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2. Die Carr-Linie
ОглавлениеPassagiere sind keine Fracht · Zwischendeck und Kajüte · Ein Plakat triumphiert · Alarm und Ablehnung · Ein gemütliches Schiffahrtskontor · Carr kriegt kalte Füße · Drei blonde Damen · Der Prinz auf Helgoland · Wolldecken haben’s in sich · Brombeeraugen hinter Glas · Albert zieht aus.
Die Gründung der Carr-Linie erregte wenig Aufsehen. Seefahrtskontore kleineren Formats entstanden und fallierten in der Hansestadt je nach Bedarf und Vermögen. Fast jede größere Ex- und Importfirma besaß ein paar eigene Frachter. Was Edward Carr anfing: Neben Stückgut auch Auswanderer dürftigster Sorte aus Ost und Südost zu verfrachten und das mit Hilfe eines jüdischen Agenten als Kompagnon und direkt nach New York, erschien eigentlich fast leichtfertig und so wenig gesellschaftsfähig, daß man es lieber übersah. Obschon man dem neuen Reeder wegen seiner Konten, seines Namens und seiner weit verzweigten Verschwägerung die nachgesuchten „Parten“ nicht mißgönnte.
Parten, so nannte man die schon langsam veraltenden Vorläufer der Aktien. Es waren private Anteile am Geschäft der Schiffahrt in Papieren, die nicht offen an der Börse notiert wurden. Somit ging alles ganz ordentlich vonstatten. Der Umbau der beiden Frachter konnte beginnen. Ballin machte täglich selber einen Sprung zur Werft hinüber, so daß die Ausstattung beinahe so „komisch vergeuderisch“ ausfiel, wie er es sich gedacht hatte.
Bislang hatte man Seetransporte als Aufgabe der Frachtverstauung angesehen. Für die Sicherheit des Schiffes galt als notwendig, den Raum lückenlos auszufüllen, nicht nur wegen der Buchführung, sondern auf daß durch Verrutschen der Ladung keine Schlagseite und damit die Gefahr des Kenterns entstehe.
Dieses Prinzip suchte man auch auf die Personenbeförderung anzuwenden, vormals auf Transporte schwarzer Sklaven oder weißer Truppen, denen ein Einspruch nicht zustand, wie es denn auch Kasematten, Baracken gewisser staatlicher Unterkünfte an Land oder auf See bis heute nicht nötig haben, die Berechtigung von Bequemlichkeiten anzuerkennen. Zahlende Gäste hingegen, solange sie nicht als Herdenvieh auftraten, konnten bescheidene Ansprüche stellen; immerhin galt der private Reiseverkehr noch Anfang der achtziger Jahre keineswegs als Vergnügen.
Wachsender Wohlstand, der Aufschwung der Industrie, die Entwicklung der Technik, die Ausweitung der Handelsbeziehungen schufen um diese Zeit den Typ des Reisenden, der den Komfort des Hotels auch auf See nicht missen wollte. Als erste deutsche Linie erkannte der Norddeutsche Lloyd die Notwendigkeit, die Menschen, wie bei der Eisenbahn, auch zur Beförderung in Klassen einzuteilen. So blieben die besseren Leute unter sich, in der ersten Kajüte mittschiffs in Kammern zu zwei Betten, der Mittelstand fuhr zweiter Kajüte nahe der rummelnden Schiffsschraube und mußte den engeren Schlafraum mit mehreren teilen, fand sich auch entsprechend weniger üppig mit Verpflegung, Salon und Bequemlichkeiten betreut.
Das Zwischendeck jedoch – später nannte man es dritte oder vierte Kajüte – entsprach dem Standard der Lohnsklaven und des vierten Standes, des Proletariats. Er gehörte ins Vorschiff und unter die Wasserlinie, neben die Unterkünfte der Mannschaft, wo es am unangenehmsten schaukelt und bei Kollisionen der erste Stoß abgefangen zu werden pflegt.
Die beiden Dampfer, die Carr nach Ballins Vorschlägen neu einrichten ließ, nahmen keine Rücksicht auf Standesunterschiede. Sie waren nicht luxuriös eingerichtet, aber dafür stand den Passagieren des Zwischendecks das gesamte Schiff zur Verfügung; es war ein Einklassenschiff. Kein „Zutritt verboten“ reservierte die besten Plätze, mit Ausnahme der Brücke und der Offizierskabinen, der Küche, der Maschine, der Proviant- und Frachträume. Aber das alles stand auch keinem Kajütpassagier offen.
