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Die schlagader der abendländischen kultur Wind von Westen · Eine gewagte Behauptung · Fortschritt und Unruhe · Wer ist Tlaloca? · Die Midgardschlange · Damenmeer und Roßbreiten · Die Teerjacken schweigen · Und doch hat er Ufer · Der ungeheure Zirkel · Wie weit geht die Warmwasserheizung? · Runter die Mütze, Kuddl!

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Von meinem Zimmer zu Wangen auf der Höri, wo ich dieses Buch schreibe, blicke ich auf den Untersee. Grau glitzert er hinter den Uferpappeln, und drüben, über die noch bräunlichen Hügel der Schweizer Seite, streifen dünne Nebelschwaden.

Ich öffne das Fenster. Der Tag ist verhangen. Der Wind kommt westlich. Er duftet gut. Ich bilde mir ein, sein Weg über Frankreich habe ihm noch nicht allen Duft des Ozeans geraubt. Frühlingsmild ist die Luft, atlantisch feucht, leicht geheizt von der geheimnisvollen Strömung, die aus den Sonnenkesseln Westindiens gen Europa streicht.

Atem des Golfstroms! Unter seinem Hauch hat sich die Eisdecke des Sees in wenigen Tagen zurückverwandelt in das Fließende, Wellende, Plätschernde, in das Wunder des Wassers. Ist nicht Wasser das einzige jener vier Elemente der Alten, das uns zugleich in dreifacher Gestalt alltäglich zu begegnen vermag, flüssig, fest und gasförmig, der einzige unter allen organischen und anorganischen Stoffen, der kraft dieser Dreifaltigkeit überall wirkend die Welt regiert?

So, wie der Golfstrom Europa regiert.

Eine gewagte Behauptung! lächelt Tlaloca.

Gut, so sei gleich einiges angedeutet, was dem geheimnisvollen Fluß des nordatlantischen Ozeans zu verdanken ist, ihm, den selten das Auge eines Menschen richtig wahrgenommen hat und den die meisten nur vom Hörensagen kennen. Man weiß vielleicht aus der Schule, daß der Golfstrom für unser Klima wichtig ist. Wäre er nicht vorhanden, so gliche Nordeuropa etwa der Landschaft Labradors, wo ständige größere Siedlungen und eine Bodenkultur und Lebenskultur, wie wir sie kennen, nicht möglich sind.

Der Golfstrom macht sozusagen ein mildes Treibhaus aus dem atlantisch gelegenen Teil Europas, ein leicht geheiztes, gut gefeuchtetes, aber immerhin nicht ganz den sonstigen Klimagegebenheiten entsprechendes Warmbeet. Und die Strahlung seines feuchtwarmen Atems und eine gewisse Unregelmäßigkeit seiner Heizungs- und Gartenbedienung ergeben die sonderbare Reizbarkeit des Europäers, bewirken die europäische Unruhe, das „schöpferische Fieber“, die großartige wuchernde Fülle seiner Kultur. Nirgends in der Welt gibt es wie hier den geborenen Unzufriedenen, der täglich mit klimatischer Erregtheit gesäugt wird und immer bestrebt scheint, aus seiner Haut hinauszufahren. Das hat ihn zu ungewöhnlichen Leistungen befeuert und zu vielem Unfug. Das macht ihn zum Auswanderer aus allem Hergebrachten, zum Weitschweifer und ewigen Sucher.

Ohne den Hauch des Golfstroms wären wahrscheinlich schon die Frühkulturen der Jungsteinzeit mit ihren weltweit sich verbreitenden Steinkünsten nicht gewesen und nicht die Höhlenzeichnungen der Renntierjäger. Und die frühe Völkerwanderung wäre ebenso unerklärlich wie die späte, an der wir seit 1933 zu leiden haben. Und weder die Lieder der Edda noch „Hermann und Dorothea“ wären entstanden, weder die Miniaturen in den St. Gallener Mönchsschriften noch die Gemälde Rembrandts, es gäbe weder die Mystiker noch die Spiritisten, weder das Gokstadschiff noch die Hapag, weder Voltaire noch Queen Victoria, weder Paracelsus noch Bircher-Benner, weder Luther noch Rudolf Steiner, weder Kolumbus noch Piccard, weder Gutenberg noch Heisenberg, weder Karl Marx noch Karl May, weder den Hexenhammer noch den Vertrag zu Versailles, weder den Kölner Dom noch die Reichskanzlei, weder die Weltkriege noch die Unesco. Nichts oder wenig wäre vorhanden von dem Hochmaß an Leistung und Wirrsal, kaum eine Spur von der unfaßlichen Züchtungs-Überzüchtungskultur, die Europa in die Mitte der Welt gerückt hat, nichts von den brennenden Himmelsstürmern und den bohrenden Entschleierern, nichts von den Fackeln und Geißeln, Ranken und Tentakeln, die von Europa aus sich körperhaft und geistig rings um die Erde reckten.

Und ebensowenig besäße die Welt die Skyline zu Manhattan, die Hotels in Bombay, die Spitäler zu Hongkong, die Golfplätze auf Neuseeland, die Rollfelder zu Dakar, das Missionskirchlein von Kuklulu im Busch, den Künstlerklub zu New Orleans, die Eisenbahnen Argentiniens, die Funktürme Chinas, die Zyklotrone Rußlands. Und Hollywood und Tanglewood und Woodshole würden so wenig existieren (in ihren Einrichtungen) wie Weimar, Salzburg und Genf. Und so unterschiedliche Genüsse wie die Brandenburgischen Konzerte Bachs und die Fernsehprogramme wären einfach nicht vorhanden.

Nur wer wochenlang hoch im Gebirge auf einer Alm gelebt hat oder in australischer Steppe, der ahnt, was alles der Golfstrom „ausgebrütet“ und was uns auf die Dauer bitter fehlen würde. Aber alle Stichproben sind mager. Kurzum: Der Golfstrom ist zweifellos verantwortlich für die gesamte abendländische Kultur, was die Ansaugung aller morgenländischen Kultur einschließt. (Ein entferntes Echo, das lautet: verantwortlich auch für die abendländische „Unnatur“, scheint unabweisbar.)

