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Gertis Exorzismus

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Sie nahmen sich der vom Teufel Besessenen an und vollführten an ihnen ihre exorzistischen Rituale. Diese Personen waren in der Regel junge Frauen, manchmal auch noch Kinder und wurden ihnen von deren Eltern gebracht. Die fünf Exorzistinnen vergewisserten sich natürlich, dass die Besessenen nicht an einer psychischen Krankheit litten oder sonst einen gesundheitlichen Schaden hatten, derentwegen sie in Verzückungen oder eine Exaltiertheit gerieten. Es war nicht so, dass die Fünf besonders stark im christlichen Glauben verankert waren und deshalb die Teufelsaustreibungen vornehmen wollten.

Vielmehr war es so, dass ihnen das Spektakel als solches Vergnügen bereitete, wenngleich sie sich das nie anmerken ließen. Besonders Lydia und Helene bereitete der Akt des Exorzierens immer eine riesige Freude, obwohl doch in er Regel ein Mensch vor ihnen stand oder besser lag, der furchtbare Qualen litt. Vielleicht war es die Tatsache, dass es dem Teufel an den Kragen ging, und sie ihn in ihrem Zimmer dem Opfer entreißen wollten. Vielleicht war es aber auch der Umgang mit dem Anrüchigen und Verbrämten, das sie ans Tageslicht befördern konnten. Es gab ganz unterschiedliche Ausprägungen der Besessenheit bei den Betroffenen: manche schrien, manche machten ganz verrückte Verrenkungen und andere entwickelten unmenschliche Kräfte. Immer waren die Opfer der Teufelsbesessenheit aber ganz hilflose Wesen, denen die fünf Exorzistinnen zu helfen gedachten. War es verwerflich, was sie da mit den armen Besessenen trieben, wie manche dachten?

Der Exorzismus war in den Augen vieler selbst des Teufels, er galt als Verschwörung, wenn nicht Hexerei. Dabei wusste kaum jemand, worum es bei dem Exorzismus überhaupt ging, und was dabei getan wurde. Man unterschied zwischen kleinem und großem Exorzismus, wobei der kleine alle Maßnahmen umfasste, die unterhalb der von der Kirche praktizierten exorzistischen Übungen angesiedelt waren, letztere waren der große Exorzismus und durften auch nur von der Kirche durchgeführt werden. Insofern war das, was die Fünf während ihrer Treffen mit ihren Schutzbefohlenen so anstellten, äußerst grenzwertig. Sie führten nämlich den großen Exorzismus durch, wie er eigentlich nur mit dem Segen der Kirche praktiziert werden durfte. Ausgangspunkt war immer die Frage, ob die betreffende Person wirklich besessen war, oder ob sie einer Krankheit, die medizinische Ursachen hatte, erlegen war.

Typische Anzeichen von Besessenheit waren der Wechsel des Charakters, epileptische Anfälle, Tobsucht, ungewöhnliche Kräfte und Aggression gegen alles Religiöse. Keine der fünf Exorzistinnen hatte jemals an einer offiziellen Ausbildung zum Exorzisten teilgenommen, die es ja gab. Weder Gerti, noch Lydia, Helene, Gerda oder Doris hatten sich jemals um so eine Ausbildung gekümmert. Im April 2015 fand erstmals in Rom ein Seminar zur Exorzistenausbildung statt, an dem nicht nur Geistliche, sondern auch Laien teilnehmen durften, Sie sollten lernen, die wahren Fälle von Teufelsbesessenheit von psychischen Erkrankungen unterscheiden zu können. Die fünf Frauen hatten das, was sie während der Treffen taten, bei anderen abgeschaut, sich angelesen oder von Priestern erzählen lassen.

Demnach schufen sie bei sich zunächst eine beruhigende Atmosphäre, indem sie vor allem das Licht abdunkelten und Kerzen ansteckten. Sie selbst hüllten sich in wallende Gewänder, bei denen nicht zu viele Farben sichtbar waren. So sollte von der eigenen Person abgelenkt und die Besessene in das Zentrum der Wahrnehmung gerückt werden. Die wiederum lag auf einem Bett mitten im Zimmer und trug ein weißes Nachthemd. Es kam vor, dass die Besessene so von Tobsucht befallen war, dass die Frauen sie im Bett an ihren Gliedern festbinden mussten, um sie dazu zu bringen, still zu liegen. Manche schrien sehr laut und hatten weit aufgerissene Augen, sodass die Frauen ihnen gegen das Schreien Tücher auf den Mund legten. Auf eine Beschallung des Zimmers verzichteten die Frauen, damit die Aufmerksamkeit der Anwesenden nicht vom Akt des Exorzierens abgelenkt werden würde. Der große Exorzismus und die damit verbundene Unterweisung von Interessenten oder zur Schulung geschickter Geistlicher wurde in Deutschland ausschließlich von der Katholischen Kirche praktiziert. Die Protestantische Kirche hatte sich zunehmend von exorzistischen Praktiken distanziert, nachdem die Geisteskrankheiten doch mehr und mehr erforscht und deshalb auch behandelbar waren.

