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Der golfstrom fliesst ins bewusstsein der welt Wo sind die kretischen Segelhandbücher? · Das Fuchsloch zum Atlantik · Erster Kapitänsbericht · Seemannsgarn bis zur Spule · Beamtenwürde und Drachenblut · Vom Weberschiffchen zur Karavelle · Das Gesicht des Weitfahrers · Gibt es einen Golfstromtyp? · Die erste Europa-Union mißglückt · Gold oder Kabeljau · Der vergebliche Erdapfel · Depression auf der Fichteninsel · Das Mönchische und der Mord · Golfstromüberwinder · Das gewandelte Paradies und die Racheschlänglein · Dennoch spanische Grandezza

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Es wird nun Zeit, Tlaloca, zu berichten, wie der Golfstrom nach und nach ins Bewußtsein der Menschheit gedrungen ist, wie also die Neugier sich seiner bemächtigte und – man kann es auch anders sagen – wie der Mensch lernte, seine Erfahrungen anderen nicht vorzuenthalten.

Entschieden waren die ersten Wikinger des Mittelmeeres nicht die Phönizier, sondern die Kreter, deren Lebensstandard uns durch die Ausgrabungen zu Mykenä und Tiryns bekannt wurde. Er steht an Eleganz und Solidität denen moderner Großstädte nicht nach. Wir wissen auch, daß die Kapitäne, die den Ägyptern Zinn aus den spanischen und vielleicht sogar britischen und Gold aus irischen Minen besorgten, zumeist Kreter waren, aber ihre Segelhandbücher sind nicht aufbewahrt, und nur wenig mehr wissen wir von den Phöniziern, die das ägyptisch-kretische Seefahrtserbe antraten. Der Ahne aller wissenschaftlichen Unterhaltungsschriftsteller, Herodot, hat von einer ägyptisch-phönizischen Umschiffung Afrikas berichtet, die auf Befehl des Pharaonen Necho II. ausgeführt wurde, vom Roten Meer startete und nach zwei Jahren die Straße von Gibraltar (die späteren Säulen des Herkules) erreicht haben soll. Welche Erfahrungen die Schiffe mit den Küstenströmungen gemacht haben, ist nicht berichtet. Sie laufen durchweg höchst günstig auf diesem Kurs, bis bei den Kapverden die Plackerei gegen den Strom und gegen den Wind beginnt. Das mag um das Jahr 650 vor Christus mit den Ruderschiffen und der primitiven Besegelung schwieriger gewesen sein als heute, und die Besatzungen werden aufgeatmet haben, als sie endlich das Kommando: Hart Steuerbord! vernahmen und die spanische Küste über die Kimm blinzelte, als der Atlantik ein Einsehen hatte und sie mit stetigem Schwunge in das alte Fuchsloch, die Gaditanische Enge – wie der Wasserpaß zwischen Afrika und Europa hieß, ehe die Griechen und dann endgültig die Mauren andre Namen prägten –, ins heimische Mittelmeer schob.

Der erste Kapitänsbericht, der auf uns gekommen, ist der des karthagischen Admirals Hanno. Er leitete um 530 v. Chr., in der punischen Blütezeit, einen Transport von Auswanderern, die einige Stützpunkte an der afrikanischen Atlantikküste besiedeln sollten. Die Flotte scheint aus sechzig Schiffen zu je fünfzig Ruderern bestanden zu haben, mit insgesamt dreißigtausend Fahrgästen, darunter Frauen, und scheint nach Absetzung der Siedler an sechs Stellen bis nach Kamerun vorgestoßen zu sein. Es wird in der Aufzeichnung ein feuerspeiender Berg namens „Götterwagen“ erwähnt, und da angeblich die Eingeborenen den Kamerunberg heute noch so nennen, so wäre das wohl ein Beweis für die Echtheit jener Reise (falls nicht ein gebildeter Missionar sich als Überlieferungsträger eingeschaltet hat). Hanno ist angeblich wegen Proviantmangel umgekehrt. Wahrscheinlich aber wird ihm der Guineastrom in die Quere gekommen sein. Auch schwenkte die bis dort günstige Drift gen Westen in den allzu offenen Ozean, und der gute Nordostpassat drehte auf Süd.

Leider ist uns die Votivtafel, die Hanno nach glücklicher Heimkunft mit der Schilderung des Reiseverlaufs zu Karthago im Tempel des phönizischen Heimatgottes Melkart oder wahrscheinlich dem einer Meeres- und Mondgöttin hat anbringen lassen, nur in einer griechischen Abschrift überliefert. Deren einziges Exemplar befindet sich als wertvollstes Dokument nautischer Geschichte in der Universitätsbibliothek zu Heidelberg. Diese Abschrift, vom Verfertiger als Periplus des Hanno bezeichnet, was Segelanweisung einer „Umschiffung“ bedeutet und irreführend ist, enthält allerlei Flüchtigkeitsfehler und offenbare Mißverständnisse und sieht so aus, als stamme sie von einem Geheimagenten, der in der Sorge, beobachtet zu werden, seine Notizen eilig hingekritzelt oder gar aus dem Gedächtnis festgehalten hat.

Uns aber, Tlaloca, atmen diese Notizen die erste, fast unmittelbar überlieferte Begegnung mit dem Strömungssystem des Nordatlantiks. Griechische Geographen jener Zeit erzählen auch von einem undurchdringlichen Meere voll Tang, das die Karthager gekannt hätten. Es handelt sich zweifellos um jenes Gebiet inmitten des nordatlantischen Beckens, das heute unter dem Namen Sargassosee bekannt ist. Wir werden es noch näher kennenlernen.

Periplus ist ein griechisches Wort und verrät, daß sich die griechische Schiffahrt in Sicht der Küsten hielt. Die Phönizier und ihre Kolonisten, die Punier, haben uns leider keine direkten Segelanweisungen hinterlassen. Wir wissen aber, daß sie weit in den freien Ozean hinausfuhren und Faktoreien auf den Kanarischen Inseln, auf Madeira und wahrscheinlich sogar auf den Azoren besessen haben (wenn man den Topf punischer Münzen, der vor einigen Jahrzehnten dort in einer Strandruine von der Brandung freigespült wurde, als Beweis gelten lassen will). Sie scheinen sogar Bernstein aus Friesland geholt zu haben. Da sie die Straße von Gibraltar aber Hunderte von Jahren hindurch für jede Konkurrenz zu sperren und den Mund zu halten verstanden, gelangten nur dunkle Gerüchte von den „Inseln der Seligen“ oder auch den „Glücklichen Inseln“ hinaus und überdies von siedenden Fluten, schwimmenden Krautdickichten, in denen ein Schiff unentrinnbar verloren sei, genau wie in gewissen zähen Schlammgefilden, die plötzlich von jedem Wasser verlassen wären.

Dringt man diesem Seemannsgarn auf die Spule, so findet man unschwer den Faden der Tatsachen: Nebel, Hurrikane, Golfkraut, Watt und Schlicksände, Ebbe und Flut. Und die dampfspeienden Ungeheuer, von denen man erzählte, entpuppten sich als „Walfische“. Die Phantasie der Griechen war größer als ihre Neigung, die Munkeleien von Weitfahrten anderer selber nachzuprüfen. Das Meer war ihnen mit Recht mehr unheimlich als verlockend; ihr Seeheld Odysseus ist vor allem ein wahrer Märtyrer des Salzwassers.

Erst als die nüchterner denkenden Römer sich – ebenfalls ohne große Begeisterung – gezwungen zu sehen meinten, den Karthagern mit Gewalt die Handelsmonopole abzuknöpfen, und also in die griechischen Werft- und Reedereikontore eintraten, wurde man seetüchtiger und weitgreifender in Schiffsbau und Unternehmungsgeist. Das Ende war die völlige Ausrottung der Karthager. Die Römer hatten damals noch keinen Nerv für anderer Leute Kultur. Kein Tacitus hat über die Punier berichtet. Und selbst die Ruinen scheinen nochmals zerstört worden zu sein, ehe Römer und Araber und Christen sie überbauten.

Unter den einträglichen Handelsgütern stand Purpurfarbe im Altertum mit an höchster Stelle. Ornat und Würde der höheren Beamtenschaft rings ums Mittelmeer hingen davon ab. Die ursprüngliche Lieferantin, die Purpurschnecke, reichte nicht mehr aus, den Markt zu befriedigen. Da entdeckten die punischen Superkargos das „Drachenblut“, das Harz des Drachenbaums, der auf den atlantischen Inseln wächst, als äußerst dienlichen Ersatz. Ganz abgesehen von anderen verkaufsfähigen Waren, die jene Eilande, in der fruchtbaren Bahn des Golfstroms gelegen, in Fülle hervorbrachten, Bauholz, Cochenille, Ziervögel, Vogelbälge, Obst, Gewürze, Bluthunde und Sklaven.

Daß aber jene Inseln dann für viele hundert Jahre wieder in die Vergessenheit sanken, zeugt von der Gründlichkeit und Brutalität römischer Ausrottungstechnik. Keine Atombombe hätte auslöschender verfahren können. Die Karthager waren ihnen mit üblem Beispiel vorangegangen, hatten sie doch von dem alten Tartessos in Spanien, der anscheinend größten Handelsmetropole des Altertums, einer von atlantischem Ausmaße – König Salomo sogar bezog vieles daher –, kaum die Erinnerung übriggelassen. Doch ging das, was die römischen Militärs besorgten, bestimmt weit über das Wirtschaftsinteresse ihres Landes hinaus. Es mag aber auch sein, daß die karthagischen Marinebehörden selber, als nichts mehr zu retten war, für die restlose „Entwirklichung“ aller Konstruktionsunterlagen, Frachtlisten, Seekarten, Segelanweisungen und Kapitänsberichte gesorgt haben, zumal derlei Unterlagen sowieso Geheimdokumente des Staates waren.