Die schier unnatürliche Hochkultur und Technik der Neuzeit ist entschieden aufgepfropft auf eine ähnlich seegesäugte Kultur, die der Antike, die fruchtbar war durch eine ähnlich feuchtwärmliche Aufregung des Klimas und der Geister in einer Epoche, da der Golfstromatem etwas südöstlicher strich und das Mittelmeer beunruhigte, bis er herüberschwang zu den nordwesteuropäischatlantischen Küsten. Dort denn säte sich, hervor aus dem Schutt und Dung der (ohne den Golfstrom) verfallenden oder vielmehr ins Normale zurücksinkenden antiken Bildung, die grenzenlose Vielfalt der Moderne, verpflanzte sich aus dem mediterranen Binnenraum in die atlantisch offenen Gefilde zwischen Gibraltar und Spitzbergen, zwischen Irland und Smolensk, und so wuchs, mit näßlichen Wintern und feuchten Sommern, golfstromgesegnet und -belastet, das ungeheure atlantische Sein.

Das atlantische Sein, dessen Hauptschlagader der Golfstrom ist.

Laß uns nun sachte an ihn, den stillen Erreger, heranpirschen und erkunden, was bislang von seiner Gestalt und Wirkung in das Bewußtsein der Welt gelangte. Hier und da laß uns in Ereignisse und Zustände einsehen, die unmittelbar Berührung mit ihm haben und in seinen gigantischen Meereszirkel gehören. Soweit du nichts dagegen hast, Tlaloca.

Dürfte ich übrigens vorstellen: Tlaloca. Sie wird meine imaginäre Gesprächspartnerin sein. Tlaloca, die Tochter des Wind- und Regengottes Tlaloc.

Vielleicht ist sie aus der Opferschale entsprungen, die er im Schoße hält, indes er gewaltigen Blicks das Haupt zum Ozean wendet. Man sieht sein steinernes Bildnis im Museum zu Mexiko. Vormals stand es auf der geheiligten Gipfelplatte eines toltekischen Tempels. Ein paar Jahrhunderte sind inzwischen vergangen. Vieles hat sich geändert. Aber Tlaloc blickt noch immer über den Atlantik gen Nordosten, dorthin, wo Europa liegt. Seit Millionen von Jahren ist seine Tochter dahin unterwegs, Tlaloca, die Nixe des Golfstroms.

Ist nicht jeder Europäer mit Karl dem Großen verwandt innerhalb der dreißig Generationen, die seit ihm Böses und Gutes begangen haben? Um wieviel mehr ist jede Bewohnerin des golfstromgesäugten Europa mit Tlaloca eines Blutes!

Der See vorm Fenster wirft kleines Gekräusel vor sich hin; es scheint ostwärts zu wandern, dahin, wohin der Wind heute weht. Scharen schwarzer Belchen lassen sich mit der Windströmung treiben. Hin und wieder purzeln sie, den weißen Schnabel voran, unter die Oberfläche und sind eine Weile verschwunden, als seien sie Fische geworden, sie, die nicht einmal Enten sind, sondern regelrechte Hühner. So gingen die Bauern an der Küste auf See und wurden Fischer. Und begingen damit — wie die Hühner – nichts als eine Art Heimkehr. Denn aus dem Meere kommt alles, was lebt. Und kehrt wieder heim zum Meere. Das sind längere Wege als jene, die der Wind von der Normandie bis hierher zurücklegt, und längere als der Weg, den der Rhein gen See nimmt. Der Rhein, der von Konstanz her durch den Untersee fließt. Man möchte heute meinen, er flösse nach Konstanz hin, so täuschend sieht die Strömung aus. Wir sind gewohnt, solche Täuschungen hinzunehmen.

Doch durchs Glas entdecke ich einen Uferbusch, der, vom letzten Sturme losgerissen, mitten im See treibt. Er treibt dem Winde entgegen. Seine Zweige reichen tiefer als die kleinen Füße der Bleßhühner und als die Windströmung; eine andre als die flache Winddrift bewegt ihn.

Ahoi, Tlaloca! rufe ich. Denn hier eröffnet sich mir ein Abbild des Golfstroms im geringfügigen. So unauffällig wie hier der Rhein gen Stein und Schaffhausen strebt, pulst der Golfstrom durch den Nordatlantik. Und von der langen Brücke zu Stein am Rhein kann man die Strudel und Meerströme im kleinen beobachten, die den Golfstromforschern im großen oft genug Kopfschmerzen bereitet haben.

Wir aber lassen uns nicht von Kleinkram halten, so malerisch er sich anläßt. Wir gleiten rheinabwärts mit der Strömung, der kein Wind mehr als nur oberflächlich etwas anhaben kann, gleiten vorbei an Basel, Bonn, Köln und Utrecht in die See. Ich war eben versucht, die See mit dem Beiwort frei zu schmücken. Es könnte falsch ausgelegt werden. Ich meinte auch nur den unverbauten Horizont. Im übrigen hat es nirgends so viel Unfreiheit gegeben wie auf den Meeren. Selbst auf den nettesten Lustjachten ist man, wenn auch angenehm, ein Gefangener.

Du lächelst, Tlaloca? Du reitest auf deiner blauen Seeschlange und versuchst seit Urzeiten, sie von ihrem eigensinnigen, ihrem eigentlichen Wege abzulenken. Ist es dir nicht gelungen? Sie züngelt noch immer gen Europa. Ihr Atem liegt bedrängend in den Aprilseufzern. Sie ist ein Warmblütler, deine Atlantikschlange. Sie krümmt sich ein wenig, schlängelt sich, bläht sich, zieht sich zusammen unter deiner Ungeduld, aber sie weicht nicht ab vom Kurs, reibt sich an den Azoren hin, klemmt sich zwischen den Shetlands und Färöern hindurch, scheuert an Island vorbei und an Norwegen, fächelt Spitzbergen ums Kinn und biegt ums Nordkap, als hätte sie Sehnsucht nach Sibirien, taucht aber unter und verschwindet unterm Polarwasser und dreht das Zeitlupenkarussell der ungeheuren Eisscholle, die den Nordpol bedeckt.

Europa wäre nichts ohne sie, wäre halb Grönland, halb Alaska und bestenfalls Steppe. Einer unserer Vorväter hat das Rechte geahnt, als er die Midgardschlange erfand, die Jörmungandr, das mächtige Ungetüm, das aus dem heißen Harnstrahl des Urriesen Ymir entstand, nachdem er aus seinen Brauen die Erde geschaffen. Aus der Feuerwelt im Süden reicht sie bis zur Eiswelt im Norden. Das wußte schon die Edda. Die Gelehrten wissen es erst seit hundert Jahren. Heute sagt man Golfstrom dazu.

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Golfstrom ... Welch wunderliches Wort! Vorstellungen regen sich von südlichen Himmeln, von Meeresbläue und fliegenden Fischen, von altertümlich geformten Schiffen, von Entdeckerfahrten und weltweiten Abenteuern.

