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Sie schluckte. Langsam ließ sie die Hand mit der Waffe sinken. Ich blickte nicht die Pistole an, nur das Mädchen. Es lohnte sich, sie anzuschauen.

Ihre großen graugrünen Augen waren kaum merklich angeschrägt. Sie gaben ihr ein leicht katzenhaftes Aussehen – aber es war die Schönheit einer Raubkatze, exotisch, fremd und fesselnd. Die hoch angesetzten Wangenknochen betonten diesen Eindruck. Der Mund bildete dazu einen seltsamen Kontrast, er war voll, naiv und kindlich.

Sie trug ein loses fallendes Kleid aus weißem Stoff. Mir schien es fast so, als hätte sie Stoff und Modell mit klugem Vorbedacht gewählt. Es war genau das richtige, um ihre klassischen Formen besonders geschickt herauszuarbeiten. Strümpfe trug sie nicht. Die Beine waren lang und vollkommen. Die weißen, hochhackigen Pumps waren vorn offen, sodass man die rot lackierten Nägel sehen konnte.

„Annabelle!“, sagte Frau Roding hinter mir. Ihre Stimme war jetzt so scharf wie ein Fleischmesser.

„Was soll dieser Unsinn? Was tust du mit der Pistole?“

„Ich – ich habe sie in der Schublade gefunden“, erwiderte das Mädchen und wies hinter sich auf eine Kommode, deren oberste Lade herausgezogen war. „Ich nahm sie heraus und ließ sie fallen. Entschuldige, bitte!“

„Das ist Annabelle, unsere Tochter“, sagte Frau Roding säuerlich. Sie griff nach der Klinke und schloss die Tür vor meiner Nase. „Werden Sie mich anrufen, sobald Sie etwas erfahren?“

Ich nickte, weil es mir die Sprache verschlagen hatte. Es ist im Allgemeinen nicht leicht, mich zu verblüffen, aber die Tatsache, dass das junge, umwerfend schöne Mädchen von dieser Mutter stammte, gab meinem Reaktionsvermögen doch einen heftigen Stoß.

Frau Roding ging entschlossen zu der Tür, die in die Diele führte und hielt sie mir offen. Es gab keinen Zweifel, dass sie mich loswerden wollte.

„Beinahe hätte ich’s vergessen“, sagte ich. „Können sie mir ein Foto jüngeren Datums von Ihrem Mann mitgeben?“

„Er hat sich in letzter Zeit nicht fotografieren lassen“, sagte sie.

„Sie müssen doch ein Foto von ihm haben!“

Frau Roding seufzte. Sie trat an einen hübschen, alten Sekretär, das einzige Möbelstück im Raum, das Stil und Format hatte. Zwischen der Möbeldiscounter Modernität der übrigen Einrichtung sah er wie ein Fremdkörper aus. Frau Roding wühlte in einem Fach herum, dann brachte sie mir ein Bild, auf dem Herr Roding vor einem Auto zu sehen war. Es war eine typische Amateuraufnahme, ein wenig unscharf und anscheinend mit einer einfachen Kamera gemacht.

Immerhin war zu erkennen, dass Herr Roding ein mittelgroßer, gutaussehender Mann war, der um die Hüfte herum zum Dickwerden neigte.

„Was ist das übrigens für eine Pistole?“, erkundigte ich mich.

„Sie gehört Bernd.“

„Wohnt Ihre Tochter bei Ihnen?“

„Nein. Sie ist verheiratet.“

„Ah – hier in Hamburg?“

Frau Roding musterte mich missbilligend. Ich merkte, dass sie an den Fragen keinen Gefallen fand.

„Ja“, sagte sie.

„Wann hat Ihre Tochter den Vater das letzte Mal gesehen?“, fragte ich.

„Vor einer Woche.“

„Wie heißt sie?“

„Grunert. Ist das denn so wichtig?“

„Seit wann ist sie verheiratet?“

„Seit acht Monaten. Hören Sie, Herr Cramer, ich sehe ein, dass das Fragen stellen zu Ihrem Beruf gehört, aber wäre es nicht nützlich, wenn Sie sich dabei auf die Dinge beschränken würden, die der Lösung des Falles dienen?“

Ich lächelte. „Ich kann mir nur dann ein genaues Bild von den Vorgängen machen, wenn ich mit den Familienverhältnissen vertraut bin.“

„Annabelle gehört nicht zur Familie!“, sagte sie barsch.