Die Anerkennung der Tatsache, dass es das Böse gab, und es in der Person des Teufels Besitz von jemandem oder einer Sache ergriffen hatte, war Grundvoraussetzung für den Exorzisten. Damit wurden der Kritik Tür und Tor geöffnet, der Teufelsglaube wäre mittelalterlich, im modernen Computerzeitalter würde man nicht an den Teufel glauben, meistens wären Krankheiten die Ursache für das, was man als Besessenheit einschätzte. Nichtsdestotrotz hielt die Katholische Kirche an den Regelungen fest, die das Rituale Romanum in Bezug auf Exorzismus festgelegt hatte. Das Rituale Romanum enthielt wichtige liturgische Formulare, wie sie nicht im Messbuch oder anderen Veröffentlichungen zur gottesdienstlichen Ordnung zu finden waren. Das Exorzieren vollzog sich bei den Frauen streng nach den Maßgaben der Kirche, denn alle fünf waren sie Christinnen und wollten nicht von der Lehre abweichen. Die Besessene lag somit auf dem Bett und wurde mit Weihwasser besprengt, was oft schon eine heftige Reaktion zur Folge hatte, denn das Böse wehrte sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht gegen alles Heilige. Das Resultat war, dass die Frauen ihr Opfer oft festhalten mussten, und wenn das nicht half, wie schon gesagt, es mit Stricken regelrecht fesseln mussten. Oft halfen dabei die Eltern oder sonstigen anwesenden Personen mit, sie waren völlig verblüfft, solche Kräfte bei der Besessenen am Werke zu sehen, die sie vorher noch nie bei ihr bemerkt hatten.

Darauf folgte ein gemeinschaftliches Gebet mit der Anrufung Gottes und der Fürsprache der Heiligen. Immer wehrte sich das Böse im Opfer gegen alle Versuche, von ihm loszukommen. Lydia übernahm dann das Verlesen des Evangelientextes, und in dieser Phase des Exorzierens kam die Besessene langsam zur Ruhe. Allerdings konnte man an ihr ein hektisches Hin und Her der Augen beobachten, ein Zeichen dafür, dass das Böse in ihr noch aktiv war. Gerti legte zum Abschluss ihre Hände auf das Opfer und rief die Macht de Heiligen Geistes an, sie hob dabei das Kreuz, um den Teufel endgültig aus der Besessenen herauszutreiben. Immer noch gab es sehr heftige Gegenwehr und die Frauen hatten zu tun, um das Opfer ruhigzustellen. Am Ende des Exorzieraktes wurde ein Dankgebet gesprochen und die Prozedur war vorbei. Die ehemals Besessene war befreit und stand von ihrem Bett auf, um zu den Eltern oder den anderen betreuenden Personen zu gehen. Die schätzten sich überglücklich, dass das Exorzieren einen so positiven Abschluss gefunden hatte. Die Frauen nahmen einen kleinen Obolus entgegen, sie ließen sich nicht mit großen Summen für ihre Dienste bezahlen. Sie sahen die Prozedur des Exorzierens nicht als ein Geschäft an, sondern sie war für sie wie ein Gottesdienst, den sie mit allem Ernst betrieben. Damit war die Teufelsaustreibung beendet und die ehemals Besessene und ihre Eltern, oder die sie begleitenden Personen verließen voller Dank die Frauen wieder. Die Fünf setzten ihr Treffen fort, und Gerti stellte das vorbereitete Essen auf den Tisch. Es war nichts Großartiges, aber Gerti hatte warmes Essen vorbereitet, es war eine Gemüsesuppe mit Würstchen.

Nachdem alle gegessen hatten, ging es ans Trinken, und da hielt sich niemand von ihnen zurück. Sie begannen mit Bier und Wein und tranken am Ende auch Schnaps und davon so viel, dass sie zu kaum noch einer Bewegung in der Lage waren und am Ende alle bei Gerti übernachten mussten. Gerti hatte für solche Gelegenheiten Matratzen, die sie auslegte und zwei von ihnen schliefen in dem Bett, das zuvor im Mittelpunkt ihrer Behandlung gestanden hatte. Noch nie hatte Gerti auch nur ein Wort gegenüber ihrer Schwester über ihre Exorzierpraxis verlauten lassen. Erstens sahen sie sich nicht so oft, dass sich die Möglichkeit dafür bot, und zum Zweiten wusste sie nicht, wie Klara reagieren würde. Die fünf Frauen unternahmen in Hamburg auch sonst viele gemeinsame Dinge und gingen oft durch die Stadt spazieren. Doris, die Kleinste von allen, war immer ganz wild darauf, vor den Schaufenstern zu stehen und sich die Kleidung anzusehen, die dort ausgestellt war. Doris war lustig und lebensfroh, sie hatte ein paar Pfunde zu viel, scherte sich aber nicht darum. Lydia war auch leicht pummelig, aber auch sie gab nicht viel darum. Sie war die Schweigsame von den Fünfen, sie lief manchmal eine ganze Stunde neben den anderen, ohne einen Ton von sich zu geben. Helene hatte Gerti besonders in ihr Herz geschlossen, weil sie so warmherzig und offen war. Sie hatte in etwa Gertis Statur und hakte sich oft bei ihr ein, wenn sie spazieren gingen. Gerda war nicht gerade die Außenseiterin, aber sie musste zuerst angestoßen werden, bevor sie mit den anderen etwas anstellte, und wenn es auch nur darum ging, einen gemeinsamen Spaziergang zu machen.

