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Die Rosenmöwe
ОглавлениеWer will der Nordsee verargen, daß sie zumeist kalt und grau wirkt? Es ist ihrer Lage gemäß, und ihre guten Tage sind ein wahres Wunder, vom Golfstrom vermittelt, der die Sommer der Wasserkante mit Badestränden segnet, bis auf die Insel Helgoland hin.
Helgoland. Fast wäre es zur Sage geworden. Aber damals wie heute sieht es von weitem, wenn es eben überm Horizont auftaucht, aus wie ein Ziegelstein, der von Urgewalten verloren oder bereitgelegt wurde, als sie darangingen, einen neuen Kontinent zu bauen oder Atlantis oder den allumfassenden utopischen Tempel des Friedens.
Minna Sulz empfand etwas davon durch ihre Seekrankheit hindurch. O dieser lang geträumte Meeresinseltraum! Welch rauher, würgender Weg dahin! Es war noch auf einem jener weißen Seebäderdampfer, die später als Minenleger vor die Seehunde gingen.
Zehn Jahre hatte Minna Sulz von dieser Meerfahrt geträumt in der kleinen küstenfernen Stadt, indes sie in den Kontoren an der Schreibmaschine verbraucht wurde. Ein dicker Mann neben ihr an der Reling, hellgrau gekleidet und mit dem Hute eines Wildwestfarmers, den er mit einem Kinnriemen erfolgreich gegen den Wind verteidigte, sagte breit und freundlich: Helgoland, das ist eine Zunge, gegen Großbritannien ausgestreckt.
Das schien ihr schrecklich, und auch das Ausbooten und die spöttischen Bemerkungen der Leute an der Landebrücke, die es schon hinter sich hatten, und der fleischig rote, nackte Fels und der Dunst nach faulendem Seegetier und die Pensionspreise. Als Minna Sulz aber erst von der Kante des Oberlandes, wo es Falm heißt, den Blick in die Weite richtete, war es dennoch schön; denn es war ein perlmuttfarbenes Wetter, und der Horizont lag geheimnisvoll und ungeheuer wie die Unendlichkeit.
Sie kleidete sich in bunte Wolle und schlürfte den salzigen Wind, den sie auf der Fahrt gehaßt hatte. Sie wurde ganz betrunken von soviel Meereshauch und taumelte auf der Insel umher bis an alle Grenzen, die bald erreicht waren. Und nachdem sie sich von oben her genugsam an den Anblick der wild heranrollenden Wogen gewöhnt, beschloß sie, darin zu baden. Sie begab sich wieder zum Unterland hinab und von da – es war gerade Ebbe und die Marine hatte noch nicht alles verbetoniert und verboten – unter den himmelhohen Felsen über das abgenagte Geröll entlang. Es war mühsam, aber Minna jauchzte laut auf über jeden Taschenkrebs, der in den Spalten hockte, und über die kleinen hornigen, länglichen, grünschwarzen Kissen der Katzenhai-Eier. Sie sammelte die Bademütze voller Meerwunder an Steinen und Muschelschalen und fand sogar einen halbvertrockneten Seestern.
Nebenbei lugte sie nach einer geeigneten Badestelle aus. Aber der gehörige Respekt vor der schaumig schwellenden Tiefe bewahrte sie, voreilig zu sein. Erst an der Ecke, wo es das Nordhorn heißt und ein einzelner Felsenturm steht, schien das Wasser ruhsamer und nur so eben schülpig und in einer Mulde glasklar, als sei es ein Extrabadebassin für sie. Minna Sulz gedachte des Mannes, der auf Helgoland so schön gedichtet hatte: Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand. Der Prospekt des Verkehrsbüros nannte neben Hoffmann von Fallersleben auch Klas Störtebeker, den Piraten, der zusammen mit Godeke Michels hier gehaust. Dieser düstere, einsame Felsen aber hieß unzweifelhaft – der Abbildung im besagten Prospekt gemäß – Der Mönch. Man durfte ihm eher trauen als einem Seeräuber betreffs der Freiheiten, sagte sie sich, und um ihr allererstes Seebad den hohen Begriffen gemäß recht zu genießen, schonte sie den hübschen Badeanzug, den sie gleich als Unterwäsche angezogen, und stieg unverhüllt ins Nasse.