Erst 1341 wurden die Kanarischen Inseln von den Portugiesen wiederentdeckt. Doch ist nicht ausgeschlossen, daß sowohl Araber als auch Normannen nicht nur Teneriffa, Gran Canaria und Madeira, sondern gelegentlich auch die Azoren schon vorher besucht haben. Jeder Tag kann aufklärende Funde ans Licht bringen. Noch ist es vielleicht verfrüht, gewisse Bandornamente auf Kultgefäßen und in Felsenzeichnungen atlantischer Küsten als Hinweise auf Meeresströmungen zu deuten. Auch ist es allzu verlockend, die bis ins Mittelalter reichenden Ansichten, das feste Land sei vom Okeanos wie von einem unermüdlichen Flusse umgeben, auf den Kreislauf des Golfstromsystems umzumünzen.

Begeben wir uns daher von den frühen Ahnungen, Tlaloca, denen du sicher faßbare Gestalt geben könntest, wolltest du nur reden, über lange Epochen des Nichtwissens hin in die Zeit, da du den Abendländer so weit aufgeheizt hattest, daß er statt deiner zu reden begann.

*

Der 13. September 1492 wird in der Ozeanologie denkwürdig sein als der Tag, an dem die erste uns überkommene Aufzeichnung über eine nordatlantische Strömung gemacht wurde. Da schreibt ein Weberssohn aus Genua, der aufgeweckt genug war, lesen und schreiben gelernt zu haben, und unruhig genug, um nicht Genüge zu Hause zu finden, und phantastisch genug, seinen Namen Colombo gegen den spanischen „Colon“ auszutauschen, aus einem Tauber also einen Siedler zu machen, in das Bordbuch einer ihm überlassenen Karavelle: Wir sahen einen zerbrochenen Mastbaum etwa in der Größe dessen der „Pinta“ an uns vorübertreiben. Er trieb schneller als unser Schiff, und wir verloren ihn aus den Augen ...

Der Sohn dieses Mannes, Ferdinand, berichtet ergänzend, daß der Vater eine Lotleine über Bord geworfen habe. Das Senkblei wäre in der Fahrtrichtung bis über den Bug abgelenkt worden, woraus man auf eine südwestliche Strömung im Meere geschlossen habe. Es muß an der Stelle gewesen sein, wo der Kanarenstrom in die Nordgleicherströmung übergeht.

Kolumbus notiert diese Tatsache ohne Erstaunen. Er berechnet den Zuwachs an zurückgelegter Entfernung mit selbstverständlicher Genugtuung, als finde er bestätigt, was er schon sowieso gewußt.

Was ist geschehen, daß so plötzlich das Schweigen gebrochen ist, das den Atlantik Jahrtausende überschattete? Wie hast du es angestellt, Tlaloca, diesen rothaarigen Abenteurer auf deine Spur zu locken?

Hätte man Schiffstagebücher aus den alten Zeiten von Bristol, Plymouth, Cobh, St. Malo, Dieppe und Honfleur, von den baskischen und iberischen Häfen, so würde man nachlesen können, daß nicht erst die Wikinger auf dem Umwege über Island und Grönland dahin kamen, sondern daß vielleicht seit der Blüte von Tartessos keine bedeutenden Lücken in der Atlantiküberquerung bestehen bis zum lauten Jahre 1492.

Aber die Ruinen schweigen, und die Archive sind hilflos. Doch jeden Tag ist das Auftauchen solcher wichtigen Bestätigungen möglich, Funde wie der Runenstein zu Kensington in Minnesota, USA, der von einer Entdeckungsreise berichtet, die acht Schweden und einundzwanzig Norweger im Jahre 1362 von der nordamerikanischen Küste aus westlich der großen Seen ins Innere unternahmen, oder wie das Wikingergrab, 1930 zu Ontario in Kanada gefunden, oder wie der alte Wikingerturm auf Rhode Island am Hafen von Newport, demselben reizvollen Orte, wo die großen Atlantik-Segelregatten starten, die also unbewußt eine sehr alte Tradition zur Grundlage haben.

Aber so sicher, wie heute nach mühseligen Forschungen die Tatsache ist, daß der weiße Mann schon Jahrhunderte vor Kolumbus Amerika entdeckt hatte, so fehlt uns doch eines, es fehlt uns sein Gesicht. Wir wissen nicht, wie jene Weitfahrer ausgesehen haben. Die Annahme, daß sie groß, blond und blauäugig gewesen seien, mag als vager Umriß für die Wikinger gelten, aber nicht für den eigentlichen Typ des Meerbezwingers. Es wäre einfach, die Typen der Erde in Bauern und Fischer einzuteilen. Man kommt sogar bis in die Büros und Industriebetriebe hinein weit mit diesen Urmaßen. Aber nicht jeder Fischer ist ein Weitsegler, nicht jeder Bauer seßhaft.

Wir kennen nicht Gesicht und Gestalt des João Vaz, der schon 1465 auf Dorschfang nach Neufundland segelte. Seine Söhne haben davon erzählt, als es Mode wurde, über solche Gemeinplätze Worte zu verlieren. Es waren die beiden Corte Reals, die im Jahre 1500 von Labrador berichteten, daß sie dort an Land gegangen seien, etwas nördlicher, als ihr Vater je für nötig befunden. Sie verschollen später in der Davisstraße, ohne uns ihre Gesichter zu hinterlassen.

Das Gesicht von Cristoforo Colombo ist das erste aller Seefahrer, das wir kennen.

Aber kennen wir nicht auch das von Heinrich dem Seefahrer? Doch die Miniatur vom Ende des 15. Jahrhunderts, die anscheinend durch Brautwerbung nach dem Norden verschlagen wurde, zeigt einen merkwürdig modernen Typ. Er wirkt aber nicht wie ein Seefahrer, und in der Tat ist er nur die vom Land aus treibende Kraft zur Überwindung der Schwierigkeiten gewesen, die den Afrikaumsegler in den Strömungen der Äquatorregion erwarteten. Er selber ist nie zur See gefahren. Seinen Titel trägt er, wie es bis heute vorkommt, ehrenhalber für die Taten seiner Angestellten. Und den Sprung über den Ozean hat er nicht wagen lassen. Er sieht so aus, wie hervorragende Sammler auszusehen pflegen, mit Augen, die aus der Überschattung der Brauenbögen hervorstechen. Der Blick ist zehrend und sinnend. Die kräftige Nase schnuppert, die Lippen schwellen saugend; die Wangen sind eingezogen. Solche Leute begehren energisch, die leeren Plätze ihrer Galerien und Kabinette zu füllen, sie sind geeignet, Agenten zu beauftragen und eine zähe Korrespondenz zu führen. Sie schlafen schlecht, träumen heftig von Errungenschaften und Okkasionen. Aber persönlich setzen sie sich höchstens in jungen Jahren auf die Fährte.

Heinrich, Infant ohne eigentlichen Posten, sammelte Seekarten, Seewege und Afrikanachrichten. Afrika war sein Spezialgebiet, seit er 1415 bei der Eroberung des maurischen Ceuta geholfen und gestaunt hatte, was in diesem Welthafen an Schätzen zusammengetragen war und was dort an Industrie und Akademien bestand. Er sah damals die erste Papierfabrik und die erste Baumwollplantage, und wäre er ein Typ etwa wie Jakob Fugger gewesen, ein Handelsmann vom reinsten Erwerbstyp – man halte beider Bilder nebeneinander –, so hätte er sein bei der Beuteteilung eingestrichenes Kapital vermehrt, anstatt es mit der Ausbildung von Kapitänen, der Anschaffung von nautischen Instrumenten und der Ausrüstung von Expeditionsflotten zu verbrauchen. Ehe er aber seine Leute zu der lange in der Luft geisternden Fahrt quer über den Ozean beauftragen konnte, starb er.

Es war das Jahr 1460, um die Zeit, da Johann Müller, genannt Regiomontanus (er stammte aus Königsberg in Franken), die ersten brauchbaren astronomischen Tabellen berechnete, wie sie zur Bestimmung der geographischen Orte nötig sind. (Kolumbus hat sie als einer der ersten benutzt.) Es war die Zeit, da es zur Bildung gehörte, die Erde als Kugel anzusehen, so, wie es die Alten gelehrt, bevor die Christenheit es vergessen hatte. Es war die Zeit einer erwachenden geistigen Unruhe, wie sie noch nie Europa heimgesucht, einer erhitzten Regsamkeit, eines fingernden Suchens nach Neuland, das in Ermangelung neuer Richtlinien auf alte Quellen und Wegweiser zurückgriff. Es ist die Welle des Humanismus, die strudelnde Flut eines geistigen Fiebers, die alles in sich hineinreißt, was an Bildung, Überlieferung und Spekulation das Abendland halb versunken untermauert oder abgeschirmt umgibt. Sie wirft die vergrabene Antike ans Licht, verschlingt die Kultur der Araber, bemächtigt sich der hebräischen Geheimwissenschaft, durchstöbert alles, bezweifelt alles, begehrt alles und schießt, alles umrankend, in die Weltöffentlichkeit.

Es ist ein Aufbruch des Geistes, der etwas Übermäßiges hatte, eine jähe Vegetation, die weit über die Grenzen der Ordnung wucherte und seitdem nicht aufgehört hat, die Welt zu beunruhigen.

Man hat viele Erklärungen für diesen „Abschied vom Mittelalter“ versucht. Man hat das Versagen der Kirche dafür verantwortlich gemacht oder die Türken, die den Gewürz-, Weihrauch- und Seidenweg nach Asien sperrten.

Wir, Tlaloca, wissen eine andere Ursache.

Es ist jene Zeit, da die Fahrten der Skandinavier nach Grönland und nach Nordamerika aufhören. Was hat das mit dem Humanismus zu tun? O ja, es hat vielleicht. Das große Vielleicht steht hinter jeder Antwort seit jener Zeit. Um jene Zeit nämlich wurden die Grönlandfahrten unbequem und die Siedlungen dort ungastlich, die sich doch einer langen Blüte erfreut hatten. Irgend etwas war in der kosmischen Harmonie geändert worden. Die Erdachse hatte sich langsam, langsam um ein paar Meter verschoben, oder die Sonne hatte einen zufälligen winzigen Ruck getan, oder irgendwo in den Abgründen der See hatten weitwirkende Einbrüche stattgefunden.

