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Irrtum der Vorfreude?
ОглавлениеVon der Vorfreude sagt der Volksmund, sie sei die beste Freude. Das ist eine kleine Unklugheit. Man verspeist unreifes Obst, und wenn das reife aufgetragen wird, hat man sich den Magen verdorben und kann nicht recht mehr etwas genießen. Vorfreude vermag eine große Freuden-Verdunklerin zu sein; sie gleicht den Fotos, die ein Heiratsbüro verschickt; die Enttäuschung kann selten ausbleiben. Es ist dasselbe wie mit den sogenannten Illusionen, zu deutsch Vortäuschungen. Gewiß, bedeutende Naturen vermögen sowohl der Vorfreude als auch den Illusionen Antriebe zu entnehmen, die den Blick und die Kraft für die nackte Wirklichkeit nicht mindern. Aber im allgemeinen soll man scharf zu trennen üben zwischen Phantasie und Tatsachen. Die großen Wunder der Phantasie reichen schon ins Gebiet der Kunst. Die harte Wirrnis der Tatsachen, scheinbar aller Wunder bar, birgt dennoch mehr als das nur Tatsächliche. Wir sind mißtrauisch geworden gegen alle Versprechungen. Nur das Erleben selber überzeugt uns. Wer aber erlebt genau? Sehr wenige! Nichts ist schwerer zu erlernen als das richtige Erleben. Und dort liegt das Geheimnis der Lebensfreude.
Erstmal wäre gut, jede Voreingenommenheit aufzugeben, also weder die Welt als die beste noch als die schlechteste aller Welten festzulegen. Die Welt hat bewiesen, daß sie beides ist. Wir müssen uns mit Überraschungen abfinden. Es muß aber gesagt werden, daß die Pessimisten in ihren feinsten Vertretern die größeren Genießer sind, oft sogar die größeren Lebenskünstler, und zwar so, indem sie zumeist angenehme Enttäuschungen erleben. Sie warten ab, sie haben das Schlimmste schon eingerechnet und verhalten sich danach, sind deshalb selbst in der Gefahr zumeist ohne Hast und besitzen das leichte Achselzucken, das die Furcht entgiftet. Aus dieser Ruhe sammeln sie eine erstaunliche Kraft und behalten ihre Nerven, immer doch gleich einem Schmetterlingsjäger bereit, die scheueste und flüchtigste Freude noch zu entdecken und einzuheimsen. Das ist es nämlich: Zur Freude bereit sein. Ohne Hast, ohne Gier, ohne große Erwartung, obschon nie ohne Hoffnung. Hoffnung ist die letzte gespannte silberne Saite voll heimlicher Musik, die uns mit der Harmonie des Alls verbindet, indes die Vorfreude uns diese Verbindung als eine breite Fahrstraße vorgaukelt, als einen Schienenstrang gar, auf dem die Züge unseres Herzens schon fleißig verkehren, und es sind, weiß Gott, oft nur Güterzüge, von Entgleisung bedroht. Darum Vorsicht mit der Vorfreude! Sie hat uns ein Weltreich gekostet. Dem wollen wir nicht nachtrauern. Fast aber auch ein inneres Weltreich. Das müssen wir wieder gewinnen! Es liegt nicht dort noch hier und braucht niemandem geraubt zu werden. Es liegt — genau wie die Macht der Finsternis und wie das Himmelreich — allein mitten in uns selber.