*
Ballin war alsbald mit Prokura betraut worden und hatte die Passageleitung. Voller Genugtuung bestellte er Plakate bei dem besten Hamburger Drucker, der mit den riesigen wildfarbigen Ankündigungen des Zirkus Renz berühmt geworden war. Bald prangte auf Planken und Mauern in gelben, roten und schwarzen Tönen ein schmuckes Dampfschiff mit malerischer Rauchfahne und busenprall geblähten Segeln über einem weithin lesbaren Text.
Auswanderer!
Hamburg–New York
Direkt
Ohne umsteigen
Besser und Billiger
mit der
Carr - Linie
Agentur Columbia
Hamburg, Baumwall 6
Diese Reklame fiel nicht nur in der Vaterstadt überall auf, sondern ebenso in Schleswig-Holstein, in Mecklenburg und auf allen Bahnhöfen und Gasthäusern, wo die Columbia seit je eingeführt war. Man sah das Plakat auch in Wien und, entsprechend übersetzt, in Lodz, in Kalisch, in Munkacz, Budapest, Prag und Belgrad. Dafür sorgte der Partner Carrs und ließ seine Verbindungen spielen.
Daß aber zwei dieser ins Auge springenden Affichen sich eines Morgens sogar links und rechts vom Eingang des Hapag-Gebäudes in der Deichstraße fanden, war allerdings, um mit John Meyer zu reden, ein „Sstarkes Sstück!“.
„Wäre dieser so unverblümt ins Geschirr trompetende Carr nur bloß nicht vor ein paar Wochen persönlich hier gewesen“, sagte er und dämpfte die aufquellende Empörung mit einem Schluck Schottisch, wischte sich den Mund und fuhr fort, „so würde ich leugnen, ein Mann mit Reitpeitsche verstünde die Seefahrt, es sei denn, er ritte ein Walroß zu.“
„Er wird wohl eins gefunden haben, lieber Meyer“, meinte Konsul Witt. Johann Witt, in Firma Witt & Büsch, Westafrika-Handel von der Glasperle bis zur Flintenkugel, vom Emailletopf bis zur Salonkarosse nebst Schnaps, Kurzwaren und Tabak. Rückfracht: Baumwolle, Palmkerne, Sesam und Elfenbein. Man hatte Faktoreien in Lagos und Porto Nove, zwei eigene Seedampfer und drei für den afrikanischen Küstenverkehr.
Witt fühlte sich in allen Weltteilen zu Hause, er war Goldwäscher in Kalifornien gewesen und Negeraufseher in Nigeria, hatte zu Lagos Niederlassungen des Hamburger Hauses O’Swald geleitet und lebte schon lange in der Heimat, selbständig und wohlhabend, so daß er, falls er es wollte, Senator hätte sein können. Es genügte ihm aber, wegen gelegentlicher Beratung von Landsleuten im Ausland hin und wieder Konsul genannt zu werden, was der einzige Titel in den Hansestädten ist, den man außer dem des Senators schätzt. Neben seinen Kontor- und Lagerfunktionen gehörte er dem Vorstand der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt A.G. an, ohne gezwungen zu sein, Reden zu halten. Denn nichts haßte er mehr. Dafür waren seine privaten Äußerungen desto zwangloser. Er versagte sich selten Schilderungen seiner Abenteuer im Busch, schon um erkennen zu lassen, daß ihm aber auch gar nichts mehr imponieren könne.
Zwanglos bediente er sich des wie üblich auf „Geschäftsunkosten“ dargebotenem Trink- und Rauchbaren und ließ den Blick begütigend über die sich vor Meyer häufenden Abrechnungen an Besatzungssorgen, Werft- und Dockkosten, Ausrüstungs- und Passagelisten gleiten.