Golfo war der Ausdruck spanischer Westindiensegler für das Meer an sich, und sie haben zuerst Andeutungen überliefert über diesen merkwürdigen Strom mitten im Meer. Die Strecke zwischen den Kapverdischen Inseln und den Antillen, wo ein ständiger und zumeist sanfter Passat weht, nannten sie el golfo de las damas, das Damenmeer; denn dort, im Vorkreis des Golfstroms, in der Nordäquatorialdrift, pflegt das Wetter christlich zu sein, und es geht die Sage, daß von den ersten Frauen, die diese Strecke im Gefolge der hartgesottenen Abenteurer und Entdecker reisten, eine kühn genug gewesen sei, das Steuerruder gelegentlich zu übernehmen. (Vielleicht hatten die Maaten einige Buddel Vino tinto oder Aquadente zu viel hinter die Luke gestaut.) Und es sei dann weiter nichts passiert.

Das weite Seegebiet aber nördlich der Bermudas und der Kanaren zwischen dem fünfunddreißigsten und vierzigsten Breitengrad Nord nannte der spanische Matrose el golfo de las yeguas: das heißt Stutenmeer. In diesen Gefilden, die der Golfstrom so stürmisch umarmt, in diesem Hochdruckgürtel der subtropischen Kalmen, wo unweit lähmender Windstillentage die heftigsten Puster lauern, gingen den Frachtern nämlich nicht wenige der andalusischen Kavalleriepferde ein und wurden über Seite geworfen. Noch heute haftet der Gegend die Bezeichnung „Roßbreiten“ an. Es ist dienlich, alsbald ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit dazu kennenzulernen (obschon es etwas abseits in der Golfstromumarmung spielt). Kapitän G. Schmidt berichtet über das Erlebnis des Hapag-Dampfers „Bulgaria“ im friedlichen Jahre 1899, der am 28. Januar New York verlassen hatte. Außer einer Ladung Weizen hatte er zweihundertfünfunddreißig Passagiere und hundertfünfzig Pferde an Bord. „Die ersten vier Tage der Reise“ – so heißt es im Schiffstagebuch – „verliefen ruhig. In der Nacht vom 1. zum 2. Februar wurde der Dampfer jedoch von einem schweren Orkan ereilt. Während das Schiff in der hohen, wilden See platt vor dem Winde steuerte, wollte es nicht mehr dem Ruder gehorchen und drehte um zwei Uhr morgens an den Wind. Eine ungeheure Sturzsee überflutete das Schiff und schlug mehrere Luken ein, wodurch so viel Wasser einströmte, daß im Raum Nummer vier sechzehn Fuß gepeilt wurden. Das Schiff legte sich stark nach Backbord über, wodurch es große Schlagseite erhielt, und arbeitete entsetzlich. Durch die gewaltigen Erschütterungen wurden die Wasserballasttanks leck und liefen aus. Die Lenzrohre in Raum vier verstopften sich durch Getreide der Ladung. Hundertacht Pferde, die nach der Leeseite hinübergeschlagen wurden und im Wasser lagen, verendeten, konnten aber erst am sechsten Tage über Bord geworfen werden. Am Morgen des 2. Februar, als der Orkan mit erneuter Kraft einsetzte, brach der Ruderquadrant wie später auch das Handsteuer. Durch das schwere Arbeiten des Steuerruders lösten sich die Bolzen in der Kuppelung und gingen schließlich verloren. Erst nach tagelanger Mühe gelang es, die Kuppelung wieder zu befestigen, und nachdem die Platten der Seitenwände des Ruderhauses entfernt waren, konnte das Schiff mit Bäumen, die auf den Ruderkopf gelascht wurden, gesteuert werden. Durch das fortwährend stürmische Wetter und die hohe See, welche das auf der Seite liegende Schiff überflutete, wurden diese Arbeiten natürlich sehr erschwert. Um das Schiff wieder aufzurichten, war man genötigt, von der Ladung zu werfen; als aber das schwere Wetter das Offenhalten der Luken nicht mehr gestattete, mußte die Ladung verbrannt werden. Eine Sturzsee brach über das Bootsdeck, riß sämtliche Boote von der Backbordseite fort und schlug das Deck ein. Am 5. Februar, morgens vier Uhr, meldete der erste Offizier, daß die Schlagseite bedeutender werde, und der erste Maschinist zeigte an, daß das Wasser in den Räumen, obwohl alle Pumpen im Gange waren, dennoch zunähme.

Danach hielt es der Kapitän für angezeigt, den Versuch zu machen, die Passagiere abzubergen. Auf Notsignale kam der englische Dampfer ‚Weehawken‘ herbei, der einen Teil der Passagiere und zehn Mann von der Besatzung aufnahm und später in Ponta Delgada landete. Ein zweites Boot, das mit dem zweiten Offizier und drei Mann ebenfalls zu Wasser gelassen wurde, trieb fort“ (und blieb leider verschollen). „Als der Dampfer ‚Kurdistan‘ herankam, konnte man ihm wegen der hohen See keine Passagiere mehr abgeben. Am 7. und 8. Februar war das Wetter noch sehr schwer; am 9. wurde es etwas ruhiger, so daß man die Kadaver der Pferde über Bord werfen konnte. Das Schiff trieb ostwärts. Zeitweilig ließ man die Steuerbordmaschine arbeiten, um das Schiff soviel wie möglich auf dem Winde zu halten. Man versuchte auch, mit den Schrauben zu steuern, was aber bei der hohen See nicht gelang; am 12. Februar um sechs Uhr morgens, als von neuem schwerer Sturm einsetzte, mußte wieder beigedreht werden. Am 14. Februar kam der englische Dampfer ‚Antillian‘ herbei und versuchte, die ‚Bulgaria‘ zu schleppen, doch schlug der Versuch trotz aller Bemühungen fehl. Bis zum 20. Februar blieb das Wetter noch unruhig. Inzwischen war jedoch das Notsteuergeschirr hergestellt worden, mit dem sich das Schiff steuern ließ, und am 24. Februar“ (nach neunzehntägiger Drift in Sturm und Strömung!) „erreichte die ‚Bulgaria‘ mit eigener Kraft glücklich Ponta Delgada auf San Miguel“ (Azoren).

Dieser karge seemännische Bericht schließt eine ungesagte Fülle unsäglicher Anstrengungen, Leiden und Heldentaten ein und gibt eine Ahnung von dem, was der Golfstrom, der große „Wetterbrüter und Sturmkönig“, neben seiner europäischen Heiz- und Gärtnertätigkeit vermag.

