Читать книгу Des Kaisers Reeder - Hans Leip - Страница 7

4. Die Hapag wird unruhig

Оглавление

Woermann ist fürs Haben · Weltweite Herzen · Sind Kolonien gut? · Ein Sporenhieb · Zoll und Anschluß · Meyer wird Direktor · Zerplatztes Ruhmesblatt · Die Reitgerte knallt · Gestillter Atlantik · Fusion auf Abruf.

Adolph Woermann wartet stämmig an der rindsledernen Kante des Sitzungstisches. Seine weißgeblümte graue Pikeeweste wölbt sich wie das Vorgebirge einer neuentdeckten Küsteneinfahrt. Vom Leinwandhandel ist sein Vater Carl einst aus Bielefeld in die Hansestadt eingewandert. Nun dient die griffige Ware den schwarzen Missionszöglingen zwischen Gabun und Windhuk, die Unschuldsblöße mit Hemden der Firma zu verhüllen. Das bißchen Beigeschäft mit Flinten und Schnaps – blaue Glasperlen ziehen kaum noch – allein den Engländern zu überlassen, wäre moralisch ungenügend vertretbar. Es gibt noch manche Möglichkeiten auf dem dunklen Erdteil, der noch vor kurzem solch unermeßliche Umsätze durch den Sklavenhandel gebracht hatte. Das lebendige schwarze Elfenbein hatte sich durch den billigen Transport des toten weißen aus dem Innern des Kontinents doppelt bezahlt gemacht. Nun sind auch die Elefantenzähne teurer geworden wie alles in der Welt.

Das spürt selbst die Hapag, an deren Verhandlungstisch Woermann sitzt. Sie hat sich zwischen den weißen Küsten auf längst gebahnten Seechausseen eingefahren. Sie ist gegründet worden, um den Umweg über England zu sparen. Und darin liegt das Ungeheure, das Großartige, das Gefährliche. Mit vier bescheidenen Seglern hat die Gesellschaft 1847 den zähen Kampf gegen die Herrschaft der Meere angesagt. Wer beachtete sie damals schon? Jetzt besitzt sie zwanzig Dampfer, die nicht mehr zu übersehen sind, weder wegen ihrer Zahl noch ihrer Stattlichkeit. Woermann räuspert sich und spricht: „Unsere neuen Statuten, meine Herren, geben uns die Gewähr, daß vorerst das Notwendige getan wurde. Wir können nichts als abwarten. Als meine Firma in Gabun den ersten Kaffee geerntet hatte, haben wir ihn in der Familie mit der gebotenen Festlichkeit getrunken. Die Tasse stand mit rund fünftausend Mark zu Buch. Aber drei Jahre später konnten wir über Kakao einen Jahresgewinn von zweihunderttausend Mark erzielen. Man darf also nicht müde werden, selbst bei der Hapag nicht.“

Woermann kann in diesem Augenblick nicht ahnen, daß das gleiche Kamerun-Geschäft rund drei Jahrzehnte später – wenn auch ohne ihn – jährlich glatte zweiundsiebzig Millionen Mark ab werfen würde, nicht viel weniger als im selben Jahre die Hapag, deren riesenhafte Entwicklung er genausowenig voraussehen konnte.

Mit der Routine des hansischen Reichstagsabgeordneten fährt er fort: „Jeder von uns, meine Herren, hat mehr oder weniger selber Dampfer laufen. Sie wissen, meine Firma pflegt seit kurzem auf einer Hamburger Werft bauen zu lassen, bei Blohm & Voss. Nicht mehr, wie sonst zumeist üblich, auf englischen Werften. Das ist sehr schmerzlich für unsere englischen Freunde, und es wird eines Tages mehr als nur ein Augenzudrücken drüben und ein Augenzwinkern von uns dazugehören, um Frieden zu halten. Aber wenn die Briten argwöhnen, wir wollten die Hamburger Grenzpfähle rund um den Ozean am Kongo, Sambesi, Mississippi, La Plata und drüber hinaus am Ganges und Jangtsekiang aufpflanzen, dann überschätzen sie unsere Intensionen gewaltig. Was wir wollen, ist, wie Bismarck sagt, nur eine Luke aufstoßen, damit Seeluft hereinkommt.“

„Aber unseres Godeffroys Bruder, Cäsar VI., hat er in der Südsee verhungern lassen!“ wirft der Reeder Laeisz spöttisch ein. Woermann ist von Berlin her Unterbrechungen gewohnt und zuckt nur die Achsel: „Cäsar hätte dem Kanzler rechtzeitig eine Luxusjacht zur Besichtigung widmen sollen. Und auch dann wäre Ozeanien wenig geeignet gewesen, den Überschuß unseres Bevölkerungszuwachses aufzunehmen. Was für einen einzelnen Wagehals dort zu gewinnen ist, bedarf keiner Reichshilfe, falls er sich nicht übernimmt. Wir werden unserer aufblühenden Industrie so oder so Rohstoffgebiete sichern müssen und Absatzgebiete dazu; und durch die Tüchtigkeit unserer Kaufleute geschieht das automatisch. Kolonialgebiete? Das ist ein teures Kapitel. Wir sind ein bißchen spät an den Futtertrog gelangt, an dem die britische Bulldogge schon ein paar Jahrhunderte lang frißt. Gleichwohl mißgönnt sie uns knurrend die paar abgefallenen Brocken. So ist es verständlich, daß wir wenigstens genügend Schiffsraum haben müssen, um den Ex- und Import nicht unter fremder Flagge zu bewältigen.“

„Ein paar Panzerkreuzer zur Unterstützung täten nicht schlecht!“ ruft Herr Kirsten.

Die Runde des Aufsichtsrates lächelt. Nelsonische Anwandlungen sind in Hamburg nicht beliebt. Die Tage Störtebekers, des Störenfrieds, dem man auf die Finger geschlagen, sind seit dem Jahre 1401 so ziemlich vorbei. Aber nachdem vor kaum zwanzig Jahren zu Versailles ein neues deutsches Kaiserreich gegründet worden ist, haben auch in Hamburg Patrioten damit angefangen, über lokale Interessen hinaus der Welt die Faust zeigen zu wollen. Selbst im Verwaltungsrat der Hapag gibt es zwei Lager. Sie erhitzen sich gegenseitig.

Woermann gähnt verhalten. Dann beginnt er gedehnt von neuem: „Wir in Hamburg haben –“

Jäh wird es wieder still. Das Wort „haben“ wirkt zu Hamburg immer.

Woermann nutzt den Augenblick: „Wir haben die Hand am Puls der Welt, wir merken zuerst, wenn es auf den Kontinenten knistert. Unsere Bilanzen sind die Fieberkurven der Weltgesundheit. Das letzte Jahr gab es überall Mißernten, Fallite, geplatzte Wechsel. Was dürfen wir da anderes erwarten als mäßige Frachten, leere Kabinen und überall einen Strich in den Abrechnungen der Hapag, wo das letztemal noch etliche Prozent Dividende standen.“

Herr Kirsten sendet Wolken von Pfeifenqualm in die allgemeine Betretenheit. Auch er hat ein paar Schiffe laufen, London, New Castle, Chile. Keine Konkurrenz für die New-York-Route deren Klagen er nicht begreift: „Es gibt doch Auswanderer genug, die verhungert, getriezt und geschunden dieses blühende Europa und neudeutsche Vaterland verlassen wollen!“ ruft er behende.

„Alles nur Nusch!“ erwidert Herr Tietgens. Er denkt in Kautschuk und dehnbar. Aber bei fehlender Dividende wird die zäheste Aktiengeduld erschöpft, und so fügt er bissig hinzu: „Jedoch nicht nur den nimmt uns Carr ab.“

Carr, Reederei Edward Carr! Das ist ein Wort wie ein klirrender Sporenhieb. Der Tisch scheint sich zu bäumen, und Herr Robertson haut mit der Faust darauf. Carr hat die Frachtenraten wieder einmal unterboten.

Woermann, noch immer stehend, lacht gefällig. Die Westenfalte glättet sich über dem braven Börsenbeefsteak. Sein Lachen wirkt wohltuend, erprobt hinter dem Rednerpult der Volksvertretung, es gleicht aus und beruhigt wie ein Eiderdaunenoberbett. Doch er erwidert nichts. Er denkt immer nur an Afrika. Jetzt kommt Laeisz zu Wort, Carl Laeisz. Sein Vater Ferdinand war mit selbstgemachten Zylinderhüten groß geworden. Er hatte dem Mischmasch Südamerikas den Anschein von Gentlemen verliehen. Und hatte die Hapag mitbegründet. Die Anfangsbuchstaben seines Namens aber wehen noch immer im Vortop eigener Drei-, Vier- und Fünfmast-Segler, der weißen Flagge der Flying P-Liner, von „Pudel“ bis „Pamir“ und „Potosi“. Jetzt gehört sein Nachfolger und Sohn, wie einst er, dem Aufsichtsrat der Hapag an. Und ihm scheint dringlich, den schlappen Segeln gen USA etwas Ozon einzuflößen. „Carr mag auf hohem Roß sitzen, und wir wollen ihm seinen Pferdestall gönnen und uns nicht veräppeln lassen. Aber besser wäre es, wenn wir endlich anfingen, dem Norddeutschen Lloyd die guten Kajütspassagiere wieder abzunehmen. Das ist meine Meinung.“

Woermann, noch immer stehend, da er den Vorsitz führt, lächelt abermals. „Die Hapag ist an der Grenze ihrer Tonnagemöglichkeiten angelangt. Die Weser ist eben tiefer.“

„Tiefer gebaggert!“ sagt Kirsten.

„Dafür sind unsere Schiffe handlicher, und bis vor kurzem noch waren sie auch immer voll“, wirft Herr Tietgens ein.

Woermann antwortet: „Es wird die saure Aufgabe des neuen Vorstandes und Aufsichtsrates sein, sie wieder vollzumachen.“ Er setzt sich. „Das nennt man Vollmacht!“ kalauert Laeisz und blickt John Meyer an.

Der wacht plötzlich auf. Er hat wahrhaftig ein „büschen genickt“ bei dem Gerede, das er bis zum Überfluß kennt. So voll wie wirklich voll, so viel gibt es gar nicht, lächelt er sich zu.

Nun beugt sich Johann Witt vor. Seine Porterwangen sind prall von dem Wort, das ihm seit einer Viertelstunde auf der Zunge schwillt. Jetzt platzt es hervor, dicht an Meyers Ohr: „Und der Zollanschluß?“

Das Wort knallt wie ein Geschoß in die Sitzung.

„Prost, Mahlzeit!“ ist alles, was Meyer erwidern kann.

Da erhebt sich Oskar Ruperti, sonorer Fünfziger, Teilhaber des Bank- und Handelshauses Merck & Co., versippt und verschwägert mit allen trefflichen hansischen Namen. Die Rupertis sind gleichfalls aus dem Binnenland in den Sog des elbischen Welthafens geraten. Wie beim Stuhle Petri die Kette des Geistes nie abreißt, so hier an der Elbe die des Blutes, seitdem etwa der Heereslieferant Karls des Großen – im Tauschgeschäft norwegischen Stockfisch gegen welschen Wein liefernd – einen zu St. Gallen geborenen Leinenhändler als Teilhaber aufnahm und ihm die Hand der Tochter überließ.

Rupertis Figur vereint die Schlankheit des Vaters mit der robusten Zähigkeit seiner Merckschen Mutter. Sein männlich schönes backenbärtiges Gesicht hat seit der harten Lehrzeit in den Südstaaten der USA den Ausdruck einer straffen Beherrschtheit angenommen. Dort hat er noch Sklaven kommandiert. In seiner Stimme schwingt noch etwas von der Schmiegsamkeit frisch gepflückter Baumwolle mit, obschon die Firma sich längst auf das einträglichere Geschäft mit Chilesalpeter, ausländischen Fisch- und Fleischmehlen, heimischen Phosphaten und dem Mist überseeischer Meeresvögel, dem Guano, umgestellt hat. „Meine Herren“, sagt er verbindlich und zieht die Mundwinkel ein wenig nach unten, „lassen Sie uns dem Gedanken des Zolles so wenig Bedeutung beimessen, wie dem des Anschlusses. Es sei denn, wir freuten uns, auf der Elbchaussee und wo sonst immer wir ins Preußische fahren, endlich unser Bett- und Silberzeug unverzollt bewegen zu können. Freihandel ist immer das, was man staatlichen Maßnahmen zum Trotz zuwege bringt. Ich hatte mit Woermann und Münchmeyer bis heute einige Jahre lang den sogenannten Verwaltungsrat der Packetfahrt zu vertreten. Wir sind darin, wie die Herren von der Aufsicht, selbständige Leute und haben die Hapag wie ein Ziehkind übernommen, das unsere Väter gemeinsam gezeugt haben. Allmählich dürfte es mündig sein. Und es hat unter der Dreitürme-Flagge genau wie unsere Erbfirmen der Welt gezeigt, was Hamburg bedeutet. So ist es auch unter der Flagge des Reiches geblieben, wie unsere Stadt: Frei und hanseatisch. Das Reich ist für uns Hinterland wie der übrige Kontinent. Wir haben es im Rücken. Daß es uns denselben stärke und nicht bloß unter unseren Achseln hindurch in unsere weltweiten Beziehungen hineinfingert, dafür werden wir denn ja wohl noch sorgen können!“

Ein ungeteiltes Bravo knarrt über die rindslederne Tischplatte. Sie ist braun und glatt wie die Haut der Mädchen auf den Atollen junger Handlungsgehilfenjahre. Aber hier ist sie der Inbegriff der Hapag, kalter Atlantik vor einer Planke aus Wolkenkratzern, nur mit einem kaum noch zu ahnenden Schimmer westindischer Buntheit.

Bleibt eigentlich nur noch Bremen; Nachbarn und Verwandte sind wie üblich immer die Unangenehmsten, wenn es darauf ankommt“, sagt langsam Tietgens und lehnt sich wuchtig zurück. Ruperti läßt die salpeterfarbenen Augen zum Fenster hinaus spielen, als läse er an den schiefen Speichergiebeln der anderen Fleetseite eine unlösbare Aufgabe.

Dämmerung sickert herein und legt sich in den einschläfernden Überseedunst der Importen. Rotspongesichter schwimmen hinter den tropischen Verbrennungsschleiern wie Seetonnen in einem unsicheren Fahrwasser.

„Kramke soll Licht machen!“ sagt Meyer schläfrig und greift zur Messingglocke, die vor ihm lauert. Es bimmelt dünn wie Signale, die im Nebel übers Wasser kommen.

Eine von satter Ruhe erfüllte Grabesstimme sagt: „Am besten ist abwarten.“ Sie paßt zu Robert Mestern. Er meint, auch endlich etwas äußern zu sollen. Aber man hat ihn zum Vorsitzenden des neuen Aufsichtsrates nur deswegen gewählt, weil er das unwiderstehliche Vertrauen derer ausstrahlt, die sich nicht aufregen sollen. Sein Arzt hat die Angehörigen gebeten, den Weinkellerschlüssel zu übernehmen. Der Kreislauf des Hausherrn ist gefährdet. Wie der der Hapag.

Bürodiener Kramke erscheint, verschwindet und kommt wieder. Er stülpt mit gewandter Zehe die Stiefeletten von den Socken, schiebt zwischen Witt und Münchmeyer mit einem leidgeprüften „Gestatten die Herren!“ eine zerlesene „Börsenhalle“ auf den Tisch, dann ein Knie, dann das andere, und schwupp erhebt er und reckt sich wie die Statue St. Ansgars auf der Trostbrücke. Der empfindliche Konsul Münchmeyer hätte wohl gern, daß die Füße Kramkes auch aus Sandstein wären, obwohl er dann nicht imstande sein würde, ein Reißsticken an der rauhen Hausmeisterschürze und danach den Gaskandelaber zu entzünden. Paff! sagt es dreimal. Gelbe Helligkeit blendet jede Miene und läßt sie wie aus verzerrtem Blech glänzen. Herr Robertson beschattet die Augen. Das zarte Leuchten echten Schildpatts und Perlmutts, das sein Kontor neben Kobra aus der Südsee einführt, ist ihm angenehmer als dieses Kohlengasglühlicht. Die fünf Kuppeln unter der meerschaumfarbigen Decke schwimmen im Zigarrenhecht wie pralle Fischblasen, gefüllt mit dem Fett der Ferne.

Lähmend genießt das Schweigen sich selber. Dann sagt Witt: „Petroleum war doch gemütlicher“, und Laeisz erwidert: „Jawohl, bleibt alle man immer hübsch hinter der Zeit zurück. Und Bremen baut Schnelldampfer.“

„Dann geht’s auch schneller auf die Pleite zu“, beschwichtigt Herr Tietgen; er ist aus Liebhaberei Sportsegler. Ihn reizen Dampfer nur nebenbei als das kleinere Übel, der Geschäfte wegen. Aber was hilft es? Der mahnende Finger des Fortschritts pocht in die hergebrachte Gemütlichkeit. Durch die Fenster dringen die Geräusche des Verkehrs von Fahrzeugen und Pferdehufen. Sie schwellen an, lauter und schneller, immer lauter. Aber unentwegt fädelt sich ein fast lautloses Flüstern hindurch. Perzente, Perzente! lispelt es.

Die Wände frösteln wie der Reichstag um Mitternacht. Aus bräunlicher Patina blicken die Gründer dessen herab, was Hapag heißt. Lächeln sie? Woermann nickt dem Kollegen Münchmeyer zu. Dieser schließt daraufhin feierlich und wie erlöst: „Ich erachte es für hinreichend, die Übernahme der gehabten Rechte und Pflichten durch Herrn Mestern bekräftigt zu sehen.“

Mestern stemmt sich gewichtig hoch. Kaffee, Tee, Rohrzucker, Kakao gegen bar, reiner Import. Die Firma Tesdorpf & Co. unter seiner Leitung darf reinen Gewissens sein; sie hat nicht dazu beigetragen, stillere Kontinente mit europäischer Zivilisation zu verseuchen. Füllig ruht seine Hand auf dem Bündel der neuen Statuten, die doch nicht viel Neues enthalten, außer daß nun endlich die Besoldungsfrage für den gelöst ist, der die Arbeit zu tun hat. Bislang ist es ja mehr ehrenamtlich auf Spesen geschehen.

„John Meyer!“ sagt er schweratmend. „Hiermit ist, wie Sie wissen, Ihrer bewährten, von der Pike auf diesem Unternehmen angehörenden Kraft die volle Verantwortung der Geschäftsführung auferlegt. Wir ernennen Sie hiermit zum Direktor.“

Inzwischen hat sich auch Meyer erhoben. Hoheitsvoll, mit stummer Verbeugung, dankt er, und mit einer Arabeske der Linken unterstreicht er den souveränen Satz: „Ich nehme an und eröffne.“

Er fühlt sich wie Napoleon vor den Pyramiden und steckt die Rechte zwischen zwei Westenknöpfe, als wolle er das schwellende Herz kontrollieren. Er schlägt die Augen rund auf zu den Planeten der Gaskuppeln und denkt daran, daß jeder in einer Sitzung nur durch deren Kürze verträglich zu stimmen ist. So beschränkt er sich auf den Schlußsatz: „Indem ich die Herren für morgen zum Aufsichtsratsfrühstück zu Ehmcke einlade, schließe ich die Sitzung.“

„Endlich was Angenehmes!“ seufzt Witt erleichtert.

Aber Laeisz, schon aufgestanden, fragt sachte in das polternde Stühlerücken: „Wer zum Satan besorgt eigentlich die Passage, seit Bolten verzichtet hat?“ Das war so ein Punkt. Die Maklerfirma Bolten war Mitbegründerin der Packetfahrt gewesen und hatte sich seit kurzem zurückgezogen. Passage, das Heranholen und Betreuen der Passagiere. Die Herren sind schon den Mänteln, Hüten, Schals, Schirmen und Stöcken zugewandt, die Kramke und ein weiterer Bürodiener hereinschleppen.

„Das macht doch Meyer alles“, sagt Mestern.

„Ich?“ erwidert Meyer und hält ihm den Paletot. „Ich als Direktor? Für die Lauferei hab’ ich längst einen.“

„Muß das nicht gesagt werden?“ fragt Tietgens aus dem Halstuch hervor.

„Was wollen Sie sich mit solchem Kleinkram verplempern!“ entgegnet Meyer.

„Wer ist es denn?“ fragt Ruperti, von der Montage seiner Überstiefel auflugend.

„Ach, Herr Ruperti, wo schon das Wort Bremen gefallen ist, hab’ ich mir den besten Mann der Konkurrenz, für den er sich hält, gesichert. Er heißt Emil Ratte.“

„Die Ratten verlassen den sinkenden Lloyd?“ spottet Laeisz.

„Das wollt’ ich Ihnen gönnen, Herr Laeisz“, versetzt Meyer.

„Eine neue Ära der Packetfahrt!“ lacht Woermann. Mit diesem prophetischen Satz verläßt er als erster das Haus, die unerschöpfte Unternehmungslust eigenen Belangen zuwendend. Es wird mehr als zwanzig Jahre dauern, ehe er als gebrochener Mann die Räume der Hapag wieder betritt.

Er hört nicht mehr, daß Meyer noch weitere Eröffnungen losläßt. Aber es hätte ihn auch wenig berührt, zu erfahren, Carr sei einen Tag vorher dagewesen.

„Stellen Sie sich vor, meine Herren“, sagt Meyer. „Kommt also Carr und bietet mir seine nunmehrigen vier Dampfer an. Leicht wettergebeugt, aber die Reitgerte wie immer hervorragend. Na, sag’ ich, was soll es denn kosten? – Zweieinhalb Millionen, sagt er, das würde gerade hinreichen, ein weniger aufreibendes Leben als das eines Schiffsreeders zu führen. – Nee, sag’ ich: So viel Geld hat ja nicht mal der Weihnachtsmann, Herr Carr.“

Die Herren lachen geflissentlich, inzwischen schon in Pelz, Winterüberziehern, Handschuhen und Hut. Sie schütteln dem neuen Direktor die Hand, überlegen, ob sie nicht selber Bedarf hätten, der bei Carr zu decken sei. Aber die Weltlage ist nun einmal flau.

„Meyer hat recht!“ nicken die Herren, und sie beeilen sich, ins Familienleben oder noch einmal in ihr eigenes Kontor zu kommen. Vom Kathrinenturm schlägt es sechs.

*

Nur John Witt steht noch da. Sein Mund klafft wie eine offene Geldkatze. „Es sind sehr brauchbare Dampfer, Meyer“, sagt er.

John Meyer, voll neugebackener Würde, ist nicht scharf auf Einwände: „Bester Konsul Witt, meines bescheidenen Erachtens pfeift Carr aus der letzten Öffnung. Dem seine Untersätze kriegen wir noch ganz umsonst.“

Witt nimmt eine Brasil für den Heimweg: „Die eigentliche Arbeit, lieber Meyer, die Arbeit bei Carr, die macht nicht Carr.“

„Aber er kann doch nicht immerlos bloß reiten.“

„Wozu er sein Sitzfleisch verwendet, weiß ich nicht. Jedenfalls nicht in seinem Kontor. Man hatte mir über Quartiersmann Supp & Konsorten neulich zwanzig Klaviere für angeblich Porto Novo avisiert. Ich les’ aber ganz richtig: Pennsylvania aus dem Zettel und statt Witt deutlich Carr. Es gibt Pfoten, die schreiben Himmel, wenn sie Hölle meinen, aber wir kennen das. Ich also hin zu Carr durch den engen Gang auf dem Baumwall neben Sloman in den Hof. Da sitzt er ja oder sollte sitzen, aber man zuckt bloß die Achseln. Sie müssen nach Nummer 6 gehen, Herr Konsul, sagt man mir. Hier werden nur Beträge in Empfang genommen. Na, mag übertrieben sein, aber Carr war in seinem Tattersall. Ich also nach Baumwall 6. Agentur Columbia. Kleiner, dunkler, freundlicher Herr. Sagt: In Ordnung, die zwanzig fehlen grad noch für die „Polaria“, dann geht auch kein Spatzenschwanz mehr in die Luke, und an Deck haben wir noch hundert Kolli Eisenbahnteile. Und so ist es mit jedem Schiff bei uns.“

„Auch wohl ein büschen übertrieben, Herr Witt.“

„Nee, Meyer, sah mir nicht so aus. Und was erzählt er mir noch, dieser Herr ..., ich hab’ den Namen vergessen, erzählt mir, er wär’ in New York gewesen, um zu versuchen, eine anständige Passagerate mit den verschiedenen Konkurrenten auszumachen.“

„Altes Ei!“

„Wieso?“

„Wir haben ja auch so einen Wisch gekriegt, Witt, Einladung zur Konkurrenz. Aber das wäre wohl das Letzte für unsere Linie, andere zu fragen, was wir nötig haben.“

„Hätten, nicht haben, Herr Meyer!“

„Papperlappapageienfutteral, liebster Konsul! Leute für sechzehn Dollar verfrachten? Nich inne Tüte! Was sagte unser neuer Aufsichtsratsvorsitzender, unser lieber Herr Mestern, mit sozusagen letzter Puste? Abwarten! sagte er.“

Konsul Witts Kutscher hat schon zweimal in die Tür geblickt.

„Ick kumm all, Jochen!“ ruft Witt. In der Tür dreht er sich noch einmal um und hebt den Handstock mit dem Elfenbeinknopf wie eine Lunte. „Jetzt hab’ ich’s, Meyer. Ballin heißt der Mann.“

John Meyer fühlt etwas in sich sengeln. Er greift hinter sich in den Wandschrank, ein Schluck ist fällig. „Ballin? Wer war denn das noch? Hieß nicht ...?“ Er läßt die Flasche sinken, eilt hinter Witt her, im Bürozimmer warten vier Kapitäne, sieben Makler, zwei Spediteure und ein Buchhalter. „Gleich, gleich, sofort, Momang!“ ruft er und gewinnt den Ausgang.

„Witt, ist das etwa der ... der Agentenlümmel von damals?“

Nasser Schnee wirbelt ihm ins Gesicht.

Damals bei der Zarenhymne war es ein ähnliches Wetter. „O Isis und Osiris!“ Und nun rumpelt auch noch Konsul Witts Kutsche ohne Antwort von dannen.

*

John Meyer beschloß in seiner neuen Direktorenverantwortung, alsbald ein neues Ruhmesblatt ins Hapagwappen zu fügen. Seinerseits lud er die Vertreter der atlantischen Linien ein, und zwar nach Köln, das so angenehm zentral zwischen den Küsten liegt. Der allgemeine Zusammenbruch der Raten ließ sogar die Engländer mit den Franzosen und Holländern herüberkommen. Auch die Bremer waren da, also ziemlich alle, die für den Dienst zwischen Europa und Nordamerika in Frage standen. Nur die Carr-Linie hatte Meyer übergangen, Er hoffte, gerade sie durch gemeinsame Schritte, zum Beispiel durch Abwerben der Agenten im Hinterlande, ins Nirwana zu drücken. Da aber die Holländer eine Extrawurst verlangten, zerplatzte jeder Beschluß. Der atlantische Schwarm wohlbestallter Schiffahrtsgrößen zerstreute sich finster und kehrte in seine Hafenkontore zurück.

Herr Carr kommt aufgeregt in die Agentur. Er klatscht ein Zeitungsblatt auf das Pult seines Teilhabers, er knallt mit der Reitgerte auf ein Inserat. „Sind Sie irrsinnig, Ballin? Sie trompeten einen Fahrpreis Hamburg –New York von puren Mark sechzig in die Öffentlichkeit, ohne mich zu fragen.“

„Es eilte, Herr Carr. Sie waren so schnell im Baden-Badener Turf nicht ausfindig zu machen.“

Carr tupft sich Stirn und Wangen mit feiner Seide und schiebt als neueste Errungenschaft seiner Eleganz ein Monokel ins rechte Auge. Das harte Grau der Iris dahinter verschwimmt in eine grenzenlose Niedergeschlagenheit, die sich plötzlich auf der Krawattenperle seines Partners als letztem Anhaltspunkt zu sammeln scheint. Er stöhnt seufzend auf: „Sie werden Ihr Letztes hergeben müssen, Ballin!“

„Dazu bin ich immer bereit“, lächelt Ballin. „Ich hab’ übrigens an die Hapag geschrieben. Hier!“

Der Reeder überfliegt den Brief. Darin wird eine neue Konferenz vorgeschlagen. Seine Miene erhellt sich, er ist ein Mann von Bildung. Manchmal pflegte er sogar ein Buch zu lesen. Briefe schreibt er selber gern, wenn auch lieber an Damen.

„Donnerwetter!“ sagt er, das Monokel haltend. „Wie machen Sie das bloß?“

„Sehr einfach, Herr Carr. Nackte Tatsachen anziehend dargeboten.“

„Man merkt, daß Sie glücklich verheiratet sind, Ballin.“ Carr deutet ein Lächeln an, ergreift die Stahlfeder, taucht sie ins gläserne Tintenfaß: „Sie gestatten doch! Ich als Reeder muß das unterschreiben.“

„Genauso ist es gedacht“, nickt Ballin. „Diesmal wird Herr Meyer es wohl nicht in den Papierkorb werfen.“

„Ich werde es sicherheitshalber an die Zeitung geben“, erwidert Carr heftig. „Die Aktionäre der Hapag sollen erfahren, mit welcher Dickköpfigkeit ihre Anteile verschlampt werden.“

„Nicht ungefährlich, Herr Carr. Es könnte dort die Auflösung bedeuten.“

„Desto besser!“

„Nicht meine Meinung. Nur mit der Hapag zusammen können wir die übrigen Linien zu einer vernünftigen Vereinbarung bringen.“

„Ekelhafter Kuhhandel! Könnte ich doch jeder Konkurrenz das Wasser unterm Kiel wegpitschen!“

Die Gerte pfeift entsprechend durch die Luft.

Ballin sagt ruhig: „Konkurrenz, Herr Carr, achte ich nie als Hindernis, sondern als Ansporn.“

Das ist auch einem passionierten Reiter verständlich.

„Also nicht in die Zeitung?“ knurrt Carr ärgerlich.

„Doch! Aber dann müssen wir ein ganz klein bißchen mildern. Für die Öffentlichkeit müssen Tatsachen immer noch etwas besser kostümiert sein als für den Hausbedarf.“

*

So lesen denn die Aktionäre der Hamburg-Amerika Linie schon nach dem nächsten Mittagessen, welches in hiesigen Kaufmannskreisen englischer Sitte gemäß gern gegen sechs Uhr abends eingenommen wird, im „Hamburgischen Correspondenten“, wie rückständig sich die Schiffahrtsgesellschaft gebärdet, der sie oder ihre Väter bei der Gründung Geld und Vertrauen geliehen. Sie erfahren stirnrunzelnd, daß die Nichtzahlung von Dividenden letzthin weniger an schlechter Konjunktur als an der vorsintflutlichen Verwaltung läge.

In dem „Offenen Brief“, von einem gewissen Reeder Carr unterzeichnet, heißt es: Die Carr-Linie hat umsichtig und aktiv verstanden, die Lage zu nutzen, indes Sie, hochgeehrte Direktion, sich mit berechtigtem Stolz auf die Grundlage stützen, die ruhmreiche Jahre lang den Bestand Ihres Unternehmens gewährleistete. Ein Blick aber auf die Entwicklung der anderen atlantischen Reedereien zeigt, daß inzwischen Fortschritte erzielt wurden, denen niemand sich verschließen kann, dem es ernst ist mit den übernommenen Aufgaben und der Zufriedenheit der Partner und Aktionäre. Um was handelt es sich? Um eine freundliche, nachbarliche Vereinbarung über die Raten für Passagiere und Fracht auf der von beiden Gesellschaften betriebenen Hauptroute Hamburg – New York. Wir als der in der Schiffahrt jüngere Bruder Ihrer von uns hochgeachteten Gesellschaft wagen noch einmal wegen einer Verständigung anzuklopfen ...“

Kein Wunder, die Aktionäre rührten sich. Und auch die Bank Behrens & Söhne, mit der die Hapag arbeitet. John Meyer hat schlimme Tage. Er muß die Püffe abfangen, und gibt er sie an Vorstand und Aufsichtsrat weiter, prallen sie nur desto heftiger auf ihn zurück.

Wohl oder übel muß man sich in einer neuen Sitzung bequemen, der von Carr vorgeschlagenen Konferenz zuzustimmen. Mitte des Jahres findet sie in dem neuen Hotel „Hamburger Hof“ in Hamburg statt. Wieder kommen die Vertreter der bedeutenden Linien Englands, Frankreichs, Hollands, Belgiens zusammen, und auch der Norddeutsche Lloyd ist dabei.

John Meyer und Edward Carr sind persönlich zugegen.

Carr hat sich schriftliche Anweisungen von seinem Teilhaber geben lassen. Er liest seine Reden und Einwände, gut vorbereitet, ab und erreicht, da ihm selber nichts Ablenkendes einfällt, damit tatsächlich eine allgemeine Erhöhung der Zwischendeckspreise auf hundert Mark und sogar für die Carr-Linie eine Vorzugsrate, die um zehn Mark tiefer liegt. Auf diese Weise ist die Carr-Linie aufs neue und beste wieder konkurrenzfähig.

Ballin selber gelingt unterdessen eine Übereinkunft mit den Agenten, die in Hamburg bislang als Zwischenträger für englische Linien gearbeitet, wie er selber ja früher auch, und gelegentlich tut er’s auch noch jetzt für seinen alten Freund Wilding.

Aber auch mit den englischen Kontoren selber kann er neue Kommissionssätze festlegen. Wenn alles das besonders für die Carr-Linie vorteilhaft ist, so spürt doch auch die Hapag Erleichterung durch die gefestigte Lage.

Herr Mestern, Herr Ruperti und selbst der sarkastische Carl Laeisz sind sich einig, daß man Carr nicht weiter reizen dürfe. Der Aufsichtsrat erwägt sogar, schon Ende des Jahres, ein etwaiges neuerliches Verkaufsgebot Carrs nicht mehr abzuweisen.

Fühler werden ausgestreckt und wieder zurückgezogen.

Carr geht um keinen Pfennig von der geäußerten Forderung ab. Ballin, darin eingeweiht, hat ihm dringlichst zu eiserner Unnachgiebigkeit geraten.

Jetzt ist nur Zähigkeit im Hinhalten nötig.

Als Carr aber dennoch die Geduld zu reißen droht, überredet sein Teilhaber ihn, den nächsten Winter in Ägypten zu verbringen. Dafür reichen die Einnahmen noch.

*

Im Februar kommt Carr zurück. Er findet Ballin blaß und überarbeitet und fürchtet schon das Schlimmste. Aber die dunklen Augen, angestrengt und rotgerändert, leuchten sonderbar zufrieden hinter dem goldenen Zwicker.

„Nun, haben Sie günstig abgeschlossen, Ballin?“ fragt der braungebrannte Reeder. „Ich hab’ noch eine ganze Menge zu bezahlen.“

„Allerdings“, lächelt Ballin.

„Und mit wieviel haben Sie den Ansporn aufs Kreuz gelegt?“

Ballin schmunzelt weiter: „Ich vergaß neulich hinzuzufügen, in der Konkurrenz achte ich nächst dem Ansporn immer auch den möglichen späteren Partner.“

„Mensch, Ballin!“ Carr fällt die unvermeidliche Reitpeitsche vor Schreck aus der Achsel: „Sie meinen doch nicht etwa die Hapag?“

„Gerade die.“

„Die uns bis aufs Blut haßt?“

„Wir waren bislang nur nicht groß genug, um geliebt zu werden.“

Carr schnappt nach Luft. Er hat in Shepheards Hotel, in Kairo, in Athen angenehme Tage verlebt. Die internationale Gesellschaft, in der er sich bewegt, hat in puncto Größe und Liebe wenig Vorurteile, solange das Geld nicht knapp ist und die Manieren reichen. Hier schien eine private Dusche angebracht: „Ballin, ich denke, Sie sind glücklich verheiratet?“

Sein Teilhaber strahlt: „Trotzdem hab’ ich eine neue Fusion vorbereitet.“

„Auch so blond und hübsch?“ Carr zwingt sich zu spöttischer Gelassenheit.

„Gewiß aber auch einmalig“, lächelt Ballin, „wir vereinigen uns mit der Sloman.“

„Teufel!“

„Nicht ganz. Nur mit den sechs Dampfern, die frei werden, weil Ihr Herr Onkel den wenig lohnenden Australbetrieb aufgibt.“

„Und den wollen Sie bei uns rentabel machen?“

„Gewiß, aber auf der New York-Route. Ich denke, wir nennen sie vereinigte Carr-Sloman ...“

„Slow-Car, Bummelzug!“ Carr wiehert vor Vergnügen.

„Also Union. Wir können dann ab 15. Mai jeden Samstag einen netten Dampfer nach New York laufen lassen.“

„Ballin, das soll ich glauben?“

„Nur beglaubigen, Herr Carr. Hier ... sind die Verträge.“

Des Kaisers Reeder

Подняться наверх