Alle Fünf hatten sie wie Klara langes weißes Haar, das sie zu einem Knoten zusammenbanden und unter einem Haarnetz verschwinden ließen. Nie zogen sie aber so einen Haushaltskittel über, wie Klara das immer tat. Stattdessen trugen sie nicht gerade vornehme, aber doch feine Alltagskleidung. Wie oft waren sie schon in St. Pauli an der Cap San Diego vorbeigelaufen, immer den Blick auf die im Entstehen

begriffene neue Elbphilharmonie. Die Elbphilharmonie in der Speicherstadt war ein Blickfang und wollte es auch sein. Jeder, der sich zu Wasser St. Pauli oder der Speicherstadt näherte, musste seine Augen auf die Elbphilharmonie richten. Wenn sie in einem Monat fertiggestellt sein und im Januar 2017 das Eröffnungskonzert gegeben würde, würden sie es zusammen im Fernsehen verfolgen. Irgendwann würden sie sich auch ein Konzert live ansehen. Sie waren alle Fünf Klassik begeisterte Hörerinnen und würden sich an dem Abend schick anziehen. Sie wussten, dass der Eintritt nicht gerade billig wäre, aber sie waren bereit, sich das Vergnügen in der Elbphilharmonie etwas kosten zu lassen. Schließlich war ein Konzert in dieser noblen Umgebung etwas ganz Besonderes, um das sie viele beneiden würden.

Manchmal stiegen sie auch auf die Fähre und fuhren mit ihr nach Övelgönne, um sich ein Strandgefühl zu verschaffen. Schon das An- und Ablegemanöver der Fähre war so eindrucksvoll für sie, dass sie öfter einfach nur dastanden und zusahen, wie die Fähre anlegte. Der Kapitän hatte das Manöver so verinnerlicht, dass er auf der Elbe wendete und mit praktisch unverminderter Geschwindigkeit auf die Hafenmauer zuraste, sodass man als Zuschauer dachte, es käme zur Kollision. Im letzten Augenblick aber drosselte der Kapitän die Geschwindigkeit und legte ganz normal an. Unter den Zuschauern waren dieses Mal die fünf Frauen, und ihnen schlug das Herz bis zum Hals hoch. Nachdem das Anlegemanöver aber tadellos vollbracht war, gingen sie an Bord und setzten sich bei dem herrlichen Wetter, das gerade herrschte, an Deck. Die Fähre füllte sich nach und nach und sie waren froh, dass sie so früh an Bord gegangen waren und einen Platz an Deck abbekommen hatten.

Die Fahrt dauerte gerade einmal zwanzig Minuten und sie legten im alten Hafen von Övelgönne wieder an, um danach zum Strand zu laufen. Es waren viele Menschen am Strand und einige gingen sogar im Elbwasser baden, was wegen der Verschmutzung, aber auch wegen der Strömung des Flusses, nicht ungefährlich war. Die fünf Frauen setzten sich auf eine Decke, die sie mitgebracht hatten und beobachteten das Treiben. Auf der Elbe herrschte reger Schiffsverkehr und immer, wenn einer der großen Pötte vorbei schob, kam die Rede auf Ausbaggerung der Elbe. Ohne sich groß mit der Materie auseinandergesetzt zu haben, waren alle Fünf aus einem tief in ihnen verwurzelten Umweltbewusstsein heraus gegen eine Vertiefung des Flusses. Die großen Pötte wurden natürlich von einem Lotsen in den Hafen dirigiert.

„Haben wir eigentlich heute Abend jemanden bei uns zum Exorzieren?“, fragte Lydia mit einem Mal in die Runde, als wäre sie gerade aufgetaut.

„Wir haben heute bei Helene ein 13-jähriges Mädchen und sollten uns deshalb auch nicht allzu lange hier aufhalten!“, antwortete Gerda, und sie standen kurze Zeit später alle wieder auf und liefen wieder zum Hafen zurück. Nachdem ihre Fähre wieder in St. Pauli angelegt hatte, nahmen sie die S-Bahn und fuhren zu Helene, dort bereiteten sie alles für die Sitzung vor. Sie rückten Helenes Bett in die Mitte des Zimmers und zogen ihre wallenden Gewänder über. Das Essen für die Zeit nach der Exorzierprozedur hatte Helene schon am Vortag vorbereitet und brauchte es nur aufzuwärmen. Schon schellte es, und das Mädchen kam mit seinen Eltern, die es hielten, denn es war sehr unruhig und wollte sich andauernd von seinen Eltern losreißen. Auf die fünf Frauen kam eine anstrengende Sitzung zu.

Morde und Leben - Kerger und Richter

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