Jedenfalls ist um jene Jahrhundertwende die Packeisgrenze im Nordwesten vorgerückt. Die grönländischen Häfen sind von Eis blockiert, und der Weg mit den Strömungen gen Winland und Markland ist wegen Treibeis, Eisbergen und Nebel nicht mehr benutzbar. Und es schneit in Grönland, unaufhörlich. Die Siedler verkümmern. Sie und die alten Segelwege geraten in Vergessenheit. Sie wurden von der Midgardschlange verlassen.

Denn der Golfstrom, der warmblütige Schlangenstrom, hatte eine kleine Wendung nach Osten vollzogen.

Nun fließt er ein wenig näher heran an die zerfranste Tatze Europa. Und sieh, wie die unterm Cantus firmus Dahindämmernde sich zu regen beginnt! Sieh, wie die Winter milder werden und die Frühlinge und Herbste stürmischer und die Sommer feuchter, alles ein wenig nur, und sogar mit Rückschlägen – wenn in der Davisstraße die Gletscher das Kälberkriegen vergessen und der Golfstrom zurückschwingt, sie zu mahnen. Es sind nur ein, zwei Grade zuviel, verglichen mit dem, was der europäischen Lage natürlich wäre, aber hier und da sind es zwanzig Grade zuviel. Und der feuchte Warmhauch, der von der pulsenden Schlange aufdampft und den die Westwinde herübertragen bis an die Alpen und über die Alpen hin, er läßt Pfirsiche, Reben und Erdbeeren im Freien reifen, wo naturgemäß nichts als Kranichsbeeren wachsen sollten, soweit der Schnee überhaupt auftauen würde. Und er heizt die unbewußten Gemüter, die empfindsameren sowohl als die Holzköpfe, und indes die einen unruhig zwischen Himmel und Hölle fiebern, knallen die andern aufeinander und wissen nicht, warum, und suchen ihre Gründe in allerlei Vorwänden der Politik, des Ruhmes, der Ehre, des Himmels, der Macht und des Vorteils.

Es beginnt die Zeit der Umwälzungen, der konfessionellen Auseinandersetzungen, der Kriege, der Massenmorde, der Entdeckungen, der Deportationen, der Auswanderungen, der Erfindungen. Das golfstromerregte Abendland wirft sich auf sich selbst und über die Welt. Es ist verurteilt, über seine Maße hinauszusprießen, Unerhörtes darzustellen, sich über die ganze Erde zu verbreiten und – übersteigert und übernommen – sich selber zu verzehren.

Um 1400 wird der atlantische Mensch sichtbar. Er ist gezeugt vom Golfstrom. Immer schon war er vorhanden, dieser Golfstromtyp Europas, dieser unruhige, zuinnerst Fiebernde, dieser Getriebene. Aber lange blieb er auf die Mittelmeerländer beschränkt. Es würde eine dankbare Aufgabe sein, nachzuweisen, daß der Golfstrom einige hundert Jahre lang bis zum Beginn unserer Zeitrechnung eine weitreichendere Ader ins Mittelmeer geschickt habe. Soll doch Aristoteles gestorben sein in Verzweiflung über die vergebliche Erforschung der Meeresströmung, die in der Straße von Negroponte herrschte und wahrscheinlich die heutigen Strömungen weit übertraf.

Sein Schüler Tyrtamos, von ihm Theophrastos genannt, erkannte um 310 v. Chr. an der Drift von Seetang und versiegelten Flaschen, daß das Mittelmeer sein Wasser hauptsächlich vom Atlantik beziehe.

Tlaloca, sie werden mit Steinen nach uns werfen, wenn wir behaupten, zum Beispiel Platon und Aristoteles, Euklid, Archimedes und Herodot, Aischylos, Sophokles und Euripides verdankten ihre hohe geistige Nervosität und Fruchtbarkeit dem Golfstrom. Es wird uns aber nichts übrigbleiben als hinzuzufügen, daß Einmaligkeit nur aus Einmaligkeit entstehen kann, und wenn zehn Golfströme ihren hochzüchtenden Atem dazu herleihen.

*

Der Deutschamerikaner Manfred Curry, Arzt und Luftdruckforscher, hat in langen Untersuchungsreihen zwei Typengruppen des „homo sapiens“ weißer Hautfarbe herausgefunden. Sie lassen sich auch in andern Kontinenten mit Seeklima unterscheiden, aber nirgends so ausgeprägt und trennbar wie in Europa. Es sind – kühn behauptet – Strömungstypen. Sie leben neben- und durcheinander wie die warmen und kalten Strömungen des Nordatlantiks, wie diese in ständiger Bewegung, hier und da sich vermischend, die einen von der Wärme zur Kühle strebend, die andern rückschwingend von Nord gen Süd.

Curry hat sie als Luftdrucktypen bezeichnet, als warmfrontempfindlich und kaltfrontempfindlich, als W- und K-Typ. Damit ist er weit in der Entlarvung der europäischen Besonderheit und ihrer kolonialen Ableger vorgedrungen, wenn er auch die Basis nicht nennt, das atlantische Strömungsnetz, das in Wechselbeziehung zu den Luftspannungen steht. Der Chef der Wetterköche Europas heißt Golfstrom. Seine Launen servierten im Januar 1954 den Lappländern Sommertemperatur, indes in Südschweden die Milch am Ofen gefror.

Betrachtet man die Gesichter norwegischer Seefahrer, so findet man vorzugsweise W-Typen, untersetzt, mit hochgeringelten Mundwinkeln, flachliegenden Augen, von zykloider Gemütslage, warmfrontempfindlich, windfroh und kältestrebend. Es sind die Nachfahren des Winlandfahrers Leif, des Sohnes Erichs des Roten, unerschrockene Weitfahrer, ruhelose Seewanderer, die über Island und Grönland, nicht über Spanien Amerika erreicht haben, also auf den kühlen Rückdriften und Gegenströmen des Golfstroms. Es sind Golfstromüberwinder. Sie heuern heute auf Walfängern an. Norwegen hat die größte arktische und antarktische Walfangflotte. Und wo die eigenen Schiffe nicht reichen, sind sie auf fremden Walkochereien, zumal als Harpunierer, gesuchte Leute.

Es gibt den andern Typ, den hageren K-Typ mit den tiefliegenden Augen und den schmaleren, weniger windlüsternen Nüstern, aber er ist mehr über den Kontinent verstreut und in den übrigen europäischen Bevölkerungen aufgegangen. Er gehört zu den Nachkommen der „Feigenfahrer“, der in südliche Wärme strebenden Langbootleute, die von Etappe zu Etappe längs der Nordseeküsten in die warmen Gebiete des Mittelmeeres einbrachen, wo die Wärme kein unnatürliches Plus aufwies wie zu Haus, sondern wirklich warme Wärme war, die ihnen, den kaltfront-empfindlichen Langnasen und blinzelnden Sonnenanbetern, angenehm über die skeptisch hängenden Mundwinkel strich.

Aus den beiden wikingschen Typen mischte sich der atlantische Seefahrertyp, wie er an den Wasserkanten zwischen Cap Cod, Boston, den Scilly Inseln, Tromosoe und Nord- und Ostsee gedeiht, so stämmig als sehnig, mit „Schaukelmund“ und „Windnüstern“ und brauig beschatteten, horizontspähend verkniffenen seefarbenen Augen.

Daß diese Typen wandlungsfähig in sich selber sind, wird oft beobachtet. So wurden die ursprünglichen W-Typen Fridtjof Nansen und vor ihm der Polarforscher Nordenskjöld – der allerdings nicht ruhte, bis er auf den letzten Tropfen Golfstrom mit seinem Schiff „Vega“ die Nordostdurchfahrt und Japan erreicht hatte – in der Härte ihrer Anstrengungen zu K-Typen.

Die Nachprüfung dieser Theorie an unzähligen Bildern, an alten Wandteppichen, Gemälden, Kupfern, Reliefs, Plastiken, Fotos und Zeitgenossen hat eben erst begonnen. Sie wird womöglich einige Dunkelheiten in den Abläufen der europäischen Geschichte auflichten und die Handlungsweise dieser und jener Figur eingliedern in die Gegebenheit des einen oder anderen Wettertyps. Mit aller Rücksicht auf die Grundfesten der Entwicklungslehre und ohne eine weitschauende Entelechie leugnen zu wollen, wäre zu vermuten, daß der Forschung, soweit sie den Menschen zum Mittelpunkt hat, eine historische Bioklimatik und sozusagen eine Persönlichkeits-Meteorologie nicht wenige dienliche Schlüssel liefern würde. Denn die Umtriebe der golfischen Westwinde scheinen zumindest über Mitteleuropa ein Abbild des Golfstromsystems zu zeitigen. Einem Forscher mit empfindlichsten Antennen sei empfohlen, die politische und kulturelle Geschichte Europas daraufhin zu untersuchen. Es würde dabei auf eine Art Geistesgeographie hinauslaufen. Bioklimatische Tabellen würden Typen und Zeitgeschehen ordnen. Die Kurven der Völkerspannungen müßten gekoppelt werden mit den Skalen atlantisch-dynamischer Schwankungen, insbesondere des Golfstroms. Man würde diesen vielleicht in Fortsetzung des Zirkelschlags der Strömung über Murmansk und Suez gespiegelt und in großer Spirale alle europäischen Unruheherde mit ihm verbunden finden. Man wird dabei versucht sein, die orkanfreie Zone des Nordatlantiks, die Sargassosee, mit der Schweiz zu vergleichen und sie – nach den Erfahrungen der letzten anderthalb Jahrhunderte – das Windauge Europas nennen.

