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Kapitel 2 Miriam

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Ein reales Instrument kann Mel nicht spielen. Improvisiert er auf seiner Mundharmonika, dann hat er getrunken. Mel betrinkt sich nie so sehr, dass er in diese weinerliche Melancholie gerät. Er vertrinkt sich ab und zu, ist dann bedudelt, beschwipst, mag sich dann besonders, schreibt ein Gedicht oder spielt eben Blues, ziemlich atonal, dennoch mag er es. Gitarre erlernen, um in der Band seiner Mitschüler zu spielen, wollte Mel in seiner Jugend. Sein Kopf wollte, doch seine Hände nicht, also ließ er es. Er verschaffte der Band Auftritte, wurde zum Manager ernannt. Aber als Manager bekam er keine von diesen Groupies und erst recht nicht, weil er keine langen Haare hatte. Das hatte ihm seine Mutter untersagt und ihr konnte er nicht widersprechen, liebte er sie von ganzem Herzen. Sie, spielte Klavier, nannte Mel ihr Männlein und er schlief bis in die Pubertät bei ihr im Ehebett.

Die Mutter sagte, er hätte keinen Vater und Mel akzeptierte dies, denn er wollte ohnehin keinen.

Andere Jungs beneideten ihn, denn ihm befahl kein Vater. Seine Mutter bat ihn. Mel bitte keine langen Haare… Mel, bitte esse noch ein bisschen … Mel, bitte halte dich gerade, Mel, wie oft muss ich dich noch bitten. Ihm gefiel seine Mutter sehr gut. Sie war groß, schlank, trug den roten Pferdeschwanz bis ins hohe Alter. Eine feine gerade Nase, einen gutmütigen vollen Mund, dunkelbraune sanfte Augen, hohe Brüste, langgliedrige schmale Hände und überall Sommersprossen. Wenn sie am Wochenende solange im Bett blieben, dann bereitete es Mel großes Vergnügen diese Pünktchen zu zählen. Sie lag auf dem Bauch, er neben ihr und fing auf ihren Schultern an, zählte sich hinab über den Po zu ihren Waden, dort hörten die Sprossen abrupt auf. Seiner Mutter bereitete diese diffizile Punktmassage ebenso freudiges Vergnügen. Beim nächsten Mal überprüfte Mel, ob ein neuer Spross dazu gekommen. Sie lagen eng zusammen, erzählt er sich und die Mutter biss Mel, wenn er ein Fürzchen auf ihren Bauch prallen ließ. Ihre gespielte, schamhafte Empörung amüsierte Mel und sie glucksten, lachten zusammen und jeder liebte den anderen am meisten im Leben. Nach einem ebensolchen, liebevollen Gerangel lagen sie friedlich neben einander unter dem Leintuch, mit dem sie sich des Sommers bedeckten und plötzlich spannte sich über Mels Schoß ein kleines Zelt auf. Während die Mutter lächelnd seine erste Erektion enthüllte, war es ihm zuerst ein wenig peinlich, aber als er sah wie stolz die Mutter sein Männlein betrachtete, war er es auch. Die Lehrerin in ihr nützte diese Gelegenheit, um ihn aufzuklären. Dieser Tag wurde nun jedes Jahr als Männleintag gefeiert, bis Mel das Haus verließ.

Nur das Ehebett erinnerte an den Vater, nachdem er niemals fragte. Als Mel geboren, jagte die Mutter den Mann aus dem Haus. Er hatte mit ihr das Haus gebaut, er hatte mit ihr Mel gezeugt und das war alles, was sie wollte. Sie hatte diesen Handwerker nie geliebt, der Satie nicht von Brahms unterscheiden konnte.

Mel musste das gemeinsame Bett verlassen, nachdem sie ihn beim Onanieren ertappt hatte. Die eine Hälfte des Bettes wurde ins Arbeitszimmer gestellt, das nun gleichzeitig sein Zimmer war. Die Trennung fiel Mel relativ leicht, zum einen weil er leidenschaftlich masturbierte, zum anderen konnte er weiterhin die Morgen der Wochenenden im Bett seiner Mutter zubringen, um plaudernd den Schlaf ausklingen zu lassen.

Mel war so glücklich, die ersten beiden Schuljahre von seiner Mutter unterrichtet zu werden. Es war zeitweise sein größter Wunsch, ebenfalls zu lehren. Aber auch nicht mit größter Anstrengung schaffte er das Abitur, was seine Mutter sehr enttäuschte, und als er seine Lehre als Tischler begann, entfernten sie sich voneinander. Er bestand die Aufnahmeprüfung einer Wohngemeinschaft, bekam dort die Mundharmonika geschenkt von seiner ersten Geliebten. Sie verbrachten eine Woche im Bett, dann hatten sie sich satt. War Mel bedudelt, bespielt er die Mundharmonika, denkt dabei nie an seine erste Geliebte, doch an das Klavierspiel seiner Mutter. Schubert, Brahms, Satie. Als Kleinkind saß er unter dem Klavier, sah dem Pedalspiel der Füße seiner Mutter zu, sie hatte lange feine Zehen, ähnlich ihrer Finger. Später saß er neben ihr, blätterte die Noten um und sie beküsste ihn dafür.

Als er Beat hörte, spielte sie ihm Jazz. Sie spielte manche Nacht in Einsamkeit, er fror in seinem Bett, stand auf und sie umarmten sich weinend. Nie hat sie ihn gebeten, sich am Klavier zu versuchen. Ob das Instrument immer noch in der Schweiz war, wohin er es verschenkt hat? Wenn in seinem Radio Klaviermusik ertönt, geht er dabei auf und ab, kann nicht sitzen.

Die Mutter lebt, doch er sieht sie nicht, kann es nicht ertragen, sie gezeichnet von der Alzheimerpest erleben zu müssen.

Ich bin öfter bei ihr, wenn Mel gedankenlos schläft und ich glaube sie erahnt mich, wird sie doch ruhiger, wenn ich anwesend bin. Unter Ängsten leidet sie, hauptsächlich Angst vor Menschen.

Sie hatte sogar Angst vor Mel, als er sie noch besuchte. Wenn die Angst beginnt, klimpert sie sich Klaviermusik mit dem Munde zur Beruhigung, wie Mel es tut, um sich zu entspannen. Die beiden sind sich sehr ähnlich. Manchtags überlegt Mel, die Mutter zu sich zu holen. Sie könnten wieder zusammen in einem Bett schlafen, und wenn ihre Krankheit für sie unerträglich würde, könnte er sie dem See übergeben. Die Fische würden sie schnell auflösen. Die Hechte, die Rotaugen, die Barsche, die Zander und vor allen die Aale. Sie dem See anzuvertrauen, findet Mel eine gute Idee. Er selbst möchte unbedingt im See bestattet sein.

Wenn Mel bedudelt ist, spricht er mit sich, spricht mit der Katze, entschuldigt sich bei ihr, dass er sie nicht zurückholen kann aus der Schweiz, der Glasknochenfrau wegnehmen. Die Katze hatte ihn genauso wenig wieder erkannt, wie seine Mutter damals. Mel spricht dann auch mit Gott. Er sitzt am See und fragt den Gott, wie er eigentlich auf die Idee mit dem Wasser gekommen. Es stört Mel nicht, ohne Antwort zu bleiben, er findet es besser mit dem Gott zu reden, als andauernd mit sich selbst, und wenn er sich fragen würde, wegen dem Wasser, bekäme er auch keine Antwort. Warum die Walnüsse Kerne haben, die aussehen wie kleine Gehirne, dies würde Mel auch gerne beantwortet haben, doch eigentlich auch wieder nicht, denn es wäre bestimmt nur eine wissenschaftliche Realität.

Der arme Melchior glaubt an den Gott. Einige Jahrzehnte hatte er den Mut, nichts zu glauben. Doch nun ist Gott logisch für Mel. Der Gott ist für ihn das kreative Alles und er schmunzelt, wenn er sich vorstellt, wie er den Fischen das Schwimmen beigebracht hat, nachdem er das Wasser erfunden. Wenn Mel das wüsste. Wie diese Welt wohl aussehen würde, wenn die Menschen das wüssten. Kindskopf, dieser Mel!

Kindskopf benennt er sich selbst. Er findet sich wohltuend kindlich. Kindlich, nicht kindisch. Kinder sind fantasievoller als Erwachsene und dass Fantasie das Bewusstsein vergrößert, dessen ist er sich sicher.

Auch wie Kinder ist er zweiflerisch und nachfragend. Die Evolution der Lebewesen ist ihm unlogisch, was war denn nun eher, das Ei oder die Henne? Auch die immer währende Ewigkeit ist ihm suspekt. Dass etwas nicht endet, ja, aber begonnen muss es doch haben.

Wenn er wüsste, wie einfach und simpel diese Dinge sind.

Mel glaubt nicht an den alten Mann mit dem Bart, er glaubt an den, der das Wasser erfunden hat. Darüber konnte er freilich nicht mit der gemeinen Anna diskutieren, sie war fantasielos im Kopf und im Schoß. Allerdings hatte Mels Fantasie nicht ausgereicht, sich vorzustellen, was in dieser kleinen, zierlichen, süßen Person für eine Gemeinheit innewohnt. Die gemeine Anna hatte Mel einmal, der im Sonnenbad auf einer Liege eingeschlafen war, Papierstreifen zwischen die Zehen gesteckt und diese entzündet. Als Mel vor Schmerzen auf und davon sprang, lachte sie so sehr vor Vergnügen, dass sie sich in die Hose nässte. Mel war erstaunt, als er sie nach dem Grund dieser Bosheit fragte, und erfuhr, dass sie dies in einem Film gesehen und eben nachprobiert hatte. Jedes Mal, wenn er sich beim Duschen die Zehen einseift, erinnern ihn die schrumpeligen Narben an Annas Gemeinheit.

Er überlegt, den Blick auf dem See ruhend, dass es genial wäre, ein Haustier zu halten, das darauf trainiert wäre, ihn zu bedienen. Ein Äffchen könnte ihm die Flasche Wasser bringen, den Radio einschalten…

Es wundert ihn, dass er an ein Tier denkt, nicht an einen Menschen der bei ihm lebte. Menschen tun nichts umsonst, ist sein sofortiger Gedanke. Ein Mensch schon, lächelnd denkt er an seine Mutter. Sie hat ihn bedient ohne Bedingung, sie hat nach seinen Wünschen gefragt, hat Wünsche in ihm erweckt. Freilich erbat sie sich manchmal eine Gegenleistung, aber die war nie schwierig zu erfüllen. Ob sie ihn denn dann wieder erkennen würde, wenn er sich wieder einmal zu ihr ins Bett legte? Die Pflegerinnen würden die Polizei rufen. Und wenn er sie an ihr gemeinsames Geheimnis erinnerte, würde sie sich dann seiner erinnern?

Als er sie das erste Mal beim Stehlen sah, überraschte ihn das nicht. Sie steckte die Cremes, die Lippen- und Augenbrauenstifte in ihren Rocksaum, hob die Bluse darüber, als wäre es das Normalste der Welt. Sie achtete nicht darauf, ob sie jemand beobachtete. „Das ist eine Krankheit, Männlein und dein Vater hat es im Suff verraten, am Tage der Hochzeit vor versammelter Tafel. Dafür hasste ich ihn. Die Leute lachten aus Verlegenheit, nur er brüllte im Spaß. Du darfst dies nie verraten und selbst darfst du nie stehlen, verspreche mir das, wenn du mich liebst.“ Er musste es beschwören, sie besiegelten es mit einem Kuss und diesem langen, tiefen Blick in die Augen. Regelmäßig gingen sie auf kleine Raubzüge. Ruhig, kühl war sie bei den Diebereien, aber sobald zurück auf der Straße, errötete sie, kam in Hitze und Schweiß. Mel lacht gurrend aus dem Hals, setzt eine liebevolle Miene auf, denkt daran, wie es war, wenn sie zuhause ankamen. Mutter hüpfte ungeduldig auf der Stelle, wenn er nicht geschwind genug die Wohnungstüre öffnete, spurtete sie sofort zur Toilette. Er lauschte auf diesen geraden, kräftigen, zischenden Urinstrahl. Glucksendes Wasser, danach ein erleichternder Seufzer, die Toilettenspülung, das Kleiderrascheln, Handwaschbecken, die Sekunden Stille, in denen sie in den Spiegel guckte, ihr Haar richtete, und dann trat sie zufrieden aus der Türe. Währenddessen hatte er sein Mäntelchen ausgezogen, seine Schühchen neben den Schirmständer an der Flurgarderobe gestellt und saß nun seinerseits mit geröteten Wangen am Küchentisch.

Marian stellte sich ihm gegen über auf, quietschte ein Mädchenlachen, zeigte das Diebesgut vor, das sie in der Toilette ausgepackt hatte. Aus dem viel zu großen, ausgesteiftem BH, aus dem extra breiten Rockbund, dem doppelten Strumpfband. Sie stahl nur kleine Dinge, alles was mit Makeup zu tun hatte, das sie nach und nach verschenkte, weil sie sich nie schminkte. Nur die Parfumfläschchen behielt sie, und eine ganze Sammlung stand auf dem WC Spülkasten. Marian freute sich diebisch, wenn Mel anerkennend staunte, da er dies oder das gar nicht bemerkt, als sie es genommen hatte. Öfter waren auch kleine Dinge für ihn dabei. Ein Taschenmesser, ein Matchboxautochen, eine Lupe, ein Döschen Traubenzucker, Schokolade, Plastikuhr, einmal sogar ein Kompass.

Ein einziges Mal nur in all den Jahren hatte man sie verdächtigt, sie wurde durchsucht, er auch. Nichts wurde gefunden, doch als sie auf der Straße standen, direkt vor dem Geschäft, stupste Marian in an, streckte die Zunge heraus auf der zwei Ringe lagen. Er war perplex ob dieser Raffinesse und knuffte seiner Mutter begeistert in die Seite, bevor sie sich umarmten. Es war so aufregend für ihn, wenn sie den Drang zum Dieben verspürte, ihn fragte, ob sie losgehen sollten. Auf dem Weg bekam sie rote Flecken am Hals, und Mel kribbelte es im Bauch.

Wie seiner Mutter versprochen, hat er niemals in seinem Leben etwas an sich genommen, das ihm nicht gehörte. Als Mel eines Tages, um die gemeine Anna zu amüsieren, ihr von dem Gediebe erzählte, quakte sie nur, „ein schönes Beispiel für ein Kind, kein Wunder.“ Schon damals hätte er hellhörig werden müssen, doch war er taub vor Liebe.

Mel

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