Ihrem Blick verborgen, um die Ecke herum, war Omko Treesen eben dabei, seine Hummerkörbe aufzuholen. Er hörte das sonderbare, verzückte Geschnaufe und verhaltene Gekreische und kam dann sachte mit dem Boot vorüber, tat aber, als sähe er nichts. Minna Sulz schrie Huch! und entschlüpfte hinter den Mönch. Omko Treesen war von biederer Sorte und lange genug Junggeselle und Haluner, um nicht wegen ein bißchen Badenixe den Dreh zu verlieren. Aber hier war viel Rosa auf einmal gewesen und an unvermuteter Stelle. Auch war eine laue Julistimmung in den Lüften, und er hatte ganz gut was in den Körben. Und so zögerte er die Beschäftigung damit eine Kleinigkeit hin, bis denn die Dame angezogen wieder hervortrat und schämig sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, das salzige Wasser nachschmeckend, und davonwollte.
Da können Sie wohl kaum wieder retour! sagte Omko Treesen und kam ein bißchen näher mit dem dicken Boot.
Richtig, die Flut hatte sich eingestellt; der Geröllwall begann sich zu bedecken. So war Minna froh, einsteigen zu dürfen, schmerzten doch überdies ihre Füße von der raschen Flucht auf den scharfen Steinen. Und sie staunte über die groben Vogelbauer, darin die gefangenen Hummer saßen und ihre Scheren zwicklüstern durch die Trallen reckten. Omko band ihnen die gierigen Zangen zusammen, damit die Bestien die Kraft und Wut in sich aufspeichern und somit ihr eigenes Fleisch im voraus schon selber etwas dämpfen sollten. Und einer war dabei, fast einen halben Meter lang, der saß ganz schräg in dem Käfig, so lang war er und von allerlei Tang und Seepocken bewachsen. Omko erklärte, der sei an die hundert Jahre alt, und häuten tue der sich nicht mehr, und darum sei er schon Siedlungsgelände ... Omko schmunzelte über diesen seinen Witz. Und Minna Sulz lachte beifallsfreudig und lange.
Sie ging mit, als der Fischer das Exemplar ins Kurhotel brachte. Dort tauchte auch der Herr mit dem Farmerhut auf und sagte: Eine Rarität! Haben Sie immer soviel Glück? ... Und er lächelte dabei mehr das Fräulein an, das an der Reling so blaß gewesen war und nun rosig und fidel aussah.
Omko knurrte ungefällig und wandte sich dem Wirt zu. Aber der Herr wurde von dem Wirt mit Aufmerksamkeit behandelt, weit mehr als der Hummer, und es stellte sich heraus, daß er ein berühmter Naturforscher sei und auch an anderen Raritäten Interesse habe, zum Beispiel an der Rosenmöwe. Die sollte es vormals auf Helgoland gegeben haben, eine echte Rhodostethia rosea, eine Abart der nordamerikanischen.
Weiß ich! antwortete Omko, ohne das Auge vor der lateinischen Vokabel niederzuschlagen: Mein Großvater hat die noch massenweise an die Putzmacherinnen nach Hamburg verkauft.
Wirklich? lächelte der Naturforscher: Eine mit rosa Gefieder und um den Hals einen blauen Streifen?
Genau die! knurrte Omko und setzte hinzu: Und ein bißchen kurz in den Beinen.
Der hellgraue Herr gab einen Whisky aus und für die Dame etwas Süßeres, was beides hier nicht teurer war als an der Küste Korn und Kümmel, und sie errötete; denn sie glaubte, man erlaube sich Scherze mit ihr, trug sie doch eine Kette aus Kobaltperlen, und betreffs Teint und Statur stimmte es auch ungefähr.
Das Museum, für das ich arbeite, sagte der Herr, würde einen guten Preis für den einwandfreien Balg zahlen. Es ist eine ausgestorbene Art.
Omko tat ganz ungerührt und erledigte den Handel mit dem Wirte.
Womöglich hundert Pfund, sagte der Herr.
