das kleine rosa Zipfelchen biss, das wie die Schwanzspitze einer verschluckten Labormaus aus seinem Mund spitzelte.
„Au, verdammt!“ schrie er, mehr erschreckt als vor Schmerz und ließ Schere samt halb ausgeschnittener Ameise auf die Schreibtischplatte fallen.
„Was machst du denn da?“
Wie aus dem Nichts gezaubert stand Fred plötzlich vor ihm.
„Ich arbeite. Sieht man das nicht?“ knurrte er, der Schmerz ließ ihn diesmal sogar gegen Fred aggressiv werden.
„Du hast gerade den Finger im Mund und eine Riesensauerei auf dem Schreibtisch.“ Er wies mit dem Finger auf das in der Tat eindrucksvoll sich türmende Chaos in Kurts unmittelbarem Wirkungskreis.
„Ich habe mir gerade auf die Zunge gebissen“, sagte er in einem Tonfall, der einen zufällig vorbeifahrenden Ambulanzwagen zu einer Vollbremsung hätte veranlassen können.
„Soso. Ich denke, du arbeitest? Statt dessen spielst du mit deiner Zunge und deinem Finger herum. Na wie auch immer. Ich wollte nur mal sehen, wie weit du schon gekommen bist.“
„Ich bin gerade dabei, eine Illustration für unser Exposé zu bearbeiten. Siehst du …“ Er wies auf das noch in der Nagelschere eingeklemmte Stückchen Papier, das einmal eine riesenhafte Ameise in einer typischen Hochhauslandschaft werden sollte.
Fred sah lediglich eine alte rostige Nagelschere, die noch deutlich weißliche Spuren von was auch immer an ihren Schneiden trug, die in einer Photographie steckte, welche offensichtlich aus einem Buch herausgetrennt worden war. Vor allem aber sah er einen unglaublich wirren, undefinierbaren amorphen Haufen von altem Papier, fleckiger Verpackungen, abgekauter Bleistiftstummel, Pizzaresten! Krümel! gebrauchter Tempotaschentücher!! und Dingen, die er in diesem Zustand in seinem Leben noch nie zuvor so gesehen hatte.
„Ihh! Was ist denn das?“ Fred hatte mit dem scharfen Spürsinn eines Entomologen die zerquetschten Überreste der einzigartigen Lebensform entdeckt, die vor ein paar Minuten erst auf Kurts Schreibtisch das Licht der Welt erblickt hatte, der es aber unglücklicherweise sofort wieder ausgeknipst wurde.
„Das, äh … Ihh! Was ist denn das?“
„Das habe ich gerade dich gefragt.“
„Scheint wohl ein Tier zu sein?“ vermutete Kurt hilflos, selbst ehrlich überrascht über diesen Fund.
Unvermittelt wechselte Fred das Thema.
„Sag mal, du hast nicht eben zufällig etwas gehört?“
„Was soll ich denn gehört haben?“
„Na, halt irgend etwas …“ Er hielt verlegen inne, blickte wie zufällig an die Decke, dann auf den Boden.
„… eine Stimme vielleicht?“ raunte er kaum vernehmlich, diese drei Wörter angestrengt wie einen ekligen haarigen Fremdkörper von der Zunge schiebend.
„Was für eine Stimme meinst du denn? Ich höre hier laufend Stimmen. Nebenan quasseln Maier, Beyer und Zeyer ununterbrochen in ihre Telefone. Diese Sperrholzwand da hält ja keinen Ton ab. Dann geht dort drüben meistens auch noch der Radio, ständig wird irgendein potentieller Kunde quasselnd durch die Gänge geführt, die Tippsen bekakeln ihre neue Garderobe, ja, und selbst mein Computer begrüßt mich mit einem herzlichen ,Willkommen‘, nachdem ich ihn hochgefahren habe.“
„Sonst nichts?“
„Sonst nichts. Aber ich finde, das reicht auch schon völlig hin.“
„Ja, gut. Du hast natürlich völlig recht. Lass dich nicht weiter stören. Du machst das übrigens sehr gut da“, er wies mit dem Finger auf Kurts angefangenes Werk. „Meinst du, du schaffst das bis nach der Mittagspause? Wenn du Hilfe brauchst …“
„Danke, nein. Ich komme schon alleine klar.“
„Wie du meinst. – Tja, ich gehe dann wohl besser wieder …“
Er blieb einen Augenblick unschlüssig vor dem Schreibtisch stehen und beäugte noch einmal genau die Decke und die Wände, als ob er dort irgend etwas suchen würde. Dann wandte er sich mit einem Ruck um und ging mit plötzlich wiedergefundener Entschlossenheit wieder zur Tür heraus.