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Golfo, Golf, Gulf, das ist abzuleiten von dem griechischen kolpos, und das bedeutet Busen. Wir denken bei dem Wort etwa an den Golf von Neapel; o Süden, o Sonne, o Bläue! (Obwohl dort selbst im Mai zwischen Porto d’Ischia und Santa Lucia das Wetter so eklig sein kann wie auf der Nordsee im November.) Und wir denken an den Golf von Mexiko, Tlaloca, der übrigens größer ist als die ganze Nordsee; er, deine Heimat, soll dem Golfstrom den Namen verliehen haben, galt er doch vormals als der Vater der blauen Schlange. Aber nicht jeder Vater ist auch der Erzeuger. Golfstrom heißt womöglich weiter nichts als Meeresstrom, corriente de golfo, in seit alters überlieferter schlichter Erkenntnis seines Wesens und lange schon so genannt, bevor Benjamin Franklin die Bezeichnung Gulf-Stream unter die erste Golfstromkarte setzte.

Die englische Form Gulf bedeutet nun aber nicht nur Bucht und Busen, sondern auch Abgrund und Strudel – welchem Busen wäre das nicht gemäß? – und das in den Abgrund Ziehende und Schlingende. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich die ozeanographische Forschung mit der „Strömungstechnik“ des Golfstroms befaßt und ihn als ein riesiges System von fortlaufenden Strudeln und Gegenstrudeln erkannt. Das holländische Wort Golfen bedeutet Woge, Sturzsee, Brecher.

Im ganzen scheint die Sache einfach. Es ist nicht viel anders als mit jedem Bache, der sich schlicht dahinzuschlängeln scheint, dem man aber auf die Schliche kommt, wenn man einen hineingeworfenen Grashalm beobachtet. Welche Kapriolen doch vollführt das kleine Versuchsboot, zumal an den Krümmungen, dreht sich, kreist, gleitet ein Stück zurück, taucht unter, schießt in der Tiefe Kobolz, taucht wieder auf, zögert, wendet und eilt – falls es nicht strandet – schließlich dennoch davon.

Ermittlungen dieser Art sind allerdings im Golfstrom schwieriger: Man müßte das Auge Gottes haben, betrachtend aus himmlischer Höhe, meinte einer der Forscher; denn das gewaltige Bett des Golfstroms ist selbst vom Flugzeug aus schwierig zu belauschen. Weit weniger aber von einem Schiffe aus, das in der ungeheuren Weite selber einem Grashalm gleicht. Man ist trotzdem zu beachtlichen Ergebnissen gelangt. Wir werden über die allmähliche wissenschaftliche Erkundung der Golfstromgeheimnisse einiges erfahren. Es ist eine Geschichte, die sich wie ein Jahrhunderte währendes Legespiel aus Tausenden kleiner Einzelbeobachtungen zusammenfügt. Und die besten modernen Erforscher des Golfstroms geben zu, daß noch immer Lücken zu füllen sind.

Im großen und ganzen aber weiß man über den Golfstrom Bescheid. Man weiß, es handelt sich um einen Wasserkreislauf, der den ganzen Nordatlantik umfaßt, um ein Strömungssystem, das von der Biskaya im sogenannten Portugalstrom an der afrikanischen Küste aufwärts zieht und dort Kanarenstrom heißt, der bei den Kapverdischen Inseln nach Westen umschwenkt und als Nordäquatorialstrom gen Westindien kreist, sich in der Karibischen See staut und durch die Floridastraße wieder in den freien Ozean tritt. Ein Teil des Äquatorstroms bleibt außerhalb der Inselkette und heißt Antillenstrom. Hinter den Bahamas vereinigt er sich mit dem Floridazweig. Erst von dort an spricht man geographisch vom Golfstrom, der dann in Richtung der nordamerikanischen Küste gen Neufundland zieht und von dort zu den Azoren hinüberschwingt, um teils in den Kanarenstrom zurückzukreisen und so die große Turbine zu vollenden, teils aber nach Norden zu entweichen, nicht ohne hier und da eine Raute seiner tropisch gewärmten Flut seitwärts zu senden.

Schlängelnd, mäandernd, strudelnd, doch mehr sachte als sichtbar, unaufhaltsam trotz aller Verzweigung die Richtung haltend, besteht dieses System sonderbarer Weitfährwege wahrscheinlich schon sechzig Millionen Jahre. Und sicher haben die Fischer und Mönche von Cobh und Cork und den vier Dutzend natürlichen Häfen der Grünen Insel Jahrhunderte vor Kolumbus und Corte Real, ja vor den Wikingern, das nötige Wissen davon gehabt, als sie auf den Neufundlandbänken Codfish, Kabeljau, angelten, lange bevor den Portugiesen Nachricht zusickerte von den saftigen Bacalhão-Fängen dort hinter der grauen, dämonengesegneten Kimm im Westen. Es hat sicher schon früh einen gewissen atlantischen Wettlauf verschiedener „Anlieger“ nach den „Meersilbergruben“ gegeben, die bis heute, am Nordbuckel des Golfstroms gelegen, unerschöpflich sind. Aber die frühen Teilnehmer von Aalesund, Haithabu bis hinunter nach Vigo und Palos haben wenig Notiz voneinander genommen und noch weniger Nachrichten über ihre Geschäftsreisen ausgetauscht oder gar hinterlassen. Ihre Segelkurse vererbten sich unter der Hand von Sippe zu Sippe. Und die Großhändler der Umschlagplätze für getrockneten oder gesalzenen Kabeljau, für Stockfisch und Laberdan, waren betreffs der Bezugsquellen und Herkünfte ihrer Ware verschlossener als die Akten jeglicher Geheimpolizei. Konkurrenz ist ein alter Begriff. Und die Abnehmer für die Fastentage fragten nicht lange, woher die dienliche Speise kam.

Wie immer sich jene frühen Fahrten in die scheinbar pfadlosen Meeresweiten abgespielt haben mögen, die wunderliche Ausnahme, das fließende Wegenetz des Golfstroms, wird dem naturscharfen Spürsinn der ersten Hochsee-Teerjacken nicht entgangen sein. Daß sie solche Selbstverständlichkeiten nicht des Geredes wert hielten, ist jedem klar, der Seeleute kennt. Kein Jantje von Format hat jemals für lohnend erachtet, über seinen Beruf zu schwatzen. Mag sein, daß seit Urzeiten bestimmte Übereinkünfte bestehen, vormals bewußter als heute, dennoch bis heute wirksam, über naturmächtige Beziehungen Stillschweigen zu bewahren. Es gibt bis in unsere aufgeklärten Tage christlicher Färbung eine Menge mehr „Tabus“, als unsern Pastoren recht ist, zumal in den immer noch vertrackten Belangen der Seefahrt. Und namentlich auf der golfischen Strecke, die so reich mit wetterwendischen Launen und Tücken gesegnet ist.