*

Kehren wir zu Kolumbus zurück. Betrachten wir sein Bild. Es ist 1515 gemalt, also fast zehn Jahre nach seinem Tode. Zweifellos lagen dem Ölgemälde Skizzen zugrunde, die zu seinen Lebzeiten entstanden waren. Es hängt, im Besitze der Familie de Orchi, in einer Villa zu Como. So ist also der Atlantiküberquerer an einem lieblichen Abglanz des unheimlichen Weltmeeres vor Anker gegangen. Wir sehen ihn an. Er wirkt eigentümlich lebendig. Man meint ihn atmen zu hören, hörbar und lufthungrig. Seine bogigen Augenbrauen, seine großen, feuchten, sinnlich unterschatteten Augen, seine geweiteten Nasenflügel, der „Schaukelmund“, dessen Winkel trotz unverkennbarer Schwermut nach oben neigen, die glatte Stirn, das leicht ergraute flockige Haar, das Grübchen im kleinen vollen Kinn, die füllige Figur, das alles weist auf den W-Typ, den Warmfrontempfindlichen, den Golfstromerregten. Es ist nicht das Bild eines verbissenen Kämpfers, es ist das eines sehnsüchtigen Träumers, und erschauernd kam mir das Goethische Wort von der Macht der „sanften Gewalt“ zum Bewußtsein.

Er wuchs in Genua auf, wo sich das Meer damals – als noch nicht die Hafenmolen gebaut waren – der Stadt in den geöffneten Schoß warf und jedermann über den Nächsten hin den Blick zum Horizont richtet. Noch heute zählt Genua mehr Seeleute und Auswanderer als sonst ein Ort in Italien. Die Stadtgeschichte ist eine der blutigsten und – nach veralteter Anschauung – voll glorreicher, in Wahrheit räuberischer Eingriffe in den Besitz anderer. Es besaß Inseln und Kolonien bis in die Vorstädte Konstantinopels und an den Küsten des Schwarzen Meeres, hatte aber, als Kolumbus lesen lernte, kaum noch so viel, daß eine Zeile auf der Schreibtafel mit den Namen voll wurde. Doch der Ehrgeiz, Beute zu gewinnen und auf Vorteil bedacht zu sein, war in jedem Genueser noch immer groß, und auch Handel zu treiben, wohin immer der Wind das Segel preßte. Altes ligurisches Blut mischte sich hier mit burgundischem, langobardischem und normannischem Wanderer- und Seefahrerblut; die roten Haare des Knaben deuten auf solche Mischung hin. Sein Vater war Tuchweber, und auch er wurde Weber. Aber die unruhige Phantasie dieses Kopfes sah das Weberschiffchen von Rahmen zu Rahmen zwischen den Küsten des Ozeans hin und her gleiten, und Kette und Einschlag wurden ihm zum Netz der Windstrahlen, wie sie auf den Portolanen und Rumbenkarten die Meere einteilen und befahrbar machten dem, der sich danach zu richten wußte.

In Genua gab es Leute genug, die solche Karten zu zeichnen verstanden, und sie hatten keinen Mangel an Kunden. Noch immer gab es Firmen, deren Handel sich nicht nur weit übers Mittelmeer verzweigte. Man konnte von manchen nicht nur schottische Krüge und Isländisch Moos, friesischen Bernstein, norwegische Eisfuchsfelle und portugiesischen Stockfisch beziehen, sondern sogar weiße Falken, die schon der große Sohn der Normannenfürstin Konstanze, der König von Jerusalem und Sizilien, Kaiser von Deutschland und Italien, Friedrich II., in seinem Jagdbuch gelobt hatte und die nur aus Grönland zu bekommen waren.

Seit hundert Jahren erzählte man auch von zwei Genueser Matrosen namens Benedetto Vivaldi und Perivalla Stancona; sie waren – wahrscheinlich nach einem Schiffbruch im Beiboot – über die Kanaren westwärts bis angeblich nach Indien glatt übers Wasser gelangt. Man hatte zwar dem Heimkehrer Stancona das Garn nicht recht glauben können, was er da von braunen nackten Weibern und goldenen Nasenblechen, von Kopfputz aus Vogelfedern und Mahlzeiten aus Schildkröteneiern gesponnen und daß sie bis zu den Azoren ohne Segel zurückgetrieben waren. Er war nur ein einfacher Mann, der keine beredten Sätze zu formen wußte, und sein einziger Zeuge war, von der langen Fahrt erschöpft, unterwegs gestorben.

Mit zwanzig Jahren vertauschte Cristoforo die zarten Fäden des Webstuhls mit dem harten Tauwerk eines Frachters, der mit Stückgut, Wein, Pinienkernen und Marmor nach Bristol und Leith segelte und allem Anschein nach Rückfracht bis von Island her zusammenholte. Sein Ohr wird begierig den kargen Schnäcken durchsalzener Janmaaten aller seefahrenden Nationen gelauscht haben, denen sogenanntes Land hinter der Westkimm ein selbstverständlicher Begriff war. Aber sie wußten nicht viel Gutes darüber zu berichten, knurrten von Nebel und Eisbergen, schlechten Landeplätzen, Unmengen Fliegen, häßlichen, in Felle gekleideten Einwohnern und keiner Möglichkeit, anständigen Proviant zu übernehmen. Wenn nicht die lohnenden Kabeljaufänge wären, würde kein Hund jene ungastlichen Striche je wieder ansteuern.

Sicher war der Stockfischhandel kein schlechtes Geschäft. Aber der Genueser Überlegung schienen schon allzuviel Partnerschaften daran beteiligt. Und nach den poetischen Bemerkungen in seinen Tagebüchern war Kolumbus ein für Schönheit empfängliches Gemüt, das Blumen und Nachtigallen liebte und Gefallen hatte an hübschen Mädchen. Die Kabeljauküste konnte ihn nicht locken. Von levantinischen Kaufleuten wußte er, daß gewisse Sachen, die noch lohnender als Stockfisch waren, nur unter dem Äquator recht gedeihen, als da sind: Gold, Perlen, Edelsteine, Elfenbein, Schildpatt, Ingwer, Pfeffer, Muskat. Man bezog derlei wohl aus Afrika. Die Portugiesen besaßen da ein Monopol und diktierten die Weltmarktpreise. Man hatte vormals, bevor die Türken die Dardanellen und die Suezenge sperrten, diese gewinnbringenden Luxusgüter auch aus Asien bezogen, aus Indien und aus Catai und Zipangu – wie damals China und Japan in Europa genannt wurden.

Der junge Kolumbus hatte das Zeug, Kaufmann zu werden. Jedenfalls konnte er gewandte Briefe verfassen. Er konnte sogar Latein. Wo er das alles gelernt hat und wann, ist schwer festzustellen, wahrscheinlich aber in der Klosterschule der Minoriten zu Genua. Er hat diesem Orden eine rührende Anhänglichkeit bezeigt. Das zeugt von dem Hang zur Schwärmerei, der, gepaart mit der bedeutenden Fähigkeit des W-Typs zu folgerichtigem Denken – kraft der besseren Hirndurchblutung pyknischer Konstitution –, ihn über den einfachen Ex- und Importeur hinausführen mußte. Er verliert aber keine Zeit mit irgendwelchen Gemeinschaftsstudien, wie man sie auf Universitäten treibt. Er ist Praktiker und Selfmademan, vernimmt aus einem Klosterklatsch, daß der Oxforder Minorit Roger Bacon und selbst der französische Kardinal Alliacus die – keineswegs in der Bibel belegbare – Ansicht hegten, die Erde sei eine Kugel. Das bestätigt ihm die Auffassung des Florentiner Arztes, Physikers und Kräuterkrämers Toscanelli, der – das hat sich herumgesprochen – schon von den Portugiesen zu Rate gezogen worden war. Man hatte vergilbte Papyrus- und Pergamentrollen in ehrwürdigen Bibliotheken aus dem Staube gefischt, soweit Goten, Wandalen, Normannen und Sarazenen nicht schon ihre Wachtfeuer damit angeheizt. Man hatte bei Aristoteles, Strabo und Seneca Anhaltspunkte gefunden, daß man die begehrten Gewürz- und Edelsteinländer in Fernost nicht nur über die verlustreichen Wüstenstrecken der Seidenstraße, nicht nur über die gesperrten Land- und Wasserengen am Ostausgang des Mittelmeeres erreichen konnte, ja daß sogar der mächtige Umschlagplatz Alexandria mit seinen unerträglichen Provisionen und Zöllen zu umgehen sei, indem man über den Buckel der runden Erde stracks durchs Meer gen West segeln würde.

Dottore Paolo dal Pozzo Toscanelli hatte es sogar unternommen, genaue Entfernungen zu berechnen.

Bartolomeo Colombo ist Kartenzeichner zu Genua. Eines Tages bekommt sein Prinzipal aus Florenz von Maestro Toscanelli den Auftrag, mehrere Kopien einer Karte anzufertigen, die höchst säuberlich den Ozean darstellt, eingeteilt in ein Gradnetz, so daß er wie eine holländische Kachelwand aussieht. An der einen Kante finden sich die Küsten von Spanien und von Afrika, und letzteres ist durch eine Art Krokodil und eine Palme gekennzeichnet. Auf der andern Seite liegt das Festland Asien, von einem Drachen bewacht, davor eine Menge Inseln. Im übrigen reicht die Karte von einer Andeutung Norwegens über England bis zum Äquator. Das Meer ist mit weniger Ungeheuern belebt, als bislang üblich war. Man findet in Höhe der Azoren einen sanften Schwan, der wohl – als dessen Sinnbild – an den irischen Missionar Brandon erinnern soll. Er hat früh – wie die Sage berichtet (und welche Sage hätte nicht einen wahren Kern?) – das Evangelium über den Atlantik getragen; denn nicht Rom, sondern Irland war auf fast mystische Weise das Zentrum, von dem aus seit dem Jahre 600 Nordeuropa das Christentum bis hinauf nach St. Gallen empfing. Wie denn Irland seit je ein atlantisches Asyl der Kultur gewesen ist, schon lange vor unserer Zeitrechnung. Dort berührt der Golfstrom zum erstenmal die Flanke Europas, und sein unruhiger Puls ist zweifellos der Erreger der unaufhörlichen Unruhe der Grünen Insel, ihrer Hungersnöte, Revolutionen, Auswanderungen und ihrer geistigen Fruchtbarkeit, vom ungewöhnlich reichen Schatz der Folklore bis zu Bernard Shaw.