„Was er bloß hat?“ dachte Kurt. So kannte er ihn gar nicht. Der war ja richtiggehend verstört gewesen. Gar nichts von diesem sonst so offensiv zur Schau getragenen jovialen Selbstbewusstsein, nichts da von wegen „Hoppla, jetzt komm ich!“.
„Vielleicht hatte er ja eben einen Anschiss vom Chef bekommen, oder er hat gerade Ärger mit seiner Frau, was weiß ich denn.“ Aber er hatte sich doch tatsächlich herabgelassen, die „Gnadenfrist“ zur Abgabe seines Exposés bis nach die Mittagspause zu verlängern. Also konnte das Teil auch ruhig bis zum Nachmittag warten, soo eilig wird‘s schon nicht sein. Er kannte diese Tricks ja bis zur Genüge: Immer kräftig Druck und Hektik verbreiten, sonst würde uns unteren Chargen womöglich langweilig, die wir uns ja überaus glücklich schätzen sollen, in diesem Laden hier das Privileg genießen zu dürfen, auf einer sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstelle mit äußerster Hingabebereitschaft unsere dürftigen Kenntnisse und Fähigkeiten zum höheren etc.pp. zur Verfügung stellen zu können … Die ganze Kunst eines Vorgesetzten besteht ja ohnehin nur darin, alle anfallende Arbeit an seine betreffenden „Neger“ zu delegieren, darüber war sich Kurt längst im Klaren.
Aber jetzt wurde es wirklich langsam Zeit, das Exposé in Angriff zu nehmen. Er trennte das Ameisenbild so gut und konturenscharf es ging aus Meyer‘s (Jawoll, mit falschem Genitiv-Apostroph-s) Illustriertem Lexikon der Tiere heraus und glättete die Kanten sorgfältig mit den Fingernägeln. Dann zupfte er die Ansichtskarte von Salt Lake City von der Pinnwand, die er vor Jahren von einem alten Kumpel zugeschickt bekommen hatte, ein Blick direkt hinein in die urbanen Häuserschluchten, der markante Hill Tower unübersehbar im Hintergrund.
„Ja, das müsste hinkommen“, dachte er. Er legte seine ausgeschnittene Ameise probehalber auf die Postkarte, schob sie die ganze First Avenue entlang, bis sie eine halbwegs realistische Position erreicht hatte. „Hmm, ja, so, das linke Beinchen noch abgeschnitten, damit es aussieht, als ob es hinter dem Wolkenkratzer da stehen würde – so müsste es gehen.“
Perfekt! Perspektive, Position und Farbtönung passten auf geradezu wunderbare Weise zusammen, als hätten diese beiden Bildelemente ihr ganzes kümmerliches Erdendasein darauf gewartet, von ihm endlich hier zu einer Fotomontage zusammengeführt zu werden. Das Glück des Tüchtigen! Jetzt musste er das Ganze nur noch fixieren, ein wenig retuschieren, hier einen Übergang geglättet, dort ein wenig nachgedunkelt, und dann in den Computer scannen. Mit dem Bildbearbeitungsprogramm könnte er dann die Feinarbeiten machen. Hernach würde kein Mensch mehr den so unterschiedlichen Motiven ihre wahre Herkunft ansehen, die Täuschung wäre perfekt, darauf verstand er sich. Und Fred wäre der Allerletzte, der etwas merken würde, der ist ja gar nicht in der Lage, auch nur im entferntesten seine Arbeit würdigen zu können. Kurt lächelte säuerlich, ja, Fred könnte man ohne mit der Wimper zu zucken die Tageszeitung von gestern auf den Tisch legen und erklären, dass es sich hierbei um das neueste Exposé über das künftige Herbstprogramm handeln würde. Er würde die alte Zeitung anstandslos akzeptieren und höchstens noch ein wenig über die „ein wenig großen Buchstaben auf der Vorderseite“ mäkeln. Dies allerdings eher, um seiner Rolle als betriebsintern vorgeschobener Vormäkler gerecht zu werden, denn aus Einsicht in irgendwelche typographischen Zusammenhänge.
Es schlug punktgenau halb zwei, als er Fred Schwiemler seinen Entwurf auf den Tisch legen konnte. Das heißt, er hätte ihn ihm punkt halb zwei auf den Tisch legen können, wenn Fred in seinem Büro gewesen wäre.
Irgendwie hatte er genau das erwartet. Kurt machte sich eine Notiz und dann schnellstmöglich wieder aus dem Staub. „Das musste ja so kommen“, dachte er. Vorgesetzte liebten es ja, ihre Mitarbeiter bei jeder Gelegenheit erst einmal gehörig auf Trab zu bringen, um sie dann fachgerecht ins Leere laufen zu lassen. Aber er würde Fred nicht den Gefallen tun und dessen von ihm angeforderten Unterlagen einfach auf seinen Schreibtisch ablegen. Die musste er sich schon höchstpersönlich bei ihm abholen. Man hat ja schließlich auch seinen Stolz. (Ein Stolz, der zumeist größer als man selbst ist und deshalb nicht selten mit dem Kopf an die Decke stößt. Ein Dickkopf, ein Holzkopf, der auf Holz k[l]opft! Haha!)
Er ging zu seinem Büro am Ende des Flurs zurück. Irgendwie war Kurt doch erleichtert, dass Fred nicht da war, um mit ihm über sein Ameisenexposé zu diskutieren. Obwohl Fred nicht die geringste Ahnung davon hatte, was für eine Arbeit es bedeutete, auf die Schnelle eine ansprechende und – wie hatte er doch gleich sich nicht entblödet zu sagen: eine „tabellenkalkulatorisch brauchbare“ Vorlage zu erstellen, fand er dennoch oder gerade deswegen stets irgendeinen Mückenfurz, an dem er herumkritisieren konnte, auch wenn jedes einzelne von ihm dazu geäußerte Wort ihm seine eigene abgrundtiefe Inkompetenz in Gestaltungsfragen in geradezu exemplarischer Weise vor Augen führen musste. Er stellte sich bei diesen Gelegenheiten blubbernder Mäkelei immer eine Sprechblase über seinem Kopf vor, die bei jedem begonnenen Satz in signalroter Schrift „Achtung! Akute Verbaldiarrhöe!“ auf kackbraunem Untergrund aufleuchten ließ. Das Lächeln, das daraufhin über Kurts ansonsten unschuldige Miene strich, übersah Fred entweder geflissentlich oder er nahm es gar nicht erst wahr, wenn er seinen entrückten Silberblick in die Ferne schweifen ließ, um nach den passenden Worten zu suchen, die seine Unfähigkeit, was Typographie und Gestaltungsfragen anbelangte, mit möglichst exotischen Wortkombinationen verschleiern sollte. Manchmal gelangen ihm dabei auf diese Weise geradezu lyrische Momente: „Diese Schrift atmet eine irgendwie larmoyante Paranoia, findest du nicht auch?“
Das waren so Augenblicke, in denen er am liebsten auf der Stelle lauthals schreiend, wild gestikulierend und türenschlagend den Raum verlassen hätte, um hinfort eine Karriere bei der Müllabfuhr anzustreben.
Sein Blick fiel auf die Überreste des seltsamen Insekts, das sein kurzes Leben auf seinem Schreibtisch ausgehaucht hatte. Kurt kannte sich mit Insekten nicht allzu gut aus, aber er war sich sicher, dass er ein solches Exemplar noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Es besaß einen ziemlich langen, spindelförmigen Körper wie der einer Heuschrecke, hatte aber nur – tatsächlich! – vier Beine und zwei ziemlich lange Fühler, die jedoch durch die Gewalt seines zusammenrutschenden Papierstapels geknickt waren. Sehr zäh scheint dieses Viech ja nicht zu sein, dass ihm so ein paar Blätter Papier bereits den Garaus zu machen vermögen. Er nahm ein frisches DIN-A4-Blatt aus der Ablage und schob mit dem Deckel des Klebestiftes die schmutzig-braunen Überbleibsel darauf, um sie aus dem Kippfenster zu werfen.
„Tut mir wirklich leid, mein Freund. Aber was verfügst du dich auch unvorsichtigerweise in den Wirkungskreis eines kreativ schaffenden Geistes?“