Oder sollten die Hurrikans und Zyklone dieser nassen Gefilde erst durch den Mangel an Ehrfurcht hochgelockt sein? Hast du, Tlaloca, etwa verdrießlich gefunden, lang und breit abgemessen zu werden und dich dem Schwall der Mitteilung ausgeliefert zu finden?

Du solltest dich längst an die Neugier des erwachten Europäers gewöhnt haben, denn im Grunde ist sie dein Werk. Du hast nicht geruht, ihn nach deinem Bilde zu formen, den weißen Mann, hast seine Unruhe auf dem Gewissen, seine Sucht ins Weite, seine Gier, über die stille Einfalt der Kreatur hinauszustreben und gleich dir das Ferne und Abseitige aufzusuchen. Wie wir sagten, hat deine Golfstrom-Heizschlange ein sonderbares Treibhaus aus den europäischen Gegebenheiten gemacht. Kein Wunder, daß dieses erstaunliche Dinge hervorgebracht hat, ein Übermaß an Gut und Böse, das, überdies zu begackeln wie die Henne das Ei und in Büchern unter die Leute zu bringen, wohl das Merkwürdigste an menschlicher Artung darstellt. Du wirst verstehen, diese geistige Übervegetation konnte nicht haltmachen, auch nicht vor dir, mit ihren alles betastenden Ranken und Saugwurzeln.

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Kehren wir zu den einfachen Tatsachen zurück. Wieso ist überhaupt ein Wasserstrom im Wasser möglich? Er hat doch nicht wie ein Bach und Fluß feste Ufer. Und doch hat er Ufer. Die warmen Flutmassen des Golfstroms gleiten und wirbeln zwischen kälteren, elastischen, aber zumeist klar abgegrenzten Wasserwänden dahin. Die Ausmaße sind unvorstellbar riesig. Alle Ströme aller Kontinente zusammen, Jenissei, Ob, Jangtsekiang, Wolga, Donau, Elbe, Rhein, Nil, Kongo, Mississippi, Amazonas, und was wir sonst noch von der Schule her aufzählen können bis hinab zum lokalsten Rinnsal, das alles zusammen vermag nicht ganz die Wassermenge des Golfstroms aufzuwiegen. Durch die Straße von Florida pressen sich stündlich rund hundert Milliarden Tonnen warmen Salzwassers in den Ozean. Das übertrifft das Zwanzigfache aller Frischwasserzufuhr der Weltmeere, das heißt alles, was aus sämtlichen Flußmündungen und Regenwolken und den arktischen und antarktischen Gletscher- und Schmelzwässern sich in die See ergießt.

Betrachten wir das gigantische Fließband! Wenn auch nicht seit den Zeiten, da es noch unklar war, ob jemals aus dem Urschleim der Meere und seinen ersten Zuckungen die lebendige Zellenhäufung beginnen würde, die eines Tages auf dem Trockenen sich bis zur Bergpredigt, der Neunten Symphonie und der Wasserstoffbombe befähigt erzeigen sollte, rollt es doch schon so lange dahin, daß es wie Mythos ist, rollt dahin, so stetig wie die jagende Erde selber, doch, mit ihrer Geschwindigkeit verglichen, höchst gelassen, nämlich im Durchschnitt etwa so schnell, wie ein pünktlicher Beamter sich des Morgens zu Fuß ins Büro begibt.

Getrieben von der Preßluftpumpe der Passatwinde, wühlt nicht nur nördlich, sondern auch südlich des Äquators eine breite Meeresdrift nach Westen über den Atlantik, ungeachtet der ihr entgegenfließenden und sich dazwischendrängenden Guineaströmung. Die Äquatorialströme treffen auf das Kinn Brasiliens und preschen auseinander. Die Hauptmasse des Schwells biegt nach Nordwesten und läuft an der Küste entlang, vorbei an der Orinokomündung, und drängt zwischen den Kleinen und Großen Antillen hindurch in die Karibische See. Die verhältnismäßig engen Durchlässe zwischen Venezuela und der Insel Trinidad heißen entsprechend Schlangenmaul und Drachenschlund und flößten schon den weißen Entdeckern und Konquistadoren Respekt ein. Sie gewährten deren Schiffen wohl die Gnade, hineinsegeln zu können (Kolumbus erprobte es auf seiner dritten Reise). Die Ausgänge aus dem Mar Caribe aber mußten anderswo gesucht werden, und sie scheinen von weitem so zahlreich wie beim Kolosseum zu Rom, nahebei aber erweist sich, daß nur wenige Pforten passierbar sind. Der „löchrige Zaun der hundert Inseln“ vorm Atlantik bietet keineswegs überall einen bequemen Durchschlupf. Auch nicht für den gewaltigen Meeresstrom, der Neigung zeigt, die gestörte Äquatorrichtung möglichst bald wieder einzuschlagen.

Vorerst aber stauen sich die Wassermassen. Es ist keine Möglichkeit, sich der großen Gleicherströmung, die auf der andern Seite des Hindernisses Südamerika im Stillen Ozean weitergeht, wieder anzuschließen. Es ist, als sei eine Riesenschlange zerschnitten, und die beiden Teile ringelten sich lebendig weiter, bestrebt, wieder zueinander zu finden. Aber das Schwert liegt dazwischen, die mittelamerikanische Landbrücke, und obwohl es auf der Karte schartig und verschliffen genug aussieht, hat es doch Macht, die große Gleicherdrift und das Meer dieser Erde in zwei Hauptozeane zu trennen, in den Atlantik und den Pazifik. Das war nicht immer so. Aber sicher wird es noch lange so sein. Und die Nadelstiche der Kanalbauer werden auch nichts Wesentliches daran ändern.

Der eingepreßte Atlantikstrom, dessen natürlicher Ablauf schwunggerecht durch den Moskitogolf oder den von Honduras nicht möglich ist, schwillt auf im Kessel zwischen der Insel Kuba und der Halbinsel Yukatan. In diesem übermittelmeergroßen Heizkessel mit tropischer Oberfeuerung könnte der Meeresspiegel nicht als Grundlage für Höhenmessungen dienen. Er liegt rund einen halben Meter höher als am Äquator.