Auf Toscanellis Karte sieht man Irland, größer als die Britische Insel gezeichnet, als rechten europäischen Vorposten im Atlantik liegen. Ein Mittelmeerschiff mit Lateinersegeln davor hat Kurs auf Gibraltar und erinnert daran, daß die Römer so gut wie die Skandinavier viele hundert Jahre lang Gold und Bronzewaren von Irland bezogen haben. Die Karacke hat einen Kurs, der nicht besser sein könnte, um den Golfstromzweig dieser Gegend für die Fahrt auszunutzen. (Wir folgen hier allerdings der geistreichen Rekonstruktion des Kartographen Heinrich Wagner.)

Und ähnlich geht es mit zwei weiteren Fahrzeugen. Man wird ihrer Anordnung nicht gerecht, wenn man sie rein malerischen Gründen zuschreibt. Und obschon keine Meeresströmung eingetragen ist, so liegt die von der „Neuen Welt“ kommende Karavelle im oberen Sektor haargenau und dazu mit gutem Westwind im Golfstrom, indes die im unteren Abschnitt aufs günstigste die Nordäquatorialdrift gen „Indien“ bevorzugt, milde verfolgt von einem Haifisch. Der Walfisch drunten im Westen speit Wasser aus dem Maule wie ein Brunnendelphin. Er sieht böse aus, aber es war ja auch nicht angebracht, mit ihm zu spaßen, und seine Anwesenheit an der Strömungskante entspricht, ob zufällig oder nicht, den biologischen Tatsachen.

Besonders reizvoll ist ein Ruderboot weit im Norden. Es ist entschieden ein Wikingerboot und dokumentiert schlicht die Kenntnis der skandinavischen Verbindung zu jener atlantischen Küste, von der es auf dem Heimwege ist, ohne daß hier für nötig befunden wurde, einen Kabeljau einzufügen, denn die Karte sollte den Weg von Küste zu Küste aufzeigen, und es ist auch fraglich, ob dem italienischen Gelehrten die Herkunft des brettartig getrockneten Fastenfisches bekannt war, den man am Karfreitag auch zu Florenz schätzte und der über Bristol und Portugal eingeführt wurde.

Von dieser Karte scheint je eine Durchzeichnung nach Portugal und nach Deutschland gegangen zu sein, an den Domherrn Martins zu Lissabon, der sie als Beichtvater des Königs Johann II. nebst einer brieflichen Erläuterung als Antwort auf eine Anfrage nach dem Westweg gen Asien der Krone vorlegen sollte, und an den Kosmographen Regiomontanus zu Nürnberg, dessen Drukkerei im internationalen Austausch der Wissenschaften Material sammelte für Kalender, Seefahrtstabellen und „Erdäpfel“ (wie die ersten deutschen Globen genannt wurden).

Bartolomeo Colombo erzählt dem Bruder, als der gerade von See kommt, von der ihm mehr ulkig als glaubwürdig erscheinenden Karte. Cristoforo findet Einlaß in die Werkstatt, starrt auf die Projektion ungeheurer Weiten und Verlockungen. Er ist plötzlich wie betrunken, lallt die eingezeichneten Namen Antilia, Zipangu, Katai, Zailon, Namen, mit denen die Vorstellungen von dem verknüpft sind, was später Japan, China und Indien heißt. Dann besinnt er sich, prüft und vergleicht mit dem, was die windgebeizten Weitfahrer in den atlantischen Hafenschenken nach dem sechsten Glas Galgan oder Pjolter oder Aquadente an Garn zu spinnen wissen. Er rechnet die Entfernungen nach, zählt die Meilen und die Etmale, begutachtet die Segelstellung und die Kurse, die Lage von Inseln und Küsten, entdeckt Mängel und Unzulänglichkeiten. Aber eines scheint mit dem Haufen der Aussagen übereinzustimmen: die Richtungen und die Entfernungen.

Toscanelli hat die Entfernung von Europa bis Asien über West als ein Drittel des Erdumfanges angegeben. Es sind in Wahrheit zwei Drittel. Dennoch stimmt es von Küste zu Küste, nur, daß es eben nicht Asien war, was dort lag und dessen Existenz – aus vielfacher Erfahrung vage bestätigt – eben erst einmal den Arbeitstitel Asien bekam. Der Irrtum ist keineswegs beschämend. Erst kürzlich wurde eine Entfernungsunterschätzung berichtigt: man hatte bislang nicht erkannt, daß der Andromedanebel genau noch einmal so weit von uns entfernt liegt, wie bisher angenommen. Für einen künftigen Weltall-Kolumbus mag das nicht ohne Bedeutung sein; denn womöglich wird er auf der Strecke von anderthalb Millionen Lichtjahren auf halbem Wege ein anderes Amerika entdecken, das uns heute noch durch irgendwelche kosmischen Schleier verhüllt ist.

Kolumbus hat eine Kopie der Florentiner Seekarte auf seiner ersten Reise zu Rate gezogen. Er besaß auch eine Abschrift des lateinischen Briefes, der 1474 das Exemplar für Lissabon begleitet hatte. Man fand sie 1875 in einem Buche, das unzweifelhaft aus der Bibliothek des Entdeckers stammt und die Züge seiner Hand aufweist. Ob nun, wie sein Sohn Ferdinand später berichtet, Toscanelli selber – schon über achtzig – den Anfragen eines einfachen Seemannes nicht nur die portugiesische Geheimakte, sondern auch weitere Auskünfte zur Verfügung gestellt hat, oder ob Kolumbus, nach Lissabon übergesiedelt, dort erlaubten oder unerlaubten Zutritt zum Marinearchiv gefunden – schlafwandlerisch kühn und instinktsicher, wie W-Typen es vermögen –, ist völlig gleichgültig. Dem Genie dienen alle Wege zum Besten, solange es sich vor Blutschuld bewahrt.

Lissabon hat die Mündung des Tejo wie eine Kartaune auf den Atlantik gerichtet. Johann II. hatte die Stadt zur Residenz erhoben. Der Geist Heinrichs des Seefahrers war neu erwacht. Der Bedarf an Kapitänen von Rang stieg. Seit Genua von Mailand regiert wurde und von einer Welt- und Kolonialmetropole zur Landstadt herabsank, mußten sich ihre brotlos gewordenen Seeleute nach neuen Chancen umsehen. Lissabon bot sie. Ein Genueser brachte es dort bald zum Flottenchef, mit der Vereinbarung, stets mindestens zwanzig Kapitäne mit Genueser Patent für Portugal zu verpflichten. Außerdem war man nicht kleinlich betreffs Vorleben und Vorstrafen, wenn der Mann tüchtig war und sich nicht scheute, die elenden Entbehrungen auf der Suche nach dem afrikanischen Umsegelungswege gen Indien auf sich zu nehmen. An den geraden Westweg wollte niemand recht heran. Man schien Wind davon zu haben, daß dort gar nicht Indien anzutreffen sei. Und Toscanellis Brief und Karte verstaubten in der Akte der Aufgeschobenheit.

Man glaubte sogar recht genau zu wissen, was drüben zu erwarten war. Hatte doch vormals so etwas wie eine Trustgründung im Werden gelegen, ein europäisches Nutzungsbündnis atlantischer Möglichkeiten, als um 1420 König Erik von Skandinavien dem portugiesischen Hause verschwägert wurde. Er hatte gleichsam als Morgengabe seinen besten Lotsen, Abelhart, nach Lissabon geschickt, damals, als er die Base Heinrichs des Seefahrers geheiratet hatte. Abelhart hat den weitschauenden Südländer sicher mit den Fischgründen Neufundlands bekannt gemacht, die ja bis heute von portugiesischen Schonern aufgesucht werden. Auf dem Wege wurden so nebenbei Madeira und die Azoren wiederentdeckt. Aber das vorrückende Eis hatte den Nordwestkurs unerquicklich gemacht. Und was man im übrigen, auch westlicher, von den Küsten gesehen hatte, war nicht verlockend genug. Was man suchte, war Reichtum, große Beute an Werten. Neuland als solches war noch nicht gefragt. Und wenn das Kolonialamt zu Lissabon freimütig Privilegien vergab an fast jeden, der sich anbot, unbekannte Länder zu entdecken, so gehörte das seit dem weitschweifenden Heinrich sozusagen zum Bürodienst.

Aber bislang war nichts Beachtliches dabei herausgesprungen. Man hatte Staatsgelder an Prahlhänse vergeudet. Ein Krieg mit Spanien wegen irgendwelcher Ansprüche leerte die Kassen sowieso. Und als Kolumbus wegen einer bescheidenen Unterstützung anfragte, winkte man ab. Schon wieder einer, der quer ins Unbekannte wollte und behauptete, dort indische und mongolische Schätze scheffeln zu können, indes man doch zu wissen meinte, daß auf jener Strecke nichts dergleichen zu holen sei.

Außerdem mußte man sich finanziell auf sichere Ziele beschränken. Diese hießen Afrika und, um Afrika herum, der Weg nach Indien. Und hatte man seit Diego de Teive (etwa 1450) gedörrten Salzdorsch von drüben, von den Terras de Bacalhão, direkt bezogen, im Augenblick war auch das über Bristol mit englischen Schiffen billiger.