Omko zuckte nur ein wenig mit der Achsel. Aber er steckte die Anschrift doch zu sich, die der Herr ihm gab. Welch Abenteuer! dachte Minna Sulz, und ihr war, als sei sie in die Fänge eines Mädchenhändlers und Seeräubers geraten. Aber draußen sagte Omko, man könne dann gegebenenfalls heiraten.
Mein Gott! dachte sie: Geht das hier so schnell? Ist das ein Antrag? So ist es der erste in meinem Leben. Aber gewöhnen muß ich mich erst doch wohl ein bißchen können.
Sie lächelte abwägend, und Omko setzte das Thema nicht fort, sondern empfahl das Hotel auf der Düne. Das gehöre seinem Bruder. Und somit wechselte Minna Sulz die Pension.
Abends sah die Insel mit ihren Lichtern aus wie ein einziger Tanzpalast; man hörte die näselnden Saxophone bis auf die Düne über die knappe Seemeile hin, wenn der Wind nicht zu sehr heulte, und die kreisenden Lichtpritschen des Leuchtturms sahen aus wie eine einladende Reklame. Auf der Düne gab es keine Grogkeller und Tanzdielen. Da war es nichts als einsam, wenn das letzte Badeboot nachmittags den Strand verlassen hatte. Darum wohnten bei Omkos Bruder auch nur sehr verliebte Liebespaare. Oder Sonderlinge.
Dazu gehöre ich, sagte sich Minna Sulz: Einsamkeit und Meeresweite, das hab ich gesucht. Und Omko Treesen erschien ihr wie die verkörperte Gegend, so weit und breit und sandig und felsig und karg, ohne alle waldige Geborgenheit, und er duftete nach Tang und Fisch und bitterem Knaster wie die See, und seine Augen schillerten grau und gefährlich wie die Strudel in der Brandung. Leider sprach er nicht viel und sah sie auch kaum an. Er spähte nur immer nach der Rosenmöwe aus. Nur einmal redete er etwas Längeres, und Minna meinte erfreut, es als Bestärkung buchen zu dürfen. Er wies nämlich mit der immer schußbereiten Flinte auf eine Partie Bauholz beim Hotel und sagte: Reicht für ’ne Hütte. Mein Bruder will zwar die Veranda mit ausbessern. Er hat ja gebetet. Und dann hat es geweht. Und dann ist ja auch ein Schwede kapseis gegangen mit Holz. Wer es aber gestrandet hat und raufgeschleppt, bin ich. Er ist ja auch man Koch gewesen auf Dampfern. Ich aber war Vollmatrose auf echten Pi-leinern, wo die Masten so hoch sind wie das Nordhorn und der Mönch.
Damit denn ging er auch schon wieder zum Boot und war draußen bei jedem Wetter und spähte und lauerte überall. Er tat nichts anderes mehr. Die Rosenmöwe beschäftigte ihn vollends. Kaum daß er noch gelegentlich zur Insel hinüberkreuzte, um dort auf dem Oberland seinen Tabaksbeutel neu zu füllen in dem kleinen Laden, wo auf dem Schild darüber stand: Holländische ff. Rauchwaren und Pfeifen bei Gesine Pölpema Ww.
Es war damals, wo hundert Pfund noch tausend Mark waren und tausend Mark ... oho! Minna Sulz nun segelte immer treulich mit und mußte sodann Schot und Pinne halten, wenn er meinte, die Rosenmöwe endlich gesichtet zu haben. Und sie nahmen den Motor nur selten, um die Natur nicht voreilig zu warnen. Aber es war immer nichts, und Minnas Ferien gingen dem Ende zu. Sie erzählte ihm, ein Chef von ihr habe sie Minze genannt. Und sie kicherte dabei. Omko äußerte lange nichts darauf. Schließlich sagte er: Scharfes Aroma! ... Und das blieb die einzige Zärtlichkeit, die aus ihm herauszulocken war. Und sie segelten bis nach Scharhörnriff und Neuwerk und auf die andere Seite der Elbe nach Trischen und an allen Feuerschiffen vorbei, alles ohne Erfolg.
Eines Nachts hörte sie in ihrem einsamen Bett durch die Bretterwände des Hotels, wie Omko sich aufmachte, noch eh es recht hell wurde. Flink zog sie sich an und eilte ihm nach. Denn es war der letzte Tag vor ihrer Abreise. Sie sprang ihm nach ins Boot. Er achtete ihrer nicht. Er hielt auf die Nordspitze der Insel zu, und das Boot bockte und krengte, und die See schwoll schwarz aus der Unendlichkeit heran und bleckte die Schaumzähne. Fast im Norden stand das Morgenrot wie ein glühender Fittich. Und da sagte Omko merkwürdig singig vor sich hin in die böige Luft: Das hab ich geträumt. Sie sitzt oben auf dem Mönch. Und dann pack ich sie auf Eis und charter einen Fischdampfer und steh immer neben der Kiste, bis wir in Bristol sind. Und nehm sie untern Arm. Hier! Ist gut! Hundert Pfund Sterling. Und dann vergrößern wir den Tabakladen mit Konfitüren. Und so.
Und heiraten.
Welchen Tabakladen? fragte Minna Sulz unruhig.
Omko schien es überhört zu haben wie vieles. Erst als sie nahe bei den Felsen waren und abhielten, fuhr er so merkwürdig mit der Stimme fort, als träume er: Das hab ich ihr versprochen, zwölf Jahre her, Witwe Pölpema beim Kurhaus neben oben. Und die Hütte vermieten wir. Ich bin der Ältere. Mein Bruder hat nichts zu melden.
Danach versank er wieder ganz ins Spähen, und so kamen sie ans Nordhorn. Auf einmal gab er Fräulein Sulz die Ruderpinne und die Schotleine, nahm die Flinte hoch, indes er sich mit den Knien gegen die Ducht stemmte, und schrie heiser: Da ist sie! Und schon feuerte er schräg aufwärts auf den Mönchsfelsen hinauf, obwohl der bei der Dünung wie ein betrunkener Wolkenkratzer über ihnen torkelte und Minna dort nichts hatte entdecken können als etwas Morgensonne und Himmelblau.
Es flatterte auch nichts als ein bißchen vom Schrot zerbröckeltes Gestein herab. Und das Boot rutschte ihr aus der Hand und jagte im Schwell auf den roten Schotter, daß es krachte. Aber Omko schien es gerade richtig. Er sprang über Bug an den Felsfuß und begann wie behext an der steilen Wand emporzuklimmen, obschon dort an den glitschigen Riefen kaum Halt zu finden sein konnte.
Er wäre trotzdem sogar wohl auch hinaufgelangt, gleichsam schlafwandlerisch in seiner Gier. Minna konnte vor Angst und Kummer keinen Laut hervorbringen, so gern sie ihm prophezeit hätte, daß er da oben seinerseits ebenfalls nichts als Enttäuschung erleben werde. Da jedoch schor katzenleise die Barkasse des Wasserschutzes um die Ecke, um die gleiche wie damals Omko. Diesem schnittigen Polizeiboot war Omkos Sucherei schon längst auf die Nerven gefallen, und da man ihn nun so unsinnig als halsbrecherisch an dem Felsen kraxeln sah, ließ der Steurer einen kleinen Warnruf der Sirene erschallen.
Keine Posaune des Jüngsten Gerichts hätte augenscheinlicher wirken können. Omko stürzte ab wie heruntergeschnippt. In der Mulde, worin das Fräulein gebadet und so rosa ausgesehen hatte wie eine Rosenmöwe, schlug er überkopf auf den harten Grund und kam nicht wieder zu sich.
Minna Sulz nahm ihr Erlebnis und ihre Trauer still mit nach Haus. Erst als es eines Tages heiß herging auf Helgoland, erzählte sie Näheres und meinte dann, das mit Omko sei wie das Meer gewesen, schön und schrecklich zugleich, und wie jene Insel, die man zu befestigen gedacht für die Ewigkeit, und das gerade habe das Verderben gelockt. Witwe Pölpema, die mit dem Tabakladen, habe zwar am selben Tage, da Omko umgekommen, seinem Bruder das Jawort gegeben, und der habe dann als Mariner auf der Insel bleiben dürfen, indes seine Frau für lange Jahre aufs Festland abgeschoben worden sei. Und das – ja, das allerdings ist schlimmer für eine Halunerin als etwa für eine Irgendwelche, die schon geglaubt hatte, eine Halunerin zu werden.