Meyer fing diesen Blick wie einen Eindringling ab und seufzte: „Konsul, Carr wird mit seinen Dampfern – ich hätte sie haben können – direktemang ins Unglück galoppieren. Übermut muß individuell kapseis gehen, wenn er nicht unbelehrbar verwerflich weiterwuchern soll. In meiner Ablehnung war ich mir der zustimmenden Ansicht des gesamten Vorstandes sicher, wie Seesalz gegen zugefrorene Siele.“
Witt blickte belustigt aus dem Fenster. Draußen bemühte sich ein Bürodiener in Blau und Silberlitzen, die Plakate mit Wasser und Bürste von der Hauswand zu entfernen, ohne über anzüglichen Bemerkungen Vorübergehender die Würde zu verlieren. Meyer fuhr emphatisch fort: „Uns an die Wand zu drücken, dazu gehört mehr als Affiecherei.“
„Sie sollten sich nach dem Leim erkundigen, Meyer“, meinte Witt, „dann würden unsere Maßnahmen vielleicht auch so trefflich angebracht sein.“
„Herr Witt!“ Meyer erhob sich. „Wertester Konsul! Sie haben wohl diverse Aktien unserer Reederei, aber im übrigen dürften Sie, im Gegensatz zu uns, bewunderswert viel von den Bumbooten des afrikanischen Schelfs und den Bedürfnissen der Kruneger verstehen. Vergessen Sie nicht, daß unsere Packetfahrt als erste deutsche Linie gewagt hat, den Kampf gegen die amerikanische und englische Konkurrenz mit eisernen Schraubendampfschiffen aufzunehmen, über die alle Leute hier zuerst nur gelacht haben und meinten, sie könnten schneller mit ein paar alten Bettlaken übern Ozean segeln.“
„Jetzt lachen andere, lieber Meyer.“
„Ja, unsere Dividendenempfänger.“
„Dann würde ja auch ich lachen.“
„Konsul, eher könnte man einem Gorilla die Gretchen-Arie beibringen, als Ihnen ein gottgefälliges Mienenspiel. Haben wir nicht neue Prachtdampfer im Bau, einen auf englischer Werft und in Hamburg und in Stettin ebenfalls?“
„Wie groß?“
„Je über dreieinhalbtausend Bruttoregistertonnen; ist das ein Kaninchenstall?“
„Gegen das, Meyer, was sonst an Qualität auf dem Atlantik schwimmt, ja. Bremen baut genau doppelt so groß.“
„Herr Witt, Schiffe über viertausend Tonnen brechen mitten durch, wenn sie auf den Kamm einer richtigen Ozeanwelle geraten.“
„Unfug!“
„Eben! Und wie will Bremen diese unvorstellbaren Räume vollkriegen?“
„Wahrscheinlich durch das, was sie uns ablausen; das übrige nimmt Carr.“
Meyer warf sich in die Brust: „Konsul, sind Sie für Tamtam? Glauben Sie, daß ein vernünftiger Mensch solcher Marktschreierei von Plakat nachläuft, wie die Katz’ dem Bücklingskorb?“
Witt lachte. „Meyer, als ich Anno Krug zu Togo gleich hinter Little Popo im Urwald das erste Nashorn sah, da dachte ich auch: so was kann’s doch gar nicht geben, und ich wär’ ja dabei wahrhaftigen Gott’s denn auch beinah’ auf der Sstrecke geblieben, hätte ich nicht im letzten Momang mit wohlgezielter Büchse ...“
Er hob den Spazierstock aus Ebenholz an die ergrauend-rötliche Fräse der vollen Wange und ließ ein „Päng“ gegen das Dschungel eines Aktenregals erschallen.
Meyer zuckte gebührend zusammen, sank steil in den mageren Sessel neben seinem Pult und rief vorwurfsvoll: „Herr Konsul will doch nicht meinen, daß uns derlei ägyptische Plagen etwa durch diesen Carr bevorstehen könnten?“
„Ich würde das Pulver trocken halten, Meyer. Ist es nicht der, so ist es der, der ganz unten am Rand des Plakats als Agentur vermeldet ist.“
Witt hob zum Abschied den Elfenbeinknopf seines Handstocks nur so eben zum Gruß.
Aber der erregten Ahnung Meyers wollte es dünken, als sei mit leichtem Paukenschlägel das Zeichen gegeben für eine höchst unbequeme Zukunftsmusik.
*
Anderthalb Jahre darauf stellte Carr zwei weitere Dampfer in Dienst. Die russischen Maigesetze 1882 hatten Ballin völlig recht gegeben. Ein Strom von Drangsalierten schwoll von Ost und Südost den Nordseehäfen zu. Aber nicht nur die Columbia-Agentur zugunsten der Carr-Linie, sondern auch andere Reedereien unterhielten ein Netz von Zwischenfängern längs der Grenze, die es an nichts fehlen ließen, das Blaue vom Himmel für die Beförderung in die Freiheit zu versprechen. Die Vorzüge der Carr-Dampfer blieben allerdings nicht verborgen. Besser als jeder Prospekt und jedes Plakat wirbt die Leistung, die sich herumspricht.
Aber die Leute verlangen, daß das Gute auch billig sei. Carrs Plakate versprachen nicht zuviel. Er war wirklich billiger.
Binnen kurzem unterboten notgedrungen die übrigen atlantischen Reedereien seinen Zwischendeckpreis, zuerst die Bremer, dann die Franzosen. Carr, von Ballin beraten, folgte gnadenlos und machte trotzdem noch sein Geschäft. Jedenfalls sorgte Columbia für immer vollbesetzte Passagen gen Westen, wozu sie sich verpflichtet hatte. Sonst wären für jeden Ausfall vertraglich pro Kopf zwanzig bis fünfunddreißig Mark fällig gewesen.