Der aus seinem Lauf gedrängte Strom bricht nun durch die Yukatanstraße. Da hält sich ihm der gewaltige Kübel des mexikanischen Golfes bereit. Man sollte meinen, er werde sich hineinstürzen und zur Ruhe gelangen. Aber nichts dergleichen geschieht. Es ist nicht so, wie man bis vor kurzem noch glaubte, daß dieser Golfkübel sozusagen vom Golfstrom überliefe. Man hat erkannt, daß nur ein paar schwache Seitensträhnen in den Golf tasten. Die Hauptströmung aber prallt an der Masse des Mexikogolfes ab wie ein Betrunkener von der Wand der Gummizelle. Und dann geschieht etwas kaum Faßliches. Der Yukatanstrom – wie er an dieser Stelle genannt wird – biegt in scharfem Knick nach Osten. Und mit rund zwei Sekundenmetern Tempo rauscht er durch den Engpaß zwischen Kuba und Florida, vorbei an der Stadt La Habana (nach der die Havannazigarren heißen) und dem Eisenbahndamm, der über die Korallenklippen der Südspitze Floridas zum alten Seeräuberfort Key West führt. Die Gewalt der Meeresströmung scheint nun entschlossen, brüsk in den Atlantik zurückzukehren.

Aber ein neues Hindernis stemmt sich entgegen, die wurstförmig gekrümmte Untiefe der Bahamabank. Zwischen ihr und der Landzunge Florida, die berühmt ist durch ihre Alligatoren, Nymphen, Testflugplätze und Hotelpreise, zwängt sich geschmeidig der Floridastrom hindurch und entflieht unbändig, um endlich ins Freie zu gelangen. Aus dem krummen Schlauch der Floridastraße wurde er, der nun auf den Karten die Bezeichnung Golfstrom trägt, in der gigantischsten Abflußströmung dieser Erde auf Nordkurs gedrückt und schießt wie aus einer Düse am Schelf der nordamerikanischen Küste entlang.

Beim Verlassen der Bahamaenge gesellt sich ihm, ihn verstärkend, ein Abzweig der Äquatorströmung zu, der Antillenstrom. Dieser hat ihn verlassen, als bei Trinidad die Drangsal des Inselgewirrs begann, und scheint die an den Wikingersprößling Peer Gynt gerichtete Mahnung zu beherzigen, um die Schwierigkeit herumzugehen. Er gelangt somit sachter als der ungestüme Hauptstrom an die Nordecke der Bahamas, und obwohl noch das Segelhandbuch des Atlantischen Ozeans 1909 berichtet: „Der Antillenstrom führt dreimal soviel Wasser wie der Floridastrom ...“, hat sich inzwischen herausgestellt, daß letzterer ihm sowohl an Wasser- wie Wärmetransport um mehr als das Doppelte, vor allem aber auch an Druck- und Düsenkraft überlegen ist.

Durch den Schwung der Palmbeachgefilde wie aus einem Teufelsrad an die Piste gedrückt, bleibt die Strömung dennoch der Küste fern. Sie erreicht nicht einmal überall den Schelfrand (das ist der Flachseegürtel, der die Kontinente mehr oder weniger breit umrandet und in zwei- bis vierhundert Metern in die steile Kontinentalböschung zur Tiefsee abfällt). Die Seebäder von Carolina, Virginia und Jersey, von Atlantic City und Long Island, denen der Golfstrom doch sozusagen vor der Tür vorbeifließt, erfreuen sich dennoch nicht seiner wohligen Warmflut. Eine von Labrador kommende kalte Gegenströmung drängt ihn seewärts und läßt die Badenden selbst im Hochsommer erschauern, macht also die Floridaorte und Westindia-Inseln desto verlockender.

Der polargekühlte Küstenstrom (nach einem der ersten Amerikafahrer Cabotstrom genannt), vom Golfstrom wie durch eine gläserne Wand ohne viel Übergang der Temperaturen getrennt – unmittelbare Begegnungen von fünfzehn mit fünfundzwanzig Grad Celsius sind nicht selten –, bringt es in Höhe der berühmten und berüchtigten Neufundlandbänke fertig, den Golfstrom nochmals aus der Richtung zu drücken, ihn, der immer noch verkappte Neigung zu zeigen scheint, irgendwo die Lücke zu entdecken, die zum Pazifik führt und die zu suchen eines Tages der weiße Mann sich aufmachte, gleichsam angesteckt von der unerfüllten Sehnsucht des Stromes.

Der eisige Gegner, der dem Golfstrom in die Flanke fällt, läßt nicht mit sich spaßen. Die beiden riesigen Naturgewalten bäumen sich stumm gegeneinander, und ungeheure Nebel steigen auf wie der Staub bei Reiterschlachten der Vergangenheit. Die schlängelnden, strudelnden, sich windenden Kämpen, der äquatorgeheizte, stark salzige Strom aus dem Süden und der salzarme kalte Eisschmelzstrom aus dem Norden, sie teilen sich in einzelne Heersäulen, staffeln sich und unterlaufen einander, verwirbeln und lösen sich. Aus dem unheimlich erbitterten Gerangel geht der Golfstrom sichtlich geschwächt hervor, zumal ihn der schon einmal bei den Antillen untreu gewesene Mitläufer wiederum verläßt und an den Azoren und Madeira vorbei nach Portugal, Afrika und zum Äquator umkehrt. Daß dabei ein zarter Fühler auch heute noch bis ins Mittelmeer tastet, ist höchst wahrscheinlich.

Indes nimmt der eigentliche, deine privateste Schlange, Tlaloca, seinen Weg gen Nordost, unaufhaltsam einem vagen Ziele zusteuernd, getrieben von anderen Kräften als dem Wind und sogar ihm entgegen, abgelenkt gen Ost auch von der drehenden Gewalt der Erde, die auf der nördlichen Hemisphäre alle Strömungen der Meere und Lüfte in Uhrzeigerrichtung zu zwingen sucht. Seine Breite beträgt an die sechzig Kilometer, seine Tiefe dreihundert Meter, hingleitend über die ozeanischen Abgründe, über den federnden Untergrund von fünf- bis sechstausend Metern kalten Atlantikwassers.

Auf dem fünfundvierzigsten Breitengrad, auf der Mitte zwischen dem St. Lorenz und der Spanischen Bucht, stemmt sich der Golfstrom noch einmal gegen die saugenden Mächte, die ihn gegen die gierig gespreizte, zerfressene Tatze Europa dirigieren. Es ist, als wolle er noch einmal südwestlich ausweichen und zwischen Labrador und Grönland die Davisstraße und die Hudsonstraße gewinnen, durch die arktische Inselwelt brechen und durch die Beringstraße und zwischen Kamtschatka und den Alëuten schließlich doch noch den Pazifik erreichen. Wie weit ihm solches, wenn auch mit fast aufgeriebenen Stoßtrupps, gelingt, und sei es unter dem Eise hindurch, bedarf noch letzter Erforschung.

Jedenfalls verdankt ihm die grönländische Westküste bei Godthaab, Neuherrenhut und Umanak (die Namen deuten auf eine gemischte und fromme Besiedelung) ihre kleinen heftigen Sommer und erträglichen Winter, indes das Klima auf der gegenüberliegenden Baffinsküste kaum für ein paar Eskimos und kanadische Polizeistreifen reicht.

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Die Hauptader des Golfstroms aber pulst längs der kalten Polarphalanx auf die Nordspitze Großbritanniens zu. Dabei sendet sie Tentakel gen Irland und Island und zur Ostküste Grönlands, die vor Jahrhunderten bestimmt kraftvoller waren und die größte Insel der Welt ihren Namen zu Recht tragen ließ, ehe die eisigen Schmelzwässer, von dem Wärmespender selber veranlaßt, ihn zurückdrückten und sich die Eiskappe polher über das grüne Land zog und die Küste mit Packeis blockierte und die wikingschen Siedlungen, die dort seit dem Jahre 900 und vielleicht schon früher bestanden, erstickte.

Nun aber dreht der einstmals große Vorstoß des Golfstromes in diesen hohen Breiten um Island herum ab. Er wird hier nach einem dänischen Forscher Irmingerstrom genannt und mildert das Klima der Edda- und Geisyrinsel so, daß dort mehr als 125 000 muntere (besonders muntere) Einwohner leben. Auf gleicher Breitenhöhe, auf der fast gleich großen Southampton-Insel ein paar Sonnenstunden westlicher, wird man vergebens nach ständiger menschlicher Niederlassung und Munterkeit fahnden. Flankenrauten wärmenden Wassers schweifen, nach anderen Auswegen suchend oder aber nach sonderlichen Plänen gelenkt, weit auf die Seite des geringeren Widerstandes, das heißt, des nicht so schroffen Temperaturgegensatzes, und gelangen durch den Kanal in die südliche Nordsee. Man merkt es gleich hinter der Isle of Wight, wenn auf dem Promenadendeck die Pelzmäntel verschwinden und der Steward statt heißer Bouillon Limonade serviert. Mehr noch wird die Nordsee um Schottland herum angefächelt, man spürt es wintertags bis Blankenese, ja bis Magdeburg und Prag, wenn der Westwind die Elbe heraufkommt.

Der Golfstrom selber zwängt sich zwischen den sturmumtobten Felsen der Färöer und den hundert düsteren Pony-Inseln der Zetlands (wie die Shetlands amtlich heißen) hindurch gen Norwegen. Sein Name wechselt in Norwegerstrom. Und nun beginnen seine letzten verbissenen Kämpfe gegen die Eiswasserströme des Nordens. Vielleicht handelt es sich auch nur um liebevolle Umarmungen. Jedenfalls zeigt die See sich hier oft unruhig. Seit alters spuken hier gefährliche Wirbel und Strudel, die sogenannten Mahlströme. Sie können kleineren Booten zum Verderben werden. Wir werden noch darüber hören. Beginnt doch hier das Dämmerland der Sagas; aber von hier aus wurden Island, Grönland und – lange vor Kolumbus – Amerika entdeckt; von hier aus gingen die ersten Weitfahrten nordatlantischer Männer in alle Richtungen der Windrose. Von Skandinavien aus wurde das antike Erbe teils zerstört, teils übernommen. Vom Nordkap bis Konstantinopel wurde eine blonde Ära eingeleitet. Die ersten Kiele wurden gelegt für eine abendländische Seeherrschaft, deren Kulmination England hieß und die ihren zenitalen Glanz um 1900 aufwies. Ein golfstromgezeugter Glanz, unruhig und wechselvoll, doch unverändert an den Atlantik gebunden, ganz gleich, wer die Erbschaft jeweils vorbereitete, übernahm oder übernehmen wird.

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Zwischen Island und der Arktis entzieht sich der Golfstrom gern der direkten Ortung. Aber überall zeigt er sich wirksam. Und der alte Götterstreit mit den Riesen scheint hier sein Urbild zu haben. Die „brüllenden Vierziger“ muten sänftlich an gegen die höheren Breiten, darin der Golfstrom zum letzten Male seine Windmühlen spielen läßt, ausgerechnet in den, neben der Neufundlandgegend, saftigsten Fischwaidgründen. Gegen selbstgebraute Schneestürme, gegen Gezeitenschwell und Polarströmungen setzt er sich rüstig durch. Die Meeresoberfläche weist auf siebzig Grad Breite noch eine Wärme von fünf Grad Celsius auf. An der USA-Küste muß man bis auf den fünfundvierzigsten Breitengrad äquatorzu wandern, um, etwa bei Neuschottland, das gleiche zu finden. Norwegen verdankt diesem Umstand seine eisfreien Häfen und Fjorde. Ohne den Golfstrom wäre auch Murmansk nicht der einzige eisfreie Hafen Rußlands. Der weit südlicher gelegene von Petersburg friert Winter für Winter zu, wie auch die übrigen Ostseehäfen. Hat doch sogar Oslo, nur einen Katzensprung um die Ecke vom Segen des Golfstroms entfernt, wintersüber eine Menge Eisbrecherarbeit nötig, um der Schiffahrt eine Fahrrinne offenzuhalten. Und während in Tromsö die ersten Veilchen blühten, konnte man 1954 den Bosporus zu Fuß überqueren, welch eisiges Ereignis seit dem Jahre 1200 oder seit 1200 Jahren – die Gazetten waren sich nicht einig – nicht gebucht worden war. Es hegte daraufhin jemand die Idee, das Rote Meer hätte dem Volke Israel einen ähnlichen Zufall beschert, als es auf dem Wege war, sich von der ägyptischen Kultur abzusetzen.

An der alten Vulkaninsel Jan Mayen und an der nebelumwogten, noch einsameren Bäreninsel vorbei streicht die äquatoriale Ahnung bis gegen Spitzbergen, immer noch bis auf hundert Meter lotbar, und teilt sich vor dem spitzen Südschelf. Als Nordkapstrom streichelt er ums „Gesäß des norwegischen Bären“ und macht die Barentssee befahrbar, bis er sich unter den spiegelnden Nordlichtern in der Tiefe verliert. Der andere Zweig feiert an der Südwestküste Spitzbergens die nördlichsten Golfstromtriumphe, indem er die Treibeisgrenze fast bis zum achtzigsten Grad hinaufschiebt. An der USA-Küste reicht diese hinunter bis zum fünfunddreißigsten Breitengrad, das wäre etwa in der Höhe von Baltimore. Auf der andern Seite Spitzbergens trifft man auf trostlose Arktis, aber an der begnadeten Kante läßt der Golfstrom in den Sommermonaten Juni bis August unter mehr als hundert Pflanzen auch Mohn, Anemonen und Steinbrech blühen. Die Gegend ist vom ewigen Eise des Nordpols nicht weiter entfernt als London von Oslo oder New York von Illinois oder Berlin von Paris, eine Strecke, die das Flugzeug in wenigen Stunden durchmißt.

Dann aber ist es aus mit der atlantischen Warmwasserheizung. Ihre letzten bisher meßbaren Strahlungen verlieren sich unter den achaten schimmernden Fluten und den Packeisfeldern des Eismeeres.

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Obwohl kaltes Wasser bekanntlich schwerer ist als warmes, vermag das Golfstromwasser kraft seines größeren Salzgehaltes das salzarme Polarwasser zu untertauchen. Wir sagten schon, es ist nicht ausgeschlossen, daß seine Spuren unterm Eise zu guter Letzt doch den Pazifik erreichen. Wie denn auch die letzten Ausläufer des Nordkapstromes an Sibirien entlang über Ost womöglich die Belohnung des langen Weges finden, und wären es auch nur ein paar Tropfen aus der Karibischen See, die, sich vereinend mit denen, die über West hereinsickern, wie Freudentränen durchs Beringmeer in den ersehnten Großen und Stillen Ozean münden. Und dann eisgekühlt mit dem Oya-Schio-Strom einschwingen in den Nordpazifischen Strom und gen Kalifornien reisen, dort gemeinsam mit den aufquellenden Tiefenwässern die heißen Gestade kühlen und, schließlich, nach Westen drehend, den Anschluß erreichen an den Nordäquatorialstrom auf der pazifischen Seite des Hindernisses Mittelamerika, das zu so weitem Umweg gezwungen.

Dann geht es in den ungeheuren Einsamkeiten an Hawaii vorbei und an verlorenen Atollen, und irgendwann knallt ein kilometerhoher Rauchpilz in den Himmel, und meilenweit sterben die Fische in den radioaktiven Giften militärischer Massenmordexperimente, und die Lungen der Fischer stinken, bedroht von Zerfall. Aber der Atem der Meeresströme duftet rein wie am ersten Schöpfungstag.

Lang ist der Weg bis Insulinde, wo die Wasser nach Süden und Norden auseinanderprallen (der gen Nord gehende Kuro-Schio ist der Golfstrom Japans), und nur schmale Strähnen finden in den Indischen Ozean, und wieder steht eine Schranke im Weg, der Klotz Afrika, und wieder beginnt das Ausweichen, diesmal nach Süden, herum ums Kap der Guten Hoffnung mit dem Agulhasstrom in den Atlantik und wieder gen Nord mit dem Benguelastrom und mit diesem einfließend in die Südpassatdrift und wieder gen Brasilien und hinüberschwingend in den Nordwestpassat und, von ihm getrieben, die berüchtigte Pfefferküste hinauf, an der Teufelsinsel vorbei wieder hinein in das Schlangenmaul und den Drachenschlund und in die See der Kariben. So kommt das letzte wieder zum ersten und zurück zu dir, Tlaloca.

Das ist ein Teil des wunderbaren Kreislaufes, der über unabsehbare Entfernungen durch die Ozeane der Welt geht und dessen großartigste Erscheinung der Golfstrom ist.

*

Runter die Mütze, Kuddl,

(dohl mit de Klott!)

dies ist der Golfstrom.

Wird dir warm unterm Hemd?

Ja, das kitzelt von tief her,

das Ziehende, Schmatzende,

durch den Schiffsbauch durch

bis ins Gedärm.

Und so glitzrig, so blau, so harmlos manchmal

wie ein Meerweib auf einem Seebadplakat

und, Deubel noch mal zu,

mit allen Wettern gewaschen.

Das streichelt dahin,

tiefer, als jeder Fabrikschornstein hoch ist,

oder die gesamte Takelage nebst Kirchturm

oder Wolkenkratzer und verschiedne Gebirge

und genau so tückisch

und schon so gräßlich lange,

eh es noch so viel Kram gab

und eh unsere Vorgroßväter sich von Ast zu Ast

in unsere glorreiche Gesittung schwangen.

Mahlzeit!

Und dies nasse Gesäusel

hat schon die Nina gehätschelt,

auf der jener Phantast und Geschäftsmann

Don Cristoforo Colon

– als Jungs nannten wir ihn Klumbumbus –

heimseilte, nachdem er den Bahamas

und den Inseln unter und über dem Winde

eine schlimme Entdeckung gewesen.

Höchst symbolisch war inzwischen sein Flaggschiff,

die Santa Maria (Beschützerin der Unschuld),

zu Bruch gegangen.

Aber vor ihm waren schon andre auf der Route,

die kleinen Barken von Plymouth Sound

und Dieppe und Bilbao

und die vom Clyde und von Cobh

und wo immer Europa die Visage

schnuppernd in die Kimm reckt.

Unglaubliche Burschen alle,

und nicht zu vergessen die Knorren von Nordland,

die auf Kabeljau- oder Feigenfahrt wollten

und sich nach Winland verirrten,

und weiß der Satan, was alles sonst noch

an unzufriedenen Seelen auf Westkurs ging,

denen die Grütze zu Haus

und das Gefasel der Zeitgenossen

zu blöd und zu mager war.

Bis sie dann merkten,

es ist überall Topf wie Henkel,

und dann Gegenkurs nahmen,

taschen- oder nasevoll oder nicht,

und wieder ankamen auf dem lauen Geruschel,

wenn es sie nicht mit einem Zwölfjackenpuster

zu den Haien geschickt.

Die, die an der Mole geblieben,

dachten sowieso längst,

die sind versoffen.

Bedeck dich, Kuddl!

Es fängt an zu wehen,

und Bootsmann pfeift.

Rauf auf die Bram und Reuels!

Setzt Bonnets, Jungs!

Homeward bound alle Lappen!

Dat weiht as’n Katt

so gulfy,

so moi.

Der große Fluss im Meer

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