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1.1 Begriff und Grundperspektiven

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Begriff der Finanzgeographie

Der Begriff der Finanzgeographie oder auch Geographie der Finanzen findet in der deutschsprachigen Fachterminologie erst seit wenigen Jahren Verwendung. Bis in die 1980er-Jahre standen Kapitalströme, Finanzzentren oder die Finanzierung von Unternehmen und Haushalten nur sehr vereinzelt im Mittelpunkt geographischer Forschungen einschließlich Wirtschaftsgeographie, deren Fokus traditionell eher auf der Realwirtschaft liegt. Auch international erfolgten systematische Annäherungen an eine „new economic geography of money“ (MARTIN 1999) bzw. „geography of money and finance“ (LEYSHON 2000) erst ab Mitte der 1990er-Jahre (vgl. auch SCHAMP et al. 1993; CORBRIDGE et al. 1994; LEYSHON 1995, 1997, 1998; LEYSHON und THRIFT 1997). Entsprechend wird die Welt des Geldes und der Finanzdienstleistungen bis heute als noch junges Forschungsfeld der Geographie eingeordnet. Die Phase des Aufbruchs erscheint jedoch endgültig abgeschlossen. In einer Reihe von Lehrbüchern und Standardwerken (z.B. GREGORY et al. 2009; LEYSHON et al. 2011; GEBHARDT et al. 2011; vgl. auch GIESE et al. 2011) wird sie mittlerweile als eigene Subdisziplin der Humangeographie bzw. spezielle Wirtschaftsgeographie behandelt.

Räumliche Perspektive

Allgemein gefasst widmet sich die Finanzgeographie der Analyse von Geld und Finanzierungsbeziehungen in räumlicher Perspektive. Im Mittelpunkt stehen die Zirkulation und Akkumulation von Kapital sowie die Akteure und Praktiken des Finanzsektors in ihrem Zusammenhang mit lokalen und regionalen Entwicklungsprozessen. Besondere Beachtung finden dabei institutionelle Rahmenbedingungen auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen. Denn stärker noch als in anderen Bereichen der Wirtschaftsgeographie kann man das Finanzwesen nur in einer multiskalaren Perspektive verstehen (HANDKE und SCHAMP 2011, S. 951; vgl. auch LEYSHON 2000, S. 445). Generelles Ziel ist es, die Handlungen der einzelnen Akteure eines Finanzsystems – d.h. Regierungen, internationale Organisationen, Finanzdienstleister und Kunden – und die sich daraus ergebenden Organisations- und Interaktionsformen in verschiedenen räumlichen Kontexten zu erfassen, zu erklären und fachlich zu bewerten.

Multiskalarität

Kontextualität

Zur Erfassung bzw. Beschreibung dieser Organisations- und Interaktionsbeziehungen kommen in der Finanzgeographie vor allem Instrumente der empirischen Wirtschafts- und Sozialforschung zum Einsatz. Je nach Fragestellung finden entweder qualitative oder quantitative Methoden oder eine Kombination davon Anwendung. In quantitativen Analysen wird mit standardisierten Daten gearbeitet, z.B. aus der öffentlichen Statistik oder einer Unternehmensumfrage. Qualitative Forschungen arbeiten mit nicht-standardisierten Daten, die u.a. in Interviews, Gruppendiskussionen oder mittels teilnehmender Beobachtung gesammelt werden. Quantitative Methoden haben dabei Vorzüge bei der allgemeinen Beschreibung gesellschaftlicher Makrophänomene (z.B. Zugang zu Kreditfinanzierung oder Online-Bankdienstleistungen). Die Handlungsorientierungen, Deutungsmuster und Sinnstrukturen der Akteure im Finanzsystem lassen sich hingegen besser mit qualitativen Verfahren aufzeigen.

Perspektivenpluralismus

Zur Erklärung und Bewertung der verschiedenen Handlungen und Beziehungen werden in der finanzgeographischen Forschung – analog zu jüngeren Entwicklungen in der Human- und Wirtschaftsgeographie (vgl. z.B. GEBHARDT und REUBER 2011, S. 648ff.; GLÜCKLER 2011, S. 912ff.) – unterschiedliche konzeptionelle Perspektiven mit je eigenen Annahmen, wissenschaftstheoretischen Grundpositionen und normativen Setzungen eingenommen. Diese reichen von den Sichtweisen einer politökonomischen und neomarxistischen Geographie über institutionenorientierte, relationale und evolutionäre Zugänge bis zu sozial- und kulturtheoretischen Ansätzen. Damit wird deutlich, dass die Finanzgeographie stark interdisziplinär beeinflusst ist – u.a. von Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Politologie, Ethnologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften – und auch enge Bezüge zu diesen Wissenschaften pflegt. Die in Teilen zwar konkurrierenden, grundsätzlich jedoch komplementären Perspektiven nutzen jeweils spezifische Analysemethoden und Beschreibungssprachen und werden im vorliegenden Band noch weiter ausgeführt. Bereits festzuhalten ist, dass die Finanzgeographie nicht durch das Gerüst einer Orthodoxie beschränkt wird. Insofern lässt sie sich als pluralistisches Forschungsfeld begreifen, in dem die parallele Existenz multipler Zugänge Raum für Alternativen schafft und oft auch dezidiert nach ihnen sucht.

Finanzgeographie

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