Auch gelang Ballin eine hinreichende Heranschaffung von Speditionsgütern, selbst bedeutenderer Frachten von drüben. Auswanderer, die von den amerikanischen Behörden aus Gesundheitsgründen abgewiesen wurden, mußten kostenlos heimbefördert werden. Dazu gehörten auch die Schwangeren. Das Land der Freiheit drüben ließ niemanden hinein, der sein Gesicht nicht zeigen konnte und unter Deckmantel reiste.
Ballin hatte sich übrigens keineswegs mit Haut und Haar dem jungen Unternehmen verschrieben. Ein Mann wie Carr schien ihm von Natur geneigt, die Sättel öfters zu wechseln; war er von Sloman abgesprungen, würde er womöglich auch bei einer eigenen Linie nicht aushalten.
Sein Partner hatte sich darum Vorbehalten, die Liverpool-American-Line mit dem Überschuß an Passagieren noch weiter zu beliefern. Er hielt so die Verbindung mit der britischen Schiffahrt. Der Direktor der alten Reederei in Liverpool, Mister Wilding, blieb zeitlebens mit ihm befreundet. Das sollte sich rentieren, genauso wie die Treue zu Ernest Cassel.
*
Albert Ballins Kontor am Baumwall wirkte enger, aber sehr viel bunter und munterer als die steife Vornehmheit der Hapag in der Deichstraße. Hafendunst und Tabaksqualm hatten ihre Spuren auf Wänden und Einrichtung hinterlassen, doch gab es auch freundlichere Andenken, dediziert von Seefahrern der Bekanntschaft: Unförmige Fregattenmodelle und zierliche Buddelschiffe, Fetische vom Kongo und geschnitzte Südseepaddel. Und es fehlte weder das Konterfei der ersten New Yorker Wolkenkratzer noch der Federschmuck eines Indianerhäuptlings. Hinter Glas und Rahmen prangte der Dankesbrief eines Chikagoer Schlachtermeisters, der mit der Columbia-Agentur arm aber sicher über den großen Teich und sodann drüben zu Reichtum und Ansehen gelangt war. Ein ausgestopfter Haifisch mahnte unter verräuchertem Plafond an gewisse, dämonisch-unheimliche Gewalten des Meeres, denen entgangen zu sein sich bisher alle Schiffe rühmen konnten, die Ballin mit lebender und toter Fracht versorgt hatte. Und ringsum verkündeten die Plakate der Carr-Linie mit lauten Farben das große Abenteuer der Ferne.
Soeben war wiederum ein Haufen Auswanderer aus der Strelitzer Gegend unter Scherzen und Schmunzeln abgefertigt worden: Stämmige Bauernsöhne und Instleute, die es aus europäischer Enge nach der Weite des guten Savannenlandes gelüstete, blonde Leute, denen kein USA-Beamter den Weg in die Mais- und Weizenfelder drüben verwehren würde. Denn schon hatten amerikanische Pressestimmen davor gewarnt, allzu viele russische Juden als Proletariat in die Städte der Neuen Welt einsickern zu lassen.
Ballin hinter der langen Tonbank nickte zufrieden und rückte den goldenen Kneifer, den er seit neuestem statt der Nickelbrille trug, auf der Nase zurecht. Vor ihm lag ein Musterbuch für farbige Wolldeckenstoffe. Sein englischer Anzug saß tadellos nach der letzten Mode. Das sorgfältig gescheitelte Haar und ein wohlgestutzter Schnurrbart waren von jenem dichten feinen Schwarz, das früh grau und dünn zu werden pflegt.
Edward Carr hatte die Eleganz seines Teilhabers mit Genugtuung registriert. Seiner hanseatischen Verwandtschaft war das spöttische Augenzwinkern vergangen. Sein „Schlattenschammes“, das geduldige Arbeitstier, gut genug, die Hauptlast der täglichen Geschäfte zu tragen, hatte sich über Nacht als Erscheinung von Distinktion entpuppt. Der kleine Kompagnon hatte unauffällig seine Gleichberechtigung demonstriert. Lautlos hatte er zu betonen gewußt, daß er sich kaum in etwas hineinreden lassen und praktisch die Geschäftsführung in die Hand nehmen würde.
