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4. Kapitel


Drei Tage später saß Tanja Hilbinger in einem der bequemen Sessel des riesigen Wohnzimmers und sah hinaus in die winterliche Landschaft. Sie genoss das Alleinsein, den spektakulären Blick auf die Stubaier Alpen und das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben.

Notarzt und Polizei hatten am Heiligen Abend eine gute halbe Stunde gebraucht, bis sie das Chalet erreichten. Für eine Weile herrschte hektische Betriebsamkeit, sie spielte die trauernde Witwe und erhielt von allen Anwesenden Beileidsbekundungen. Irgendwann war der Spuk vorbei, die Leiche abtransportiert, die Befragung beendet, und Tanja hatte in aller Ruhe die Flasche Champagner ausgetrunken.

Am nächsten Morgen hatte sie Anton, den Chauffeur, angerufen, der seinerseits das Ehepaar mobilisiert hatte, das sich um das Haus kümmerte. Tanja konnte sich den Namen des Paares einfach nicht merken. Jedenfalls hatten die beiden wieder für Ordnung gesorgt und Essen vorbereitet, das Tanja einfach nur in die Mikrowelle schieben musste.

Anschließend hatte sie das Personal nach Hause geschickt und jede weitere Hilfe abgelehnt, da sie die erste Trauerphase allein durchmachen wollte, wie sie erklärt hatte. Als Anton sie gefragt hatte, ob er noch irgendetwas für sie tun könnte, hätte sie ihn am liebsten am Arm genommen und in ihr Schlafzimmer gezerrt, doch das wäre wohl reichlich unangebracht gewesen.

Während sie jetzt in den bewölkten Himmel starrte, ordnete sie ihre Gedanken. Sie hatte beschlossen, noch über Neujahr zu bleiben, um über alles gründlich nachzudenken. Wenn Anton sie gleich im Neuen Jahr nach München zurückgebracht hatte, wollte sie als Erstes den Anwalt ihres Mannes aufsuchen, um den Nachlass zu regeln.

Ihr war klar geworden, dass ihr als Ehefrau das gesamte Erbe zustand. Ihres Wissens gab es keine Kinder. Rolfs Eltern waren schon vor Jahren gestorben, und von anderen Verwandten hatte er nie etwas erzählt. Sie hatte keine Ahnung über den Umfang des Vermögens, doch es musste beträchtlich sein. Das würde ihr der Anwalt alles erklären können. Einen Ehevertrag gab es nicht. So etwas hatte Rolf nie für nötig gehalten. Es gab also niemanden, mit dem sie das Erbe hätte teilen müssen. Es war ein erregendes Gefühl.

Sie würde den Anwalt beauftragen, die Firmenbeteiligungen zu verkaufen. Mit irgendwelchen Geschäften wollte sie sich gar nicht erst abgeben. Die Aktien und sonstigen Vermögenswerte würde sie behalten. Auf den Inhalt mehrerer Schließfächer war sie gespannt, die ihr Mann bei verschiedenen Banken in München gemietet hatte. Wie sie ihn einschätzte, hatte er dort jede Menge Schwarzgeld deponiert.

Sollte sie überhaupt in München bleiben? Jetzt stand ihr die Welt offen. Sie konnte hingehen, wohin sie wollte. Doch das hatte noch Zeit – erst mal eins nach dem anderen.

Es klingelte.

Tanja schreckte hoch. Wer konnte das sein?

Sowohl Anton als auch das Ehepaar besaßen Schlüssel. Dann fiel ihr ein, dass sie im Unterbewusstsein ein Auto gehört hatte.

Sie stand auf und stellte sich vor einen Spiegel. Sie war blass, ungeschminkt und ungekämmt, gerade richtig für eine trauernde Witwe. Auch die Freizeitklamotten waren durchaus passend, fand sie.

Sie ging zur Haustür. Durch das geriffelte Glas erkannte sie den Umriss einer Frau, die ungeduldig erneut lange auf die Klingel drückte.

„Ich komm’ ja schon“, murmelte sie, gab den Code für das Abschalten der Alarmanlage ein und schloss die Tür auf. Die Kältewelle traf sie unvorbereitet, und Tanja zuckte zurück.

Vor ihr stand eine attraktive Frau, älter als Tanja, aber eine echte Schönheit, wie sie neidvoll feststellen musste. Schwarze Haare bis auf die Schultern, leicht schräg gestellte Augen unter langen Wimpern, ein klassisches ovales Gesicht mit einer kleinen Nase über einem dezent geschminkten Mund. Die zierliche Gestalt war in einen Pelzmantel gehüllt, den sie mit einer Hand am Hals zusammenhielt. An der anderen Hand hing eine große Handtasche, die fast bis zum Boden reichte.

Sie starrten sich sekundenlang gegenseitig an, ehe Tanja das Gespräch eröffnete. „Wer sind Sie?“

„Esser ist mein Name. Julia Esser.“

Tanja lachte kurz auf. „Esser? Ist ja komisch. Genau wie mein Mann Rolf Esser?“

Die Besucherin zuckte mit keiner Wimper. „Ich bin die Frau von Rolf Esser.“

Tanja fühlte sich, als hätte sie der Schlag getroffen. Sie taumelte zurück. „Wie bitte?“, krächzte sie.

Die Fremde drängte sich an ihr vorbei.

„Was soll der Unsinn? Was haben Sie hier zu suchen? Sie haben hier drinnen nichts verloren!“

Die andere Frau lächelte verkniffen. „Ich denke, schon. Doch Sie halten sich unerlaubt in meinem Haus auf.“

Tanja war völlig verwirrt. „Ich verstehe überhaupt nichts.“

Die Fremde ging ins Wohnzimmer, als würde sie sich hier bestens auskennen. „Setzen wir uns, dann werde ich Ihnen alles erklären.“

In Tanjas Kopf rasten die Gedanken. Was hatte das alles zu bedeuten? War Rolf ein Bigamist? Hatte er eine zweite Frau geheiratet? SIE war doch Rolfs Frau. SIE hatte ihn in Las Vegas geheiratet! Das musste alles ein furchtbarer Irrtum sein.

Die andere Frau ließ ihren Pelzmantel von den Schultern gleiten und warf ihn über eine Sessellehne. Darunter trug sie ein Kostüm, das offensichtlich von Chanel stammte. Um den Hals trug sie eine dünne Goldkette mit einem ziemlich großen Brillanten als Anhänger. An den Handgelenken glitzerte Goldschmuck.

Tanja ließ sich auf die Couch sinken. „Sie können nicht Rolfs Frau sein. Ich habe ihn geheiratet. Ich kann es beweisen.“

„Bemühen Sie sich nicht“, entgegnete die Fremde, griff in ihre Tasche und zog eine Aktenmappe heraus, die sie auf den Tisch legte und aufschlug. Das oberste Blatt, das damit sichtbar wurde, kam Tanja bekannt vor, und die Worte der anderen bestätigten ihren Verdacht.

„Ich habe hier eine Kopie Ihrer Heiratsurkunde.“ Sie nahm das Blatt heraus und schob es über den Tisch.

Tanja sah auf. „Ja, das ist meine Urkunde aus Las Vegas. Woher haben Sie die?“

Die andere grinste. „Haben Sie die Unterschrift des Mannes, der angeblich Ihre Ehe bestätigt hat, eigentlich mal genau angesehen?“

Tanja war irritiert. Sie hatte damals nur kurz auf das Papier geschaut und dann zum Champagnerglas gegriffen, das ihr einer der Angestellten anbot. Rolf hatte die Urkunde verwahrt, und sie hatte ihn nie wieder danach gefragt. Warum auch?

Sie beugte sich über die Kopie und versuchte, die in kühnen Schwüngen unter den Text gesetzte Unterschrift zu entziffern.

Ihr wurde schlecht.

„Das... heißt... Elvis Presley, glaube ich.“

Die Fremde nickte vergnügt. „Das hat er mit mir damals auch gemacht. Es ist zwar fast schon zehn Jahre her, aber ich kann mich noch gut erinnern. Ich weiß noch, wie wir uns amüsiert haben, nachdem er mir die ganze Geschichte erzählt hatte. Rolf war seinerzeit für jeden Spaß zu haben, und wir haben anschließend in Las Vegas jedes Vergnügen genossen und köstlich über den Joke mit der angeblichen Hochzeit gelacht.“

Sie wurde ernst. „Allerdings haben wir nach unserer Rückkehr in München ganz offiziell geheiratet.“

Sie zog das nächste Blatt aus ihrer Mappe. Tanja war wie vor den Kopf geschlagen. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Ihre Träume zerstoben ins Nichts, als hätten sie nie existiert.

„Warum ... warum ... hat Rolf ...?“

„Warum er das getan hat? Ich denke, er hätte Sie bald aus dem Haus geworfen, weil er Ihrer überdrüssig war. Ich kenne ihn. Wir haben uns häufiger darüber unterhalten, und er hat mir gestanden, dass er schon nach drei Monaten genug von Ihnen hatte. Ich habe seine Allüren akzeptiert, weil er immer zu mir zurückgekommen ist, und weil er sich hervorragend um meine Kinder gekümmert hat.“

„Kinder?“, fragte Tanja mit brüchiger Stimme. „Sie haben Kinder?“

„Ja. Wir haben zwei Töchter. Das hat er Ihnen vermutlich auch nicht gesagt. Jedenfalls gibt es keinen Zweifel, dass ich seine Frau und damit seine Erbin bin.“

Tanja stierte auf den Tisch mit den Unterlagen.

„Vielleicht sollte ich doch jetzt die Polizei informieren“, sagte sie schließlich. „Das muss alles überprüft werden.“

„Machen Sie sich nicht die Mühe.“ Die Frau lächelte. „Die Polizei wird gleich hier sein. Soweit ich es verstanden habe, gibt es noch ein paar Fragen an Sie.“

„Woher wissen Sie überhaupt ...?“

„Dass Rolf tot ist?“, ergänzte sie die Frage. „Anton hat mich angerufen. Wir kennen uns gut, und er hat mein volles Vertrauen. Wir haben lange miteinander gesprochen, und danach musste ich einiges in die Wege leiten.“

Es klingelte erneut.

„Ach, da sind sie schon“, kommentierte Rolfs andere Frau mit fröhlicher Stimme.

Der Weihnachtsmann ist tot

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