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Colons Sohn berichtet, sein Vater habe ihm erzählt, erst in Lissabon sei ihm die Möglichkeit, Indien übers Meer gen West zu erreichen, zur Gewißheit geworden. Ihn erfaßt die sengende Unruhe, die vom Golfstrom so nahe hereinspült und mit dem Portugalstrom um die Füße des Kontinents kitzelt. In Lissabon gab es einige Emigranten, deren Firmen in Genua fallit gegangen oder deren Weiterkommen im heimischen Außendienst eingeschlafen war. Sie hatten, tüchtig und vom näheren Atem des Golfstroms neu befeuert, ihre Geschäfte frisch etabliert, Weinhandel, Schiffsbedarf, Textilien, und zum Teil auch gut in die fremde Gesellschaft eingeheiratet. Die Söhne wurden Priester, Superkargos, Diplomaten, Kapitäne. Bartolomeo Perestrello zum Beispiel – seine Schwester war die Geliebte des Erzbischofs von Lissabon – brachte es zum Gouverneur von Porto Santa, der Nebeninsel Madeiras, verheiratet in dritter Ehe mit Isabel Moniz. Durch welche Beziehungen Kolumbus, eben dreißigjährig und als Weber, Kartenzeichner, Seefahrer, Zuckerhändler und Pläneschmieder bislang ohne nachhaltige Erfolge, in die hochadlige Atmosphäre der Witwe geriet und Neujahr 1479 sogar deren Tochter Felipa heiratete, wird nur aus seiner Persönlichkeit erklärbar sein. Diesem W-Typ muß der allgemeine italische Scharm eine ungewöhnlich beschwingende erotische Strahlung verliehen haben, die ihm von den Etruskern her, den Meistern der Schmiedekunst und der Liebe, im Blute stecken mochte – erregt zudem von der atlantischen Strömung, erregt von dir, Tlaloca, die sich in zwiefacher Gestalt ihm nahte, da bald die eine im Kindbett erlosch und ihm den Sohn Diego hinterließ, und er vorübergehend Trost fand bei Beatrix, einer schönen Weinbauernmagd, bis er sich ganz an das Imago deines Wesens und in seine atlantische Unruhe verlor.

Ein anderer atlantischer Typ ist der Nürnberger Martin Behaim, anfangs Handlungsgehilfe im Kontor der Fugger zu Antwerpen, dann, der golfischen Erregung der Zeit folgend, einem Auswanderertrupp angeschlossen, als Isabell, Herzogin von Burgund, von ihrem portugiesischen Neffen eine Insel zum Geburtstag bekommen hatte und Siedler und Steuerzahler brauchte. So kam er auf die Insel Fayal, die zu den Azoren gehört, und die Seefahrt und die Mängel der Schiffsführung hatten seine Aufmerksamkeit mehr beansprucht als die Methoden des Landbaus. Er begann privat Nautik zu studieren und soll den Vorläufer des Sextanten, den Jakobstab, erfunden haben, der zur Messung der Gestirnshöhe dienlich ist und hilft, Zeit und Ort auf See zu bestimmen.

Wie Kolumbus, heiratete er in die Gesellschaft ein, eine Flamin, die Tochter des Statthalters zu Fayal, und lebte dann länger in Lissabon. Nicht unmöglich, daß die beiden besonderen Geister, die sich unbewußt ergänzten, einander begegnet sind. Aber indes Kolumbus zäh an die praktische Erfüllung seiner Fernwehvisionen ging, kehrte Behaim nach Nürnberg zurück – wahrscheinlich ähnlich wie Kolumbus vom portugiesischen Mäzenatentum enttäuscht – und baute dort, von den wachsenden Interessen der heimischen Handelsfirmen angeregt, als theoretische Untermauerung der neuen Weltanschauung für jedermann sichtbar, einen „Erdapfel“ nach den neuesten Erkenntnissen. Er wurde zwar nach Lissabon zurückgerufen, als Kolumbus, der in Spanien besseres Verständnis gefunden hatte, von Erfolg gekrönt heimgekehrt war, aber er starb, noch keine fünfzig, ein Jahr nach Kolumbus, ohne die neuen Länder gesehen zu haben.

Er diente der Entdeckung der Welt aufs friedlichste, als er seine Erdkugel baute, indes ein Namensvetter von ihm in Memmingen zu ihrer gewalttätigen Eroberung schon hundert Jahre vorher die ersten Geschützkugeln gegossen hat.

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Kolumbus segelte keinen Kurs blindlings, er wählte seine Route zwischen den Belangen der Portugiesen, die bis zum vierzigsten Grad westlicher Länge reichten, also Afrika, die Ostspitze Südamerikas und ganz Asien einschlossen (und nicht erst seit dem Entscheid des Papstes, dem 1493 ein fertiges Dokument vorlag), und zwischen dem Kurs, der nach Nordwesten die Kabeljauküsten trifft. Ihn trieb das Verlangen weder zum Äquator noch ins Eis. Kälte konnte er besser als Hitze vertragen, aber vor allem liebte er den Wind, die freie frische Luft, seinem Typ gemäß. Unbewußt drängte es ihn zur Überwindung der feuchten Schwüle, die vom Golfstrom über Europa streicht. Er gibt der Erregung durch den Golfstrom nach, weniger gelockt als belastet; er tastet der Quelle seiner Erregung nach, wie man einem unbestimmten Druckschmerz nachtastet, um ihn zu orten und sich von ihm zu befreien. Golfstromtypen sind am Golfstromfieber Leidende. Man möchte behaupten, fast alle Auswanderer in die Neue Welt waren W-Typen. Der amerikanische Typ ist durchweg ein W-Typ. Alle atlantischen Auswanderer sind Überwinder des Golfstroms.

Nicht die Aufsässigen verließen den alten Kontinent, nicht die hartgesichtigen Kaltfronttypen. Ihnen behagt die europäische Golfstromüberhitzung. Sie liebten den dortigen Krakeel, eiferten, prügelten sich, spannen Intrigen, herrschten oder ließen sich schlachten. Die anderen suchten den Frieden, suchten Schönheit, reiches Auskommen, das Paradies. Auch Kolumbus glaubte, drüben eine bessere Welt vorzufinden, und wirklich schien sein Glaube nicht getäuscht. Er geriet an sanfte Inselvölker. Er fand paradiesische Landschaften. Aber er überwand den atlantischen Zirkel nicht. Er blieb innerhalb der Golfstrom-Unruhe und vermochte nicht einmal, sie zur Heimfahrt zu nutzen – oder lehnte es aus seiner Kenntnis der Stürme und Gegenströmungen ab und auch deswegen, weil ihn der Strom unweigerlich in Gebiete geführt hätte, die schon von anderen beansprucht und besucht waren und über die ihm nur Ungastliches zu Ohren gekommen war.

Er segelt aus mit dem Portugalstrom und der Passatdrift, berührt die Sargassosee, gerät schließlich an ein Gewirr von Inseln, das er auf vier Reisen zu entwirren sucht; denn er will das Festland Asien finden, aber der Golfstrom bindet ihn auf tragische Weise. An der Südküste Kubas hinaufsegelnd, schon zehn Tage unterwegs in der stetigen Strömung, die von Yukatan an der Insel entlang in die Straße von Florida führt, läßt er plötzlich, ehe er diese erreicht, beidrehen. Entweder hatte er es satt, immer nur Inseln zu runden, oder fürchtete, mit dem stetigen Strome endgültig das Indien und Goldland zu versäumen, das er seinen Geldgebern zugesichert hatte.

Nach einer langen manischen Stimmung erfolggespeisten Hochgefühls befiel ihn in Höhe der kleinen Fichteninsel die Depression. Er fand sich blamiert. Und steigerte sich nun – alles seinem Typ gemäß – in eine verbissene Voreingenommenheit, in einen Selbstbetrug, der sich selber mit allen Mitteln zu stützen suchte. Wir betreten jetzt das Festland! rief er bei der Landung aus: Ich taufe es Juana.

Eingeborene, die man befragte, erklärten, es sei die Insel Kubagua. Das heißt Goldfundland. Gold! Die Depression des Entdeckers schlug spontan ins Manische über. Gold! Das war bislang nur dürftig erbeutet worden. Gold! Nur in Indien sonst gab es die Fülle, von der die Eingeborenen Andeutungen zu machen schienen und von der er geträumt und geprahlt hatte. Aber eine Insel? Nein!

Er ließ seine Mannschaften antreten und sie vor dem aus Spanien zur Beurkundung aller Entdeckungen mitgegebenen amtlichen Notar schwören, auch nach ihrer Überzeugung sei das eben betretene Land das Festland Asien. Und er ließ der Eidesformel hinzufügen, daß, wer nun noch Zweifel äußere, die Zunge nebst drei Dukaten einbüßen werde, wenn er Offizier sei, wenn aber Matrose, solle er hundert Peitschenhiebe empfangen (was so gut war wie eine Hinrichtung).

Der Vorgang ist merkwürdig. Er wirft kein gutes Licht auf den Charakter des Entdeckers. Aber er ist aus dem Typ erklärbar so weit, wie der Kreislauf der Strömung von warm zu kalt und von kalt zu warm erklärbar ist, die vor dieser Szene an der Küste katzenleise vorüberstrich. Kolumbus war bald von Entzücken erfüllt, bald von Verzagtheit gefoltert. Er tat alles, um die depressiven Zustände niederzuhalten. Sicher ahnte er, daß Kuba eine Insel sei. Aber seine Geduld war ebenso erschöpft wie die seiner Geldgeberin. Er hatte wie ein Evangelium verkündet, das Festland zu finden. Die Blamage nagte zerstörend an ihm. Er zwang sich mit Gewalt zum Glauben an den Erfolg. Und war skrupellos in der Wahl der Mittel, diesem Glauben Unterstützung durch andere zu verleihen. Jedenfalls konnte er nun der Königin Isabella mit dem Brustton der Überzeugung berichten: Ich habe mich nicht blamiert.