Die Rollklingel an der Eingangstür schepperte, und arrogant wie immer trat der Reeder ein. Er zog nachlässig grüßend einen Pack Rechnungen aus der Tasche, warf sie auf die Tonbank, schlug mit der Reitgerte drauf und äußerte nervös: „Das geht zu weit, Ballin! Wie wollen wir jemals diesen Etat an Überflüssigkeiten wieder herausholen?“
Der junge Mann lächelte: „Nur wer einsetzt, gewinnt. Ich habe sogar etwas vergessen, Herr Carr, was die anderen noch nicht haben. Wir werden jedem Fahrgast von nun an eine Schlafdecke für die Überfahrt zur Verfügung stellen.“
„Mit welchem Aufschlag?“
„Selbstverständlich ohne. Diese Qualität z. B. wäre geeignet.“
Carr schob das Musterbuch beiseite: „Unmöglich, glatte Verschwendung! Bedenken Sie allein die dauernd fällige Reinigung der vollgekotzten Filze!“
„Ist bedacht, Herr Carr. Wir brauchen neue Attraktionen. Wie wär’s mit dieser Farbe?“
Carr drehte sich auf dem Absatz herum. Draußen zog ein Rudel singender Auswanderer vorbei, an den Hüten steckte der Bettausweis seiner Reederei. „Wir haben doch auch so ganz hübsch zu tun!“ rief er.
„Ganz hübsch ist nie genug. Ich schlage vor, ab sofort die gleichen Verpflegungsrationen für unsere Fahrgäste auszugeben wie für die Besatzung.“
Carr schnappte nach Luft. „Nee, Ballin, das ist Völlerei.“
„Na, na! Ich bin sogar dafür, zugleich die Kost der Besatzungen etwas reichlicher zu gestalten.“
Es war, als höre Carr zum ersten Male, daß für seine Seeleute und Kohlentrimmer auch gesorgt werden müsse.
Ballin entgegnete: „Sonst mustern uns die besten Männer nach Bremen, England und Holland ab. Nur mit ausgesuchter und zufriedener Mannschaft übernehme ich die Verantwortung für die Transporte.“
„Sie ruinieren uns, Ballin!“
„Im Gegenteil – Sie und ich werden immer gesünder dabei!“
Carr zieht mißtrauisch Lider und Brauen nach oben. Aber vor dem offenen Blick aus den dunklen Augen vor ihm und der Heiterkeit und Zuversicht darin muß er kapitulieren. Er lächelt. Und plötzlich hebt er die Reitgerte wie salutierend. „Weiß der Kuckuck, Ballin“, sagt er: „Mister Cassel muß Sie tatsächlich gekannt haben.“
*
Die drei Töchter des Tuchhändlers Rauert waren als blonde Hamburger Schönheiten stadtbekannt. Zwei hatten früh geheiratet, die Älteste, Bertha Maria Georgine, in gute kaufmännische Verhältnisse am Ort, Johanna, ein Jahr jünger, nach Argentinien, wo ihr Mann große Estanzien besaß. Die Jüngste, Marianne, hatte sich noch nicht entschließen können.
Das Kleeblatt war wieder einmal beisammen: Johanna, von jenseits des Atlantik auf Besuch gekommen, nahm die Gelegenheit wahr, im großen Tuchlager des Vaters Stoff für ein neues Reisekostüm auszusuchen. Die Schwestern assistierten. Marianne, bereits im Achtundzwanzigsten, hatte verständlicherweise von den beiden unter der Haube Befindlichen einiges auszuhalten. Vater Rauert, mit stolzgeschwellter Brust, den glänzenden Blick auf seine geliebten „Drei Grazien“ gerichtet, ließ es sich nicht nehmen, Ballen über Ballen vom feinsten Cheviot, Homespun, Cord und Tweed mit dem suggestiv-eleganten Schwung des gelernten Textilmannes auf dem Tresen zu entrollen. Er war eine stattliche Erscheinung, gerade sechzig, ein Holsteiner Typ, an der Lübecker Bucht geboren, einer der überzähligen Bauernsöhne, die, magisch in den Sog der Großstadt gezogen, dort entweder lautlos zermahlen und verbraucht werden oder es zu Ansehen und Vermögen bringen. Er besaß etliche schöne Häuser am Jungfernstieg und den Colonnaden in der teuersten Lage. Der Handel mit englischen Stoffen, darin er als Laufbursche begonnen, war ihm zum Segen gereicht. Seine Töchter galten als gute Partien. Gerade das aber hatte Mariannens Mißtrauen gegen alle bisherigen Freier wachgehalten.
„Denen ging’s ja nur um Papas Mitgift!“ unterbrach sie kühl, als Johanna die Namen der Abgewiesenen mit spitzen Lippen nachkostete.
„Laßt mir mein Mariannchen in Frieden“, meinte behaglich der Vater. „Wo ich aufgewachsen bin, in Cismar, da steht das alte Benediktinerkloster, das ihr kennt. Das werd’ ich ihr schenken, sobald sie dreißig und noch immer Nönnchen ist. Alsdann mag sie eine Herde Stiftsdamen um sich versammeln und protestantische Äbtissin werden wie Ihre Magnifizenz zu Hamburg im Johanniskloster.“
Marianne lachte mit den anderen, wurde aber doch rot, als sie fragte: „Kann ich statt Stiftsdamen nicht lieber Kinder nehmen?“
„Gewiß, Liebling, aber nur, wenn’s deine eigenen sind und dein Mann als Klosterpförtner angestellt ist.“
Marianne küßte den Papa mit komischem Ernst auf die Stirn: „Also gut, Herr Rauert, ich will den Portier vom ‚Europäischen Hof‘ fragen, ob er bei dir Schwiegersohn werden will.“
„Samiel, hilf, das ist ja ein Neger!“ schrie der Tuchhändler entsetzt. Da stimmten die übermütigen Gattinnen Bertha und Johanna für die Jungfrau Marianne eins von jenen Liedchen an, wie sie zwischen den Tingeltangels von Sankt Pauli und Sao Paulo aus dem Ozean emportauchen:
Weit fährt ein Schiff
übers Meer, übers Meer.
Da steh’ ich an Bord,
und ich warte so sehr.
Wann sind wir denn da,
hallo, Kapitän,
in dem Hafen der Liebe
vor Anker zu gehn?
Oho!
Da kam ich nach drüben, oho!
Da standen drei Männer, oho!
Der eine war blond,
der andere war braun,
der dritte war schwarz
wie die Nacht anzuschaun.
Oho, oho, oho!
Sag’, warum liebst du mich so?
Sie hatten unterdes fleißig unter den Bergen von Stoff gewühlt und dies und das, was ihnen gefiel, der zu guter Letzt einfallenden Marianne – ohne sich selber dabei zu vergessen –, in flüchtiger Drapierung angehalten, wobei sich alle drei vor einem riesigen Spiegel hin und her drehten.
Modealben wurden aufgeschlagen, deren rundliche Figuren teils die gluckhennenhafte Linie des „Cul de Paris“ zeigten, teils die Wespentaille der Zukunft mit Röcken ohne Schweller und einer ersten Andeutung von Puffärmeln.
Endlich hatte Bertha einen weichfallenden Wollstoff in Zeisiggrün gefunden, der ihr anstand. Vater Rauert atmete auf und seufzte zugleich, da sich alsbald eine Flut weiterer Wünsche über ihn ergoß, die es unwiderstehlich auf die nötigen Jupons abgesehen hatten. Sie tänzelten selbdritt in die hinterste Ecke des Lagers und zogen eigenhändig die schmaleren Kartons hervor. Nun ertrank der Ladentisch in einer fürstlichen Flut knisternder, regenbogenfarben schillernder Tafte, Foulards, Chiffons und Moirees. Herr Rauert kostete mit der ganzen Routine des gewiegten Importeurs seinen Kommentar über Herkunft, Güte und Eigenart aus. Doch, da er Marianne sich verzückt über ein leuchtendes Seeblau beugen sah, fiel ihm etwas anderes ein.
„Vielleicht“ – er ließ genießerisch zögernd die Frage auf der Zunge zergehen –, „vielleicht ist da noch ein tieferer Grund, daß unser Nesthäkchen so wählerisch ist. Bei diesen majestätischen Stoffen müßtet ihr selbst daraufkommen, Kinnings. Insonderheit bei diesem unwahrscheinlichen Blau. Erinnert ihr Süßen euch noch an Helgoland?“
„Ich hab’s!“ triumphierte Johanna: „Ein Prinz muß es sein!“
„Ein Prinz, ein Prinz!“ jubelte Bertha und klatschte in die schon hausfraulich pummeligen Hände.
Marianne lief an wie ein Borsdorfer Apfel im Oktober. Es war lange her, da hatten sie zu dritt „Räuber und Prinzessin“ mit wirklichen Prinzen gespielt, mit den Enkeln vom alten Kaiser, Willy und Heinrich. Die waren damals noch klein, aber namentlich Willy, ziemlich keck trotz des kurzen linken Arms; er hatte Mariannens gelöstes Haar, das schon damals bis zu den Füßen gereicht, wie einen Strick gepackt und geschrien, sie sei seine Gefangene und er wolle sie heiraten.
„So ist das!“ kicherten die Schwestern.
„Und dann sind sie beide ins Wasser gefallen“, lächelte der Papa.
„Und Willy hat die Aujuste Victoria von Glücksburg geheiratet“, versetzte Johanna.
„Die unserer Marianne übrigens merkwürdig ähnlich sieht und sogar ebenfalls etwas älter ist als Willem“, fügte Bertha hinzu.
„Eine Hanseatentochter hat keinen Prinzen nötig!“ resümierte der Vater und lauschte auf das Läuten einer fernen Klingel. „Das Telefong“, rief er und eilte ins „Comptoir“, in eine abgeteilte ferne Ecke des Raumes, die sogar – für etwaige vertrauliche Zollfragen vielleicht – eine Polstertür aufwies, dahinter denn neben dem Geschäftspult und dem Kassenschrank und dem gerahmten Steindruck wild qualmender Elberfelder Spinnereischlote der ominöse Kasten an der Wand hing, mit dem das Zeitalter des Geschwätzes unsichtbarer Partner begann, indes in vorliegendem Falle ökonomischerweise die Dreiminutengebühr nicht überschritten wurde.
Die Damen, sich überlassen, wühlten stumm in den chinesischen, Lyoner und Krefelder Geweben. Dann entschied Johanna: „Bitte, jetzt nehmen wir gleich Maß!“ Sie schlüpfte aus dem faltenreichen Kleid und den Leinenröcken darunter und stand nun in langen weißen, spitzenbesetzten Unaussprechlichen da.
Wie aus der Versenkung tauchte in diesem Moment plötzlich ein junger Mensch auf. Mit halb ersticktem Aufschrei gelang es Bertha gerade noch, die Schwester in eine Woge schimmernden Seidenripses zu hüllen.
Marianne hatte eben verträumt vor sich hingeflüstert: „Aber wenigstens blond muß er sein.“ Jetzt trat sie beherzt hervor und seufzte: „Womöglich ein Kunde.“
Der Fremde, hinter seinen leicht beschlagenen Zwickergläsern zwinkernd – er schien kurzsichtig zu sein –, trug ein Päckchen Wollstoffmuster in der Hand. Er verbeugte sich unter Entschuldigungen und wollte sich zurückziehen.
„Was wünschen Sie denn?“ frug Marianne.
„Man sagte mir, der Chef sei hier oben. Ich bin angemeldet und möchte Wolldecken fürs Zwischendeck.“
„Wollen Sie auswandern und auf so unbequeme Weise dazu?“ Ein jähes Mitgefühl mit diesem höflich und versonnen dreinschauenden Menschen, der so sorgfältig gekleidet war, kam über Marianne.
„Nicht ich, gnädiges Fräulein“, erwiderte der Besucher und blickte freundlich. Doch dann verstummte er jäh, als müsse er eine Verwirrung meistern. Und dabei hätte er gern etwas gesagt, etwa: „In so einem Moment möchte kein Hund ans Auswandern denken, wenn man geradezu vor der blonden Fee der Wasserkante persönlich steht.“ Er schwieg, blaß bis zu den Haarwurzeln.
Auch Marianne sagte nichts. Er ist dunkel wie ein Spanier, dachte sie, indessen die Schwestern erwartungsvoll herüberlugten. Es war wie eine Ewigkeit. Dann nahte der Schritt Papa Rauerts.
Merkwürdig, diese sachten eilfertigen Tuchhändlerssohlen klangen dem jungen Manne, der so völlig unvorbereitet sich gebannt fand, wie Hammerschläge, geeignet zu zertrümmern oder zusammenzuschmieden. Vorerst jedoch vermochten sie das magische Gespinst, das seit Urbeginn unversehens und augenblicks geneigt ist, sich zwischen zwei Menschen zu knüpfen, nur ein wenig zur Seite zu drängen.
Der junge Mann wandte sich um, wie von rostigen Drähten gezogen.
Rauerts Stimme kam auf ihn zu: „Mein Sohn Rudolf hat Sie soeben angemeldet. Sie sind von der Carr-Linie? Haben unsere Muster konveniert? Kommen Sie! Überzeugen sich in natura!“
Den Töchtern blinzelte er ein „Kleinen Moment!“ zu, nahm den Kunden ins Schlepp und verschwand mit ihm über die Treppe ins Erdgeschoß hinab, wo die Fertigwaren ihren Platz hatten.
*
Ballin entschuldigte sich, daß er versehentlich in die Damenabteilung geraten sei.
„Haben wir gar nicht, mein Herr“, sagte Rauert, „hier ist alles für alle. Das da oben sind nur meine Töchter.“
Auf einen Wink des Chefs trugen Ladendiener Stöße von Wolldecken herbei.
„Die grüne Sorte wär’s“, sagte Ballin.
Herr Rauert, genießerisch eine Ecke der Ware zwischen Daumen und Zeigefinger reibend, strahlte: „Erstklassige Qualität, freut mich, daß Sie Kenner sind. Übrigens sind Kinder immer die besten Abnehmer, das werden Sie vielleicht auch noch eines Tages merken. Soll’s also diese sein?“
„Ja“, antwortete Ballin, und ihm war, als meine er nicht nur die grüne Decke.
„Weich, mollig, anschmiegend, ausdauernd, rentabel, mit einem Wort englisch. Damit zu schlafen, wird Ihnen sicher ein ungetrübtes Vergnügen bereiten. Oder wünschen Sie etwas noch Besseres?“
„Durchaus nicht“, stotterte Ballin. Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. „Es ist für unsere Zwischendeckpassagiere gedacht.“
Rauert strahlte noch mehr: „Ah, Sie benötigen nicht nur ein Exemplar? Da kann ich Ihnen Mengenrabatt geben!“
„Sechshundert Stück!“
„Gut, sehr gut. Sie bekommen f. f. Preisnachlaß, Lieferfrist eine Woche, direkt von Yorkshire. Werde gleich telegrafieren, geht heute ja so einfach. Entsann mich gerade vorhin eines Auftrags von höchster Stelle. Ging ich da mit meinen drei Töchtern – es waren noch Backfische –, Sommer 69 über die Falm auf der Insel Helgoland, es regnete. Sie trugen ihre Capes, hübsche echte Mackintoshs. Begegnet uns der deutsche Kronprinz, bärtig wie Wotan, mit seinen beiden Buben, alle unter triefenden Umbrellas. Batz, bleibt der kleine Willy stehen und sagt keck: Das sind aber praktische Regenschirme, Papa, die kann man ja anziehen. – Was sagen Sie, im Handumdrehn hab’ ich für die Prinzen solche Umhänge besorgen müssen, und da es sich um britische Ware handelte, war es den Herrschaften ein besonderes Pläsier. Charming indeed. Ist doch die hohe Mutter eine Tochter der Queen drüben und geruhte mir bei prompter Lieferung – leider ging es noch nicht telegrafisch, aber man hatte damals auch noch viel mehr Geduld – vermelden zu lassen, daß sie geradezu erwäge, Potsdam nach Hamburg zu verlegen.“
*
Der Kunde ging, und Rauert flitzte die Treppe wieder hinauf. Seine Beine kamen ihm noch immer jung vor, aber vor der letzten Stufe mußte er anhalten. „Es ist das Herz“, seufzte er.
Die Töchter hatten sich inzwischen entschlossen. Das Gespräch war von den Stoffen auf den merkwürdigen Eindringling übergesprungen. „Wie er dich angeglupscht hat mit seinen Brombeeraugen hinter Glas!“ spottete Bertha.“
Der Vater rieb sich die Hände: „Eine wirklich angenehme Verbindung. Dabei versteht er sogar was von Qualität.“
„Und was für Qualität“, zwinkerte Johanna.
Bei Marianne entlud sich die angestaute Spannung: „Ein gräßlicher Mensch!“ schrie sie auf und wurde rot wie eine Tomate.
„Jedenfalls kein Prinz“, konterte Bertha, „und auch nicht blond.“
Der Vater hob scherzend den Finger: „Aber, liebste Marianne, gerade bei dir hab’ ich immer nur auf garantiert waschechte blonde Enkelkinder gehofft.“
Joseph trat mißmutig in die Kammer: „Dieses elende Gewinsel!“ Denn Albert saß auf dem Bettrand und strich das Cello, ließ jedoch bald den Bogen sinken und stellte das Instrument hinter den Schrank. Joseph indes fuhr fort zu knurren:
„Wenn das so weiter geht, Bruderherz, daß du nachts beliebst, plötzlich hochzufahren und Licht zu machen, und mit kratziger Feder Briefe zu schreiben, dann ziehe ich aus.“
„Das solltest du nicht, Joff. Dann könnte ich es mir doch noch eher leisten.“
„Protze nicht! Leih’ mir lieber ein paar Silberlinge. Ich hab’ einen fulminanten Tip für Valparaiso, echte Regierungsbonds.“
„Würd’ ich nicht machen, Joff. Denen stopft ganz Europa die Kapitalien förmlich in den Schlund. Werden sich bald übergeben.“
„Du magst von ozeanischer Dampfkraftverwertung und sanktioniertem Sklavenhandel dein Teil verstehen, teuerster Albert. Mich aber laß’ schlafen und wachen, wie mir’s gefällt. Oder fürchtest du etwa, deine Zinsen einzubüßen?“