Читать книгу Morde und Leben - Kerger und Richter - Hans Müller-Jüngst - Страница 6
Klaras Kinder
ОглавлениеAm anderen Ende von Stavenkirchen saßen Lotti, Bernd, Gabi und Oliver an einem Tisch und hatten ihre Hände so auf die Tischplatte gelegt, dass sich die eigenen Daumen berührten, und die kleinen Finger Kontakt zu den kleinen Fingern der anderen hatten, sodass sich ein großer Kreis von Händen bildete. Unter dem Tisch hatten sie ihre Beine derart gekreuzt, dass das rechte Bein um das linke Bein des rechten Nachbarn und das linke Bein um das rechte Bein des linken Nachbarn gelegt wurde. Sie hatten sich zu einer Sitzung des Tischerückens getroffen. Sie glaubten an das Spiritistische und Paranormale und riefen den Geist einer verstorbenen Person, in diesem Fall den Geist von Herrn Buchