Читать книгу Mel - Hans Landthaler - Страница 8
Kapitel 6 Der Karpfenfreund
ОглавлениеHell ist der Tag geworden. Sechs Uhr morgens. Mel fühlt sich ausgeruht, hungrig, Traumbilder vor den Augen. Er will zum See, schwimmen, den Kopf lange im kühlen Wasser laben. Er entkleidet sich, erschlüpft den Bademantel, schlendert barfuß zum See. Kein Schwan ist zu sehen und staunend bemerkt er das Fehlen des Fischerzeltes, samt aller Utensilien am Ufer gegenüber. Er köpft vom Steg aus in das Wasser, taucht solange unter, wie seine Luft reicht, genießt mit geschlossenen Augen das entspannende Nass. Niemand ist in Sicht, so kann er nackt an Land, um den Fischerplatz zu inspizieren. Wäre nicht das vergilbte Rechteck des abgestorbenen Grases, auf dem das Zelt stand, so käme man nicht auf die Idee, dass hier jemand monatelang gelebt hat. Sogar die Feuerstelle ist verharkt. Keine Zigarettenkippen!
Mel sitzt auf diesem flachen, langen Stein, der halb ins Wasser ragt. Der eigentliche Stammsitz der Fischers. Er sieht das große, dunkle Fenster seines kleinen Hauses, meint, sich selbst darin zu erblicken: ein blasser Punkt, der ab und zu ein wenig wandert im Geviert. Traurigkeit ergreift ihn, Selbstmitleid. Er senkt den Kopf. Im grünen Wasser vor ihm schwebt regungslos ein Fisch, ein Riesenfisch – ein Karpfen. Der guckt ihm direkt ins Gesicht. „Du hast es gut!“, sagt Mel zu ihm. „Du kannst hören, sehen, riechen, fühlen. Musst nicht denken. Hast Ruhe im Gehirn!“ Der Fisch blubbert Luftblasen aus dem Maul, scheint Mel zu antworten und der spricht: „Mach keinen Blödsinn und fang an zu reden, dann werde ich nämlich vollends verrückt. Bist Du gar einer von denen, die der Fischer fing zum Fotografieren? Hat es wehgetan, als er dir den Haken zog?“ Der Fisch behält weiterhin die Ruhe. Nur seine Schwanzflosse ist in lascher Bewegung, das Gleichgewicht zu halten. Mel steigt behände in das Uferwasser, watet vorsichtig den Meter zu dem Fisch, der ihn anglotzt, sich doch nicht von der Stelle rührt. Nun beugt sich Mel, steckt den Kopf samt Oberkörper in den See, umarmt den Karpfen, hebt ihn aus dem Wasser, ohne Gegenwehr, steigt zurück zum Stein, setzt sich darauf, hält den Fisch vor seine Brust, wie er es beim Fischer gesehen hat. „Dass uns jetzt einer fotografieren würde“, wünscht sich Mel.
Der Fisch atmet wohl schwer durch seine Kiemen, hat sein rundes Maul weit aufgerissen, dennoch hält er still, als Mel ihn zu streicheln beginnt. Er hebt den Kopf, um Mel anzusehen. Der denkt: „Die Fischers hätten das sehen sollen!“. Ohne Angel fischte er dieses Prachtstück, schilt sich selbst gleich darauf, weil er den Gedanken hat, den Karpfen zu kochen. Der Fisch wird unruhig. Mel lässt ihn ins Wasser gleiten. Der Karpfen dreht eine Runde, steht alsdann wieder zur Stelle. Mel begibt sich ins Wasser, schwimmt an dem Fisch vorbei. Der zieht ihm nach.
Was ist mit ihm? Warum diese Zutraulichkeit? Wieso zu Mel? Erstaunt mich immer wieder, dieser Mensch. Schwimmt mit diesem dreißig Kilo Ungetüm! Fehlt bloß noch, dass die Schwäne dazu kommen und die Katze am Ufer wartet. Jetzt hält er sich sogar an der Rückenflosse fest, lässt sich ziehen. Was für ein Bild, wenn ich fotografieren könnte. Sie sind in der Mitte des Sees, da taucht nun der Fisch ab und Mel hinterher. Er denkt, der Karpfen will ihm etwas zeigen, doch dieser verschwindet im Gedunkel der Tiefe. Mel wartet eine Weile, stößt sich dann nach oben, als die Luft knapp wird. Er treibt in leichter Welligkeit dahin, in Rückenlage dem Ufer zu, sinniert Gedanken in die dicken Wattewolken, die genauso träge im Himmelblau schwimmen.