Читать книгу Alstermorde: 9 Hamburg Krimis - Hans-Jürgen Raben - Страница 48
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ОглавлениеDas warf mich fast um.
„Sie ist seit einem dreiviertel Jahr verheiratet“, sagte ich. „Sie wohnt nicht mehr Zuhause.“
„Tatsächlich? Seltsam – er hat so oft von seinem Zuhause gesprochen, aber von Kindern war dabei niemals die Rede.“
Ich massierte mir das Kinn und dachte an das, was ich bei meinem Besuch in der Rodingschen Wohnung bemerkt hatte – die Tatsache, dass das Mädchen den Eltern nicht ähnlichsah, und der Umstand, dass es Frau Roding verdächtig eilig hatte, mich loszuwerden.
Mir dämmerte, dass der Fall Roding nicht so einfach gelagert war, wie er sich bei einer ersten flüchtigen Betrachtung darstellte.
Ich dachte an das Blut, das aus dem Mercedes getropft war, und an den Mann, der versucht hatte, mich mithilfe des Wagens ins Jenseits zu befördern. Ich dachte an den Portier, der so ausweichende Antworten gegeben hatte, an die Pistole, die in Annabelle Grunerts Hand gewesen war. Ich versuchte alle diese Dinge mit Rodings Verschwinden in Zusammenhang zu bringen, aber das gelang mir nicht.
Ich wollte Herr Breisinger zu seiner Frau bringen, aber er wollte nichts davon wissen. Schließlich öffnete er die Wagentür.
„Sie haben mir sehr geholfen“, sagte ich.
„Ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung!“, meinte er und stieg aus. „Sie wissen ja jetzt, wie sehr ich Herrn Roding schätze.“ Im nächsten Moment war er im Strom der Passanten verschwunden. Ich fuhr zurück nach Hamburg-Bergedorf. Als ich das Haus August-Bebel-Straße31 betrat, war der Portier nicht in der Glasbox.
Ich fuhr mit dem Lift nach oben ins 3. Stockwerk und klingelte an Grunerts Tür. Ein großer, dunkelhaariger Mann öffnete. Ich wusste sofort, dass es Carsten Grunert war – er entsprach genau der Vorstellung, die ich von Leuten seiner Berufsgruppe hatte.
Er lächelte mir verbindlich in die Augen, aber das Lächeln beschränkte sich auf seine Lippen. Die Augen blieben kühl und wachsam.
„Bitte?“, fragte er.
„Cramer vom LKA“, sagte ich. „Darf ich Sie sprechen?“
„Kommen Sie nur herein!“, meinte er in scheinbar guter Stimmung. „Es geht sicher um meinen hochverehrten Schwiegerpapa, was? Ein tolles Ding! Ich hätte dem Alten nie zugetraut, dass er mal den Mut findet, seiner Xanthippe Auf Wiedersehen zu sagen.“
Ich trat über die Schwelle, und er schloss hinter mir die Tür.
„Wenn er das mal getan hätte!“, meinte ich.
Grunert lachte. Es war ein sehr herzhaftes Lachen, ohne falsche Untertöne. Aber er war genau der Mann, der so etwas auf Bestellung produzieren konnte.
„Das Tschüss-Sagen, meinen Sie? Ich kann’s dem Alten nicht verdenken, dass er darauf verzichtet.“
Er lachte abermals. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ihn das in meiner Achtung erhöht! Nehmen Sie einen Drink, Herr Cramer?“
Ich blickte mich im Wohnzimmer um. Die Einrichtung war gut und teuer, selbst der kleinste Gegenstand war auf Effekt und Wirkung berechnet. In einer Ecke befand sich die Hausbar. Ihre Bestände konnten mit dem Flaschenangebot der exklusivsten Spirituosenhandlung konkurrieren.
Es war Nachmittag, ein kleiner Whisky konnte nicht schaden. Grunert gehörte zu den Leuten, mit denen es sich am besten bei einem Drink unterhält.
„Bourbon oder Scotch?“, fragte er.
„Scotch“, sagte ich.
„Machen Sie sich’s bequem!“, meinte er und trat hinter den Tresen der Hausbar. Ich setzte mich und sah zu, wie er die Gläser mit Whisky und Eis füllte. Er blinzelte mir zu. „Beim Soda pflege ich gern zu beweisen, dass ich auch sparen kann. Soll ich’s Ihnen mal vorzuführen?“
Ich nickte. Er gab ein paar Spritzer Soda dazu – fast, als ob sich’s um Angostura handle. Dann brachte er die Gläser und setzte sie auf dem niedrigen, gläsernen Beistelltisch ab, dessen Fuß aus einem quadratischen, polierten Marmorblock bestand. Er nahm mir gegenüber in einem Sessel Platz.
„Prost!“, sagte er und hob das Glas. Wir tranken. Der Whisky war gut, aber Grunerts Laune schien fast noch besser zu sein.
Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und bot mir einen Glimmstängel an.
„Zigarette?“
Da ich nach meiner Versetzung von Berlin nach Hamburg vom Nichtraucher wieder zum Raucher mutiert war, nahm ich dankend an. Er lachte glucksend, gab mir Feuer und steckte sich anschließend seine Zigarette an. „Wirklich, ich könnte quieken vor Vergnügen! Wenn ich mir das Gesicht vorstelle, das meine liebreizende Schwiegermama gezogen haben muss, als der brave Bernd nicht nach Hause zurückkehrte ...“
„Sie scheinen die Geschichte recht amüsant zu finden“, sagte ich.
„Und ob!“, nickte er grinsend. „Sie haben doch Frau Roding kennengelernt, nicht wahr? Nun mal ganz offen – unter uns Männern! Wären Sie diesem Schreckgespenst nicht schon längst auf und davon gelaufen?“ Glücklicherweise erwartete er keine Antwort, denn er sprach ohne Punkt und Komma weiter.
„Nicht, dass es ihr an gewissen Meriten fehlte! Sie ist eine vorzügliche Hausfrau. Bei ihr läuft alles wie am Schnürchen – aber an einem dieser Schnürchen hatte sie auch ihren Bernd. Manche Männer finden sich damit ab, ich war sicher, dass das auch auf ihn zutraf, und dann, gleichsam über Nacht, entdeckte er ein Mittelchen, das rosarote Band zu zerreißen. Ich find’s prima, ganz ehrlich! Hoffentlich wird er nicht weich und kehrt reumütig zurück! Das würde ich ihm nie verzeihen.“
„Ihre Beziehungen zu den Schwiegereltern scheinen nicht sehr eng zu sein.“
„Sie sind so unterkühlt wie ein Urwaldsaurier im ewigen Eis!“, sagte er. „Die Rodings hassen mich ...“
„Warum?“
„Weil sie einen Spleen haben. Anscheinend bin ich ihnen für Annabelle nicht gut genug.“
„Das verstehe ich nicht. Ihnen geht’s doch sicherlich blendend?“
„Blendend ist das richtige Wort! Ich bin kein Millionär, wissen Sie, und es besteht auch nicht die geringste Aussicht, dass ich’s jemals werde, aber es geht mir eben gut.“
„Mir ist vorhin im Keller eine merkwürdige Sache passiert. Gewiss haben Sie schon davon gehört...“
Er blickte mich erstaunt an.
„Was soll ich gehört haben? Ich bin drei Minuten vor Ihnen ins Haus gekommen, ich weiß von nichts.“
„Augenblick, bitte“, sagte ich. „Ich muss mal mit dem Portier sprechen. Können Sie mich mit ihm verbinden?“
„Sicher – aber wollen Sie mir nicht erst erklären, was im Keller los war?“
„Aus dem Mercedes Ihrer Frau tropfte Blut.“
„Soll das ein Witz sein?“
„Wenn Sie mir nachweisen können, dass es sich um ein Glas ausgelaufener Erdbeerkonfitüre gehandelt hat, bin ich gern bereit, die Sache als Witz zu akzeptieren.“
„Blut!“, murmelte er und rieb sich das Kinn, als müsste er den Bartwuchs prüfen.
„Fantastisch! Was haben Sie getan, als Sie das – das Blut sahen?“, fragte er stockend.
„Ich kam gar nicht dazu, etwas zu tun. Das übernahm ein anderer für mich – ein bulliger Bursche, der mich mit einem Schlagring zu Boden schickte.“
„Das hört sich an wie eine Räubergeschichte!“
„Genau das ist es – wenn nicht etwas noch Schlimmeres“, sagte ich. „Die Sache mit dem Schlagring und dem Knock-out schien ihn nicht voll zu befriedigen. Er versuchte nämlich anschließend, den Mercedes über mich hinweg rollen zu lassen.“
„Das wäre ja ein glatter Mordversuch!“
„Wäre?“, fragte ich. „Das war es!“
„Wie konnte der Kerl in den Wagen reinkommen?“, fragte Grunert und starrte mich an.
„Ich schärfe Annabelle immer ein, die Türen abzuschließen!“
„Apropos Annabelle“, sagte ich. „Wo ist Ihre Frau?“
Er schaute auf die Uhr. „Meistens ist sie um diese Zeit zu Hause.“ Er schluckte.
„Lieber Himmel“, flüsterte er kaum hörbar. „Sie glauben doch nicht etwa, dass sie ...“
Er nestelte sein Handy aus der Hosentasche und tippte eine Nummer ein. „Sie geht nicht ran, verdammt Annabelle, geh ran“, grunzte er ins Telefon.
Ich schwieg. Er kippte die Hälfte des Whiskys mit einem Schluck hinab und legte sein Handy auf den Tisch. „Da muss doch etwas geschehen!“, sagte er und stand auf. „Der Wagen muss gefunden werden.“
„Das ist bereits in die Wege geleitet“, versicherte ich ihm.
Er ließ sich wieder in den Sessel fallen. Es sah aus, als hätte ihm jemand die Beine weggezogen.
„Blut! Und ein Killer, der mit dem Wagen auf und davon gefahren ist...“
Er schaute mich an. „Er ist doch weggefahren, oder?“
„Ja, schneller als ein Blitz“, sagte ich.
„Verdammt, ich ahne Böses! Es muss eine andere Erklärung geben!“, murmelte er. „Das Blut kann nicht von Annabelle stammen.“ Er legte die Hände vors Gesicht und lehnte sich zurück.
„Würden sie mich jetzt bitte mit dem Portier verbinden?“, fragte ich.
Er ließ die Hände sinken und blickte ins Leere.
„Ich kann nicht“, murmelte er und wies mit dem Kopf zum Telefon. „Dort steht der Apparat. Bitte, bedienen sie sich! Manni ist unter der Nummer 9 erreichbar.“
Ich stand auf und trat ans Telefon, um die angegebene Nummer zu wählen. Der Portier meldete sich. „Cramer“, sagte ich. „Ich bin vor ein paar Minuten durch die Halle gegangen, Sie waren nicht in der Box.“
„Ich war im Keller“, erklärte er. „Zusammen mit der Polizei. Sie haben das Blut abgekratzt und mitgenommen. Der Polizist hatte allerhand Fragen.“
„Sind die Beamten jetzt weg?“
„Ja.“
„Vielen Dank“, sagte ich und hängte auf.
„Wenn ich bloß wüsste, wo Annabelle ist!“, sagte Grunert. Er hatte die Stirn in Falten gelegt. Sein rechtes Augenlid zuckte nervös. Ich nippte an dem Glas. Der Whisky hatte genau die richtige Temperatur.
„Warum glauben Sie, dass Ihrer Frau etwas zugestoßen sein könnte?“, erkundigte ich mich.
Er schaute mich an. „Man kann nie wissen“, meinte er. „Bis jetzt dachte ich, Bernd Roding habe einfach die Kurve gekratzt, und das sei alles. Ihr Bericht krempelt alles um. Auf einmal sehen die Dinge viel gefährlicher aus. Vielleicht ist irgendein Verrückter auf die Idee gekommen, alle Rodings auszurotten!“ „Das klingt reichlich überspannt, finden Sie nicht?“
„Das, was Ihnen zugestoßen ist, nicht minder – oder?“
Ich beschrieb ihm den Mann, obwohl ich mir nichts davon versprach. Er hörte genau zu. Das Zucken des rechten Lides verebbte. Mir schien es so, als würden sich seine Muskeln spannen.
„Sie kennen ihn?“, fragte ich.
„Ich weiß nicht – in dem Billstedter Wettbüro treibt sich natürlich allerhand Gesindel herum“, meinte er ausweichend. „Irgendwie scheint die Beschreibung auf einen Burschen zu passen, der manchmal in meinem Laden aufkreuzt, aber das kann eine zufällige Ähnlichkeit sein. Wenn er das nächste Mal kommt, versuche ich ihn aufzuhalten. Ich rufe Sie dann an – okay?“
„Okay“, sagte ich.
„Sie sind sicher, dass Blut aus dem Heck getropft ist?“, begann er von vorn.
„Ziemlich sicher.“
„Ich kann es mir einfach nicht erklären“, murmelte er. „Wenn ich bloß wüsste, wo Annabelle steckt!“
Ich hatte das Gefühl, dass er mir irgendetwas verbarg. Was bedrückte und marterte ihn? War es wirklich nur die Sorge um seine Frau?
Das Telefon klingelte. Er zuckte zusammen und warf einen Blick auf den Apparat. Ich sah die plötzliche Angst in seinen Augen und streckte die Hand aus, um den Hörer aufzunehmen. Ich reichte ihm den Hörer. „Grunert“, meldete er sich. Ich ging zu dem Sessel zurück und setzte mich.
„Ja – nein“, sagte Grunert. „Ich habe Besuch. Wie bitte? Gut, ich will versuchen, den Betrag zu platzieren – ja ja, schon gut!“ Er hörte noch eine volle Minute auf das, was der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung sagte, dann stand er auf und legte den Hörer weg, ohne ein Wort des Abschieds geäußert zu haben. Sein Gesicht hatte sich verdüstert. Ich merkte, dass es ihn viel Mühe kostete, die Fassung zu bewahren. „Das war mein Partner“, bemerkte er.
„Sie haben einen Partner?“
„Ja, wussten Sie das nicht? Die Firma heißt Fulmer & Grunert“, sagte er und nahm wieder Platz.
„Wie geht das Geschäft?“
„Wir sind zufrieden.“
„Hat Esposito die Finger in Ihrem Laden?“
Lorenzo Esposito war der Boss eines Verbrecherrings, von dem man wusste, dass er einen großen Teil des illegalen Wettgeschäftes kontrollierte. Er versuchte auch, die konzessionierten Wettbüros in den Griff zu bekommen.
„Nein“, sagte Grunert. „Wie kommen Sie denn darauf? Wir haben es nicht nötig, krumme Geschäfte zu machen.“
„Schon möglich. Aber Esposito hat es nötig. Er lebt davon, es ist die Grundlage seiner Existenz. Wir wissen, dass er vor keinem Mittel zurückschreckt, um die legalen Wettbüros zu unterwandern.“
„Bei uns hat er damit kein Glück“, versicherte Grunert und schob das Kinn nach vorn.
„Hat er’s schon mal versucht?“
„Das dürfen Sie mir glauben.“
„Haben Sie Anzeige gegen ihn erstattet?“
„Nein, das ging nicht. Die Sache erschien uns zu trivial“, meinte er.
„Trivial nennen Sie das? Das LKA versucht seit langem, Esposito das Handwerk zu legen. Solange uns niemand mit Zeugenaussagen unterstützt, ist die Aussicht auf Erfolg nur gering.“
Grunert zuckte die Schultern. Er sah blass aus. „Esposito ist ein Mann, den man sich nicht zum Gegner macht“, erklärte er mit wachsender Nervosität. „Außerdem ist er gerissen. Esposito schiebt stets Strohmänner vor – man kann ihn hinter gewissen Aktionen bloß vermuten. Aber warum sprechen wir über ihn? Warum sind Sie hier? Interessieren Sie sich für meinen verschwunden Schwiegervater oder für Esposito?“
„Ich bin an allem interessiert, was in meine Kompetenz fällt. In erster Linie gilt mein Besuch dem Verschwinden von Herr Roding.“
„Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr darüber sagen. Da mich die Alten nicht mögen, hatte ich niemals Gelegenheit, sie richtig kennenzulernen. Würden Sie mich jetzt bitte allein lassen? Ich – ich muss mir das Ganze in Ruhe überlegen!“
Ich stand auf. „Wann kann ich Ihre Frau sprechen?“
„Meinetwegen heute Abend. Soll ich ein Treffen für Sie vereinbaren?“
„Mal sehen. Ich rufe vorher an.“
„Wie Sie wünschen“, meinte er. Wir erhoben uns. Er brachte mich durch die Diele zur Wohnungstür.
„Hier ist die Telefonnummer meines Büros“, sagte ich und gab ihm eine Karte. „Verständigen Sie mich bitte, sobald etwas passiert!“
„Was soll denn passieren?“, fragte er nervös und steckte die Karte ein.
„Es gibt Fälle, die sich wie Kettenreaktionen fortpflanzen“, sagte ich. „Etwas passiert immer.“
Er zwang sich zu einem Grinsen. „Wollen Sie mir Angst machen?“, fragte er.
Ich blickte ihn an und bemerkte die feinen Schweißperlen an seinem Haaransatz.
„Ich fürchte, das ist gar nicht mehr nötig“, sagte ich und ging.