Außerdem hing die weitere Finanzierung der Forschungsreisen davon ab. Denn bislang war die Ausbeute – trotz aller schwärmerischen Berichte – nicht hinreichend, die Unkosten zu decken. Nur für ihn hatte es gelohnt. Isabella war eine kluge, ehrgeizige Frau, empfänglich für die beredte, phantasievolle und vibrierende Persönlichkeit des stattlichen Italieners, der eine Mischung von Freibeuter und Sektierer schien – eine Mischung, die seit alters geistreichen Frauen gefährlich ist. Ihr Mann war ein ziemlich oberflächlicher Trottel, der nur eins an den Plänen des Bittstellers verstand: Einkünfte und Machtzuwachs. Ihm gegenüber bedurfte die Königin mehr als für sich selber des raschen Beweises, daß die aufgenommenen Staatsgelder und die unterzeichneten Privilegien keinem Schwindler an den Hals geworfen waren.

Kolumbus und die Königin hatten beide Glück. Sie und auch er starben, ehe die Inselgestalt Kubas nicht mehr zu verheimlichen ging.

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Verweilen wir noch einen Augenblick bei diesem Prototyp des Golfstromeuropäers Kolumbus. Es geht hier um die Darstellung seiner Reisen und Abenteuer nur insoweit, als sie mit unserm Thema, dem Golfstrom, zu tun haben. Doch bedürfen wir einiger Beleuchtung seines Charakters, dem alle bisherigen Biographien kaum die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die er verdient. Die Lehre von den Typen ist alt. Sie fußte lange auf der Einteilung der Gefühlsdispositionen durch Hippokrates, der sie – wie sein Begriff Temperament besagt – auf die ungleiche Mischung bzw. gehörige Mischung der inneren Säfte zurückführte.

Er unterschied die bekannten vier Temperamente, den blutvollen Sanguiniker, den zähflüssigen Phlegmatiker, den gelbgalligen Choleriker und den schwarzgalligen Melancholiker. Diese Einteilung wurde später bis zu zwölf Typen erweitert (Galen), dann wieder auf acht vermindert (Heymanns) und schließlich von Kretschmer auf zwei Haupttypen beschränkt, auf den der Konstitution nach rundlichen, der Seelenlage nach zyklothymen Typ und den schlankwüchsigen schizothymen.

Bis dann Curry diese Zweiteilung sozusagen meteorologisch bestätigte, als er den zyklothymen, vormals auch manisch-depressiv, auch zirkulär genannten Typ als „föhnempfindlich“ erkannte, als Warmfront-Typ, den anderen als kaltfrontempfindlich.

Daß dem W-Typ im allgemeinen die alten Merkmale des freudvollen Sanguinikers im Wechsel mit denen des Melancholikers zuzuerkennen sind, hat Curry in langer Untersuchung bestätigt gefunden. Wie denn bei dem härteren Kaltfront-Typ das gleichmäßiger nebeneinander wirkende polterig-skeptisch-bohrend Cholerische und wenig Verbindliche sich mit einer tiefen Neigung zur Bequemlichkeit, zu Abgeschlossenheit und Einsamkeit paart, was äußerlich, zusammen mit der Fähigkeit, seine Gefühle zu verbergen, den Eindruck der Gelassenheit, ja des Phlegmas zu erwecken vermag.

Selbstredend sind solche Typen selten ganz extrem anzutreffen. Unzählige Mischungsverhältnisse sind möglich. Aber jeder von uns neigt doch zu der einen oder der anderen „Front“ und findet solches bei genauer Beobachtung an Fähigkeiten, Äußerungen und Empfänglichkeiten, ja letzten Endes an seinem Schicksal bestätigt.

Der antike Strömungsforscher Theophrastus hat übrigens eine Reihe „ethischer Charaktere“ geschildert, die eine erste vage Ahnung von bioklimatischen Einflüssen erkennen lassen.

Es ginge zu weit, hier die moderne Typenlehre im einzelnen darzulegen, so reizvolle Spiegel sie vor jedermann aufstellt. Jedenfalls ist sie aufschlußreicher als die heute so beliebte Astrologie, obschon diese behauptet, daß die letzten Schlüssel auch für die Typenursachen in den Sternen hängen. Man möchte meinen, nur insoweit, als es bioklimatisch sicher nicht gleich ist, ob jemand im Mai oder im November gezeugt wird oder unter welchen Wetterbedingungen er seine ersten Lebenstage verbringt und wie – wenigstens für Europa – der Puls des Atlantiks, der Golfstrom, sich verhielt; was hinwiederum mit dem Zustand größerer Kreisläufe der Erdatmosphäre, mit den Sphärenströmen, mit den Mondphasen und der Sonne in Einklang steht und sicher mit einigen kosmischen Vorgängen mehr. Diese Komplexe aber nur mit den Planetenstellungen zu berechnen, scheint dürftig. Da stellt der Golfstrom ein weit genaueres Meßgebiet zur Verfügung. Womit allerdings nicht gesagt ist, daß wir schon so weit sind, seine Ausschläge als gebrauchsfähige Skalen an die Wand zu pinnen.

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Und so kraß über den Daumen gepeilt es sein mag, es bleibt verführerisch, bei hervorragenden Persönlichkeiten das Typische als bedingend und die Äußerungen als typisch festzustellen. Kolumbus ist im Extrem der Typ, dem alles Enge um Hals, Herz und Hirn unerträglich ist. Solange der Wind weht, und sei es ein Bullensturm und gar ein ihm zutiefst verwandter Zyklon, ist er prächtig im Gange. Aber in der Flaute und Schwüle der Sargassosee und auch, als auf der dritten Reise die Route dem Äquator zu nahe kommt, sinkt er zusammen, und sein Herz setzt aus. Frische Luft ist, was er braucht. Darum ist ihm die leichte Kleidung des Seemanns angemessen, und er vertauscht sie schließlich mit der ähnlich „halsfreien“ der Franziskaner und wird darin auch begraben.

Doch verbindet sich die mönchische Tracht zugleich mit dem W-Hang zur Schwärmerei. Solcher äußert sich selbst in seinen so geschäftlich aussehenden Vertragsbedingungen, die er mit Spanien ausmachte, und als seine Begeisterung für die entdeckten „paradiesischen Gefilde“ abkühlen muß, geht sein Schwärmbedürfnis ins Religiöse über und weist schließlich pathologische Züge auf.

Daß er als Landschaftsschilderer hervorragt, ein wahrer Augenschwelger ist und überzeugend zu berichten weiß, daß er überdies vertrauensselig ist und den Anblick des Goldes noch mehr schätzt als dessen Besitz, daß er im Versprechen ohne Maß und Halt, im Halten aber hilflos ist, stimmt zum Bild, das die modernen Experimente für den W-Typ ergeben. Daß auf gesteigerte Leistung das Elend der Erschöpfung folgt, daß ein Mißlingen – falls nicht sofort eine Übersteigerung des Selbstbewußtseins Raum hat – die Gefahr völligen Zusammenbruchs heraufbeschwört, alles trifft bei Kolumbus zu. Nicht vielleicht so sehr, um ihn zu demütigen, als um ihn am Selbstmord zu hindern, schickte ihn der kaltschnäuzige amtliche Kontrolleur von der zweiten Reise nebst seinen beiden Brüdern in Ketten nach Haus.

Übrigens lag der Anlaß in einer Übersteigerung, die für den Typ befremdlich erscheinen mag. Der Entdecker hatte sich mit Meuterei, Verrat und Übeltat seiner „Getreuen“ auseinanderzusetzen. Er, jeder Gewalttat abhold, typisch zur Versöhnung und Schlichtung neigend, empört auch über die Mißhandlung von Eingeborenen, gerät in maßlosen Zorn – ein Zustand, in dem er wie ein genuesischer Hafenlöwe fluchte und seine spanischen Vokabeln vergaß – und läßt die mehr und minder Schuldigen henken, ohne den Fall im einzelnen zu untersuchen. Er bereute bald aufs bitterste, obschon er später alles tat, sich gerechtfertigt zu finden. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß er für die Eingeborenen, die an gelandete „weiße Götter“ geglaubt hatten und sogar noch deren Schandtaten als göttlich hinzunehmen geneigt waren, die Hinfälligkeit dieser „Dämonen“ aufzeigte, indem er sie am Galgen baumeln ließ.

Im Grunde war es eine gerechte Entlarvung. Wenn der Nimbus des weißen Mannes dennoch bis heute in manchen Kolonien aufrechterhalten werden konnte, lag es teils an militärischen Macht- und Glanzmitteln, teils an der Anständigkeit einzelner Missionare, Mediziner, Krankenschwestern, Händler und Forscher.

*

Unter die vorbestimmten Golfstromüberwinder haben sich mehr aus Gelegenheit denn aus Trieb bald die kälteren Seelen gemischt und die Führung übernommen. Kolumbus hat geradezu zwangsweise solche K-Typen in die Neue Welt verfrachtet, er hat, da der Mannschaft- und Siedlerzulauf anfangs gering war, sogar Gefängnisse leeren lassen, und notorische Tunichtgute, die nur mitgingen, weil ihnen der Boden unter den Füßen zu heiß war – der Ausdruck scheint wiederum golfstrombedingt –, gliederte er freundlich ein in die christliche Seefahrt und verschaffte ihnen die amtliche Zusicherung der Straffreiheit. Die Wandlung des Paradieses zur Hölle ließ dadurch nicht lange auf sich warten. Immerhin schwang der Ablauf sichtlich im Zirkel des Golfstroms.

Denn man war auch daheim nicht kleinlich. Die Inquisition in Spanien feierte ihre grausigsten Triumphe. Im gleichen Jahre, da Kolumbus ausfuhr, hatte man die letzten Mauren vertrieben, erschlagen oder zu Sklaven gemacht, ihre Kultur zerstört und ihren Besitz übernommen. Und nun nahm man die Juden vor. Wer nicht durch Bestechung und Gewandtheit nachweisen konnte, daß er wahrhaft katholisch geworden sei, endete auf dem Scheiterhaufen oder durfte – in milderen Fällen – mit Hunderttausenden von Glaubens- und Leidensgenossen völlig enteignet und ausgeraubt das Land verlassen. Somit konnten sich die staatlichen und kirchlichen Großmetzger kaum wundern, wenn man den Kariben das Zeichen des Gekreuzigten nicht nur als bloßes Symbol unmenschlichen Martyriums aufpflanzte. Immerhin befand man sich in jenem Jahrhundert noch im sogenannten Mittelalter und hatte die Bergpredigt noch nicht verstanden und das Wort Humanismus eben buchstabieren gelernt. Wir haben nicht das Recht, auf jene Massenfolterungen herabzublicken. Denn was in jüngster Zeit an Unmenschlichkeiten in Mittel- und Osteuropa geschah, stellt selbst die Ausrottung der rechtmäßigen Besitzer Amerikas in den Schatten.