„Ich denke, sie ist Ihre Tochter?“

„Gewiss“, blaffte Frau Roding, „aber wir haben die Heirat mit Carsten Grunert nicht gebilligt. Annabelle lebt jetzt ihr Leben – und wir das unsere.“

„Ihre Tochter kommt doch her, um Sie zu besuchen, oder nicht?“

„Ich hatte sie angerufen“, erklärte Frau Roding. „Annabelle lässt sich oft wochenlang nicht bei uns sehen. Natürlich ist sie mir stets willkommen – solange sie darauf verzichtet, ihren Mann mitzubringen!“

„Sie haben sich mit ihm gestritten?“

„Dazu konnte es gar nicht kommen. Bernd und ich lehnen ihn ab, das ist alles.“

„Warum?“

„Das ist doch unwichtig! Es hat mit Bernds Verschwinden nichts zu tun – beruhigt Sie das?“

Ich nickte, obwohl meine Neugier geweckt war. Aber es hatte keinen Sinn, Frau Roding noch reizbarer zu machen. Ich bedankte mich für die Auskünfte und verließ die Wohnung.

Zu Fuß ging ich dann zur nächsten U-Bahn-Station. Ich sah mir jeden Laden, jedes Haus und jeden Kiosk an, die Herr Roding auf seinem Weg zur Station passieren musste.

Dann ging ich zurück und setzte mich in meinen Wagen. Ich stellte das Autoradio an und ließ mich von der Musik beeindrucken. Während ich mit der Hand auf dem Lenkrad den Rhythmus klopfte, behielt ich den Hauseingang im Auge, der genau drei Etagen unter der Rodingschen Wohnung lag.

Lange brauchte ich nicht zu warten. Als sie die Straße betrat, schien es fast so, als veränderte sich mit einem Schlag die Umgebung. Sie war eines jener Mädchen, deren Schönheit sofort in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Daneben wirkte alles andere grau, unwichtig und konturlos.

Schon die Art ihres Schreitens konnte sich sehen lassen. Einige Männer an einer Baustelle vergaßen bei ihrem Anblick das arbeiten und wandten die Köpfe, um ihr nachzublicken. Einer dieser Burschen pfiff ihr sogar frech hinterher.

Sie lief ungefähr fünf Meter als sie stehenblieb. Sie öffnete ihre Handtasche und benötigte einige Sekunden um einen Schlüssel herauszuholen. Ich sah, dass sie in einen cremefarbigen Mercedes stieg. Ich zerrte mein Notizbuch aus der Jackentasche und notierte mir das Kennzeichen. Als der Mercedes losfuhr, stieg ich aus, mein Magen knurrte laut und deutlich. Ich überquerte die Straße, betrat ein Schnellrestaurant und stellte mich brav am hinteren Ende der Warteschlange an. Als ich an der Reihe war gönnte ich mir ein Fastfood-Menü, welches in einer Schnelligkeit auf ein Tablett gezaubert wurde, das mich wirklich erstaunte. Ich bahnte mir einen Weg zu einem freien Tisch und quetschte mich auf die Bank. Anschließend rief ich mein Büro an. Malte Beck, mein Kollege, meldete sich. Ich sagte ihm, was beim Gespräch mit Frau Roding herausgekommen war. „Noch eins“, sagte ich. „Ich habe hier das Kennzeichen eines cremefarbigen Mercedes. Frau Rodings Tochter fährt ihn. Sie ist verheiratet und heißt Annabelle Grunert. Stelle bitte sofort fest, ob der Wagen ihrem Mann gehört und was dieser Grunert tut.“

Ich legte auf, biss in den Burger und schlürfte meine Cola dazu. Der Angestellte, der neben mir den Tisch wischte, war sommersprossig. Weder die abstehenden Ohren noch die wulstigen Lippen täuschten über die wache Intelligenz in seinen Augen hinweg. „Kennen Sie einen Herr Roding?“, fragte ich.

Er starrte mich an und schüttelte den Kopf. „Soll das ein Kunde sein?“

„Weiß ich nicht. Er wohnt dort drüben, genau gegenüber, in der Hausnummer52.“ Ich zeigte mit dem Finger auf das gegenüberliegende Haus.

„Ein Alter mit grauem Haar?“

Ich zeigte ihm Rodings Foto. „Kenn’ ich nicht“, antwortete er. „Nie gesehen.“

Ich glaubte ihm. Roding ging sicher nicht Burger essen oder geschweige ein Bier trinken. Eine Flasche Bier durfte er abends beim Fernsehen schlucken, mehr nicht. Da würde seine Frau schon aufpassen.

Zehn Minuten später stand ich an einem Zeitungskiosk, der auf Rodings Weg zur U-Bahn lag.

Der Mann im Kiosk war grauhaarig und mürrisch. Er war angezogen, als herrschte tiefer Winter. Fröstelnd, mit hochgezogenen Schultern, hörte er mich an.

„Sicher kenne ich ihn“, meinte er. „Jeden Morgen kauft er bei mir das Hamburger Abendblatt.“

„Wann war er das letzte Mal hier?“

„Vor zwei oder drei Tagen. Genau weiß ich’s nicht.“

„Er ist seit vorgestern verschwunden. Können Sie sich erinnern, ihn an diesem Tag gesehen zu haben?“

Er überlegte. „Lassen Sie mich mal nachdenken. Vorgestern? Nee – da habe ich ihn nicht zu Gesicht bekommen.“ Ich bedankte mich und ging. An der nächsten Straßenecke, auf halbem Weg zur U-Bahn-Station, war ein Taxistand. Ich erkundigte mich bei den Fahrern, ob sie an dem betreffenden Morgen einen Mann befördert hatten, der wie Roding aussah. Sie verneinten. „Sie können ja Menninger noch mal fragen, der ist gerade mit einem Kunden unterwegs. Er muss in einigen Minuten zurück sein“, sagte einer der Männer. Ich nickte und wartete.

Menninger ließ nicht lange auf sich warten. Er war ein kleiner, ziemlich clever aussehender Bursche mit einer roten Narbe an der Wange. Unter der kurzen, schwarzen Lederjacke trug er ein kariertes Sporthemd.

Er wurde über Funk von seinen Kollegen informiert und wusste bereits, worum es ging.

„Ja, ich habe den Alten gefahren“, sagte er.

Ich wollte ganz sichergehen, dass er den richtigen meinte, und zeigte ihm das Bild.

„Ja, das ist er“, sagte er.

„Wissen Sie noch was er anhatte?“

„Eine graue Hose und ’ne gestreifte Krawatte“, erwiderte er prompt.

„Ist er hier zugestiegen?“

„Ja. Ich brachte ihn zum Flugplatz Uetersen.“

„Was hatte er bei sich?“

„Nur so ein Ökobeutel. Den hat er dann beim Aussteigen im Wagen vergessen. Es waren nur ne Tupperdose und ein bisschen Obst drin ...“

„Haben Sie unterwegs mit ihm gesprochen?“

„Nichts Besonderes. An dem Morgen regnete es, und wir wechselten einige Worte wegen des Wetters – sonst kam es zu keiner Unterhaltung.“

„Hatten Sie das Gefühl, dass er in Eile war? Oder drängte er Sie, schnell zu fahren?“

„Er war bestimmt nicht in Eile – dafür hat unsereiner ein Gespür.“

„Wurde er am Flugplatz von jemanden erwartet?“

„Schon möglich, aber ich habe niemanden gesehen. Ich hielt direkt am Terminal und er ging darauf zu. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.“

Ich ging zurück zu meinem Wagen. Es war also keine Entführung. Ein alternder Mann hatte sich plötzlich entschlossen, die Zwangsjacke seines grauen Alltags abzustreifen. Der Himmel mochte wissen, wie lange der Plan dazu schon in ihm gereift war. Möglicherweise hatte er seit Jahren darauf hingearbeitet und Euro für Euro zur Seite gebracht.

Der Rest war Routine. Es konnte nicht schwerfallen, auf dem Flugplatz zu erfahren, wohin Herr Roding gereist war. Bernd Roding war keinem Unfall zum Opfer gefallen. Er hatte sich, wie es schien, einem Druck entzogen, dem er nicht länger gewachsen war. Merkwürdig war eigentlich nur, dass ausgerechnet ein so pedantisch-genauer Mensch wie Roding auf diese Weise reagiert hatte.

Ich kramte mein Handy aus der Jackentasche und rief das Büro an. Malte meldete sich. Ich sagte ihm, was ich in Erfahrung gebracht hatte. „Damit wird sich Herr Hartmann nicht zufriedengeben“, meinte Malte. „Wir müssen herausfinden, wohin Herr Roding gereist ist. Wenn er nur einige hundert Euro zur Seite gebracht hat, wird er schon bald gezwungen sein, Geld zu organisieren.“

„Glaubst du im Ernst, ihm würde es einfallen, gefälschte ID-Karten oder ähnliches an Kriminelle zu verhökern?“, fragte ich.

„Nein, das glaube ich nicht – aber wir müssen wissen, was aus ihm wird.“

„Schon gut, das erledige ich. Gibt’s sonst was?“

Malte hatte die Adresse der Grunerts herausgefunden. Carsten Grunert, Hamburg-Bergedorf, August-Bebel-Straße31, Besitzer eines Wettbüros, nicht vorbestraft.

Ich bedankte mich und klappte das Handy zu. Die Inhaber von Wettbüros verkörpern einen ganz bestimmten Typ – zumindest in Hamburg, Berlin und Köln. Da sie das Geld sehr leicht verdienen, fällt es ihnen nicht schwer, es ebenso leicht wieder auszugeben. Im Allgemeinen sind sie großspurig und selbstsicher, eitel, gerissen und knallhart. Und fast immer arbeiten sie mit irgendeiner Verbrecherorganisation zusammen.

Ich fuhr nach Hamburg-Bergedorf. Es war sechszehn Uhr zwanzig, als ich meinen Audi Coupé unweit des Hauses August-Bebel-Straße31 in eine Parklücke klemmte. Sofort war ein Haufen halbwüchsiger Bengels zur Stelle, die mich beim Aussteigen mit gezielten, sachkundigen Fragen nach dem Leistungsgewicht und der Kolbengeschwindigkeit meines Flitzers bombardierten.

Ich leierte die Daten herunter, die sie interessierten. Dann brach zwischen ihnen plötzlich ein Streit aus, der sich auf den Wert oder Unwert oben gesteuerter Maschinen bezog. Ich nutzte die günstige Gelegenheit und machte mich aus dem Staube.

Dem Haus August-Bebel-Straße31 sah man an, dass seine Erbauer nicht gespart hatten. Das äußerte sich schon in der Fassade, die bis zum 4. Stockwerk mit Marmorplatten verkleidet war, sowie in der großen, klimatisierten Halle, in deren Mitte ein kitschig illuminierter Springbrunnen plätscherte – und ebenso gewiss in den hohen Mieten, die hier für das Wohnprivileg gefordert wurden.

Der Lift katapultierte mich in die 3. Etage. Die Wohnungstür der Grunerts war elfenbeinfarben lackiert. Das blankgeputzte Namensschild aus Messing hob sich vorteilhaft davon ab. Ich klingelte. Niemand machte auf. Ich klingelte ein zweites Mal. Ohne Erfolg. Ich legte mein Ohr an die Wohnungstür, in der Hoffnung, irgendein Geräusch zu hören, aber es war mucksmäuschenstill. Ich machte kehrt und wartete auf den Lift, der inzwischen wieder nach unten gefahren war. Als ich ihn wenig später betrat, stellte ich fest, dass man mit dem Lift bis in den Keller fahren konnte; Das G auf dem Knopf machte klar, dass das Haus im Keller eine Garage hatte. Ich glitt in den Keller.

Er war groß und kühl. In den nur durch Farbstriche markierten Boxen standen nicht sehr viele Wagen. Um diese Zeit waren die meisten Autobesitzer unterwegs, in ihren Büros und Geschäften. Es war nicht gerade sehr hell in dieser Garage, denn hier und da waren einige Neonlampen defekt oder flackerten wie wild vor sich hin. Einige funktionierende Lampen an der Decke versuchten etwas Helligkeit zu verbreiten, was ihnen aber mehr schlecht als recht gelang. Immerhin sah ich den cremefarbigen Mercedes der Grunerts. Ich ging darauf zu. Als ich mich auf ein halbes Dutzend Schritte genähert hatte, verlangsamte ich mein Tempo. Trotz des schummrigen Lichts sah ich, dass etwas aus dem Wagenheck tropfte.

Öl?

Dort, wo die Tropfen herkamen, gab es keine Schmierstellen. Die Tropfen schillerten im Licht der Neonröhren, die an der betonierten Kellerdecke hingen.

Ich merkte, wie mich ein leises Frösteln überlief. Wieder fiel ein Tropfen nach unten.

Es war Blut.

Alstermorde: 9 Hamburg Krimis

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