Hätte man vermocht, den Kariben den Geschmack an Menschenfleisch und Kopfjägerei durch etwas wahrhaft Höheres zu ersetzen, könnte man heute mit weniger Grauen auf die Geschichte der Entdeckungen zurückblicken. Was man ihnen aber als europäische Segnung brachte, war das, worunter der weiße Mann zur Strafe selber seufzt: Steuern und Fronarbeit.

Kolumbus selber ordnete an – beraten von den staatlichen Gerichtsexperten –, jedem Eingeborenen, der nicht sein vorgeschriebenes Quantum Gold ablieferte, Nase und Ohren abzuschneiden. Belgische Beamte am Kongo begnügten sich noch vor wenigen Jahrzehnten in ähnlichen Fällen mit dem Abhacken der Hände. Wir aber hatten das KZ.

Doch läßt sich über keimende Empfindsamkeit auch von damals berichten. Als sich herausstellte, daß die neuen Länder trotz grausamster Auspressung vorerst noch immer Zuschüsse erforderten, um die Auspresser zu unterhalten, und selbst die manische Phantasie des Kolumbus keine Beschönigung mehr fand, kam er auf die Idee, das Geld für weitere Expeditionen zur endlichen Auffindung der überall spukenden und ersehnten ungeheuren Gold- und Edelsteinschätze auf folgende Weise aufzubringen: Er verfrachtete eine Ladung jener Leute, denen er Land und Besitz geraubt, als Sklaven nach Europa. Das aber nahm die kirchlich fromme Isabella ihm übel, die doch ohne Wimperzucken dem Abschlachten von Tausenden intelligenter Mauren und Juden beigewohnt hatte. Sie ließ ihre „braunen Landeskinder“ huldreich grüßen, und Kolumbus mußte die Indianerfracht auf Gegenkurs setzen, wobei allerdings nur ein Teil die Segnungen der Zivilisation im Zwischendeck der Karavellen überstand.

Doch war dies Unterfangen noch milde zu nennen gegen das, was später der Golfstrom an Sklavenfracht erlebte. Übrigens war es fünfzig Jahre nach diesem Zwischenfall dem Satan Soto zu danken, daß die zwei Millionen Bewohner Kubas bis auf den letzten Säugling ausgetilgt wurden.

Und so wie dort ging es fast überall, wo die europäische Gier Gold und Schätze witterte. Und es bedurfte nur einer Handvoll Strauchritter und massiver Kanonenhengste, um die ganzen alten, feinnervigen Kulturen Mittelamerikas in den Schmutz zu treten.

*

Zu Tomebamba in Ekuador

weilte Huana Capac,

der letzte der großen Inkakönige.

Ihn hielt von der Heimat fern

und fern von beiden Meeren

die Liebe zu Tlaloca.

Sie war die schönste seiner zweihundert Frauen.

Da erreichte ihn die Nachricht,

Götter seien gelandet,

weißen Gesichts und bärtig,

aus gewaltigen schwimmenden Häusern

dem Meere entstiegen.

Und viel Kleidung sei um sie

und der Donner bei ihnen

in ihren Speeren und ehernen Balken.

Betroffen sann da der Inka

und verschloß sich lange.

Doch dann machte er sich auf zur Küste,

voll Bebens und dennoch gewillt,

mächtig zu bleiben.

Da, unterwegs schon, nahte ein Bote,

schwarz bemantelt,

und brachte ein Kästchen aus Gold.

Und sagte, er sei vom Himmel gesandt,

es dem Inka zu geben.

Öffne es nicht! sagte ein Weiser:

Schick es denen, die da gelandet!

Aber Tlaloca, die schönste, sagte: Ach, Unsinn!

Und sie lupfte neugierig den Deckel –

Hu! Eine Wolke von Mücken und Motten

stob da heraus und umtanzte den Inka

und wirbelte über die Binde der Stirn

und die rote Quaste aus Lamawolle

und löschte das Heilige aus und den Willen.

Und warf eine Seuche auf ihn und die Heerschar,

wie die Sage berichtet,

die bis Korea vor ähnlichen Finten

sich keineswegs scheut,

um die Stärke des Gegners

und seinen Ruhm

zu verkleinern.

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Die Tat des Kolumbus war eine Anregung. Seine Entdeckungen waren überall nur halb. Er hielt das Karibische Meer für eine abgeschlossene Bucht und ließ sich das Betreten Yukatans, Mexikos und Floridas, ja selbst die Floridastraße und die Enthüllung des Golfstroms entgehen. Er entließ das Boot der Maya, das ihm vor Trinidad begegnete und das reizvolle Kulturzeugnisse aufwies, uninteressiert, weil nirgends Gold bei der Besatzung zu entdecken war. Er kam nicht dazu, den Schritt über die Landenge zu tun und von dort, wie nur drei Jahrzehnte später Saavedra, den Weiterweg nach Java und dem wirklichen Indien zu erspähen, Anschluß zu finden an die Gleicherströmung im Pazifik, an die Fortsetzung der Westströmung, die zu verlassen er sich nicht getraute, so sonderbar es klingen mag. Es war, als wolle er in seinem Innersten nicht zurück, obwohl er tatsächlich viermal heimgekehrt ist, wenn auch nur, um schließlich einsam, vergessen und verbittert, obschon begütert, in Valladolid zu sterben, keine anderthalb Jahrzehnte nach seiner „Propagandatat“. Sein Traum, über Suez und Alexandrien nach Hause zu gelangen, hatte sich nicht erfüllt. Aber er mußte noch erleben, daß Calicut 1499 von Vasco da Gama und ein Jahr darauf von Cabral um Afrika herum erreicht wurde, in Weitreisen, gegen die seine nachträglich ein Kinderspiel schienen. Immerhin, er war gleichsam der Schneeball, der die lange am Golfstrom lauernde Lawine ausgelöst, der die Löwin geweckt hatte, die nun von Europa aufsprang und ihre Tatze vernichtend in eine vom abendländischen Hochmut bisher verschonte Welt schlug. Auf den Wunden und Narben dieser Neuen Welt wuchs sein gigantisch ruhloser Geist weiter bis auf den heutigen Tag.

Die Rache der Unterdrückten hat freilich nicht auf sich warten lassen. Gering war zwar, was Speer, Keule und Giftpfeil gegen Arkebusen, Stahlschwerter, Streitrosse, Panzerschienen, Kanonen, Bluthunde, Grippe und Lungenpest ausrichteten. Mit all dem waren die weißen Götter indianischer Verheißung oder Erinnerung an Land gestiegen, um sich bald als Teufel zu entpuppen, ausgehungert über die nackten Weiber herzufallen und das gelbe Metall, das dem Rost widerstand, erst noch gegen Glasperlen und Kinderschellen eingetauscht, mit Gewalt an sich zu bringen. Überall trafen diese Eroberer auf das Schlangensymbol. Den Europäern war die Schlange die Verführerin Evas und damit schuld an aller Sünde. Der Begriff Midgardschlange war seit Hunderten von Jahren untergegangen und ihr atlantisches Dasein vergessen und noch nicht wiederentdeckt.

Somit zertraten die weißen Horden die heiligen Zeichen in christlichstem Eifer, nicht anders als die Giftschlangen, an denen es überdies nicht fehlte. Aber eine sehr winzige Schlangenart entging ihrem Auge. Es hat vierhundert Jahre gedauert, bis überhaupt ein menschliches Auge sie sah. Erst der Deutsche Fritz Schaudinn entdeckte sie, die kleinen heimtückischen Racheschlangen der unterjochten Terra nuova, die Spirochäten der Syphilis.

Hinter den beiden Söhnen des Colon her, die, geadelt, als Pagen bei Hofe erzogen wurden, riefen die Heimkehrer und Verseuchten von den Bettelstufen der Alhambra: Da seht die Zierstengel des Admirals von Moskitonien, die Seidenaffen des Betrügers, des Totengräbers edler Spanier!

Es erging dem Alten dennoch besser als den meisten der Entdecker. Sie pflegten nicht wie er im Bett, sondern im Blutbad von Aufständen, Meutereien, Heimtücke und Hinterhalt ein unnatürliches Ende zu finden. Er starb – wie W-Typen nicht selten – an Herzkrampf, wahrscheinlich an Angina pectoris. Die eigentlichen Racheschlänglein hatten ihn verschont. Sein letztes Jammern um entgangene Millionen verhallte in einem eigenen stattlichen, aber gottverlassenen Hause. Immerhin hatte der Webergeselle es bis zu folgender Unterschrift unter sein Testament gebracht:

Der Admiralmajor des Ozeans und Vizekönig und Generalstatthalter des Königs und der Königin, meiner Herren, für Inseln und Festland von Asien und Indien, und ihr Generalkapitän zur See und Mitglied des Rates.

S.

S. A. S.

X.M.Y.

po Ferens.

Diese Mischung aus Selbsterhebung und Zauberformel paßt in den Rahmen seines Typs.

Spanische Grandezza verwehrt übrigens einem direkten Nachkommen des Kolumbus, der heute als schlichter Leutnant in der iberischen Marine dient, keinen der ererbten Titel. So durfte denn kürzlich der „Vizekönig von Westindien“, der junge Don Cristobal Colon, bei seiner Trauung in der Uniform eines „Admirals der Ozeane“ erscheinen, ohne daß von seiten anderer Seemächte Einspruch erhoben wurde; handelt es sich doch nur um einen kleinen märchenhaften Abglanz von einst.

Der große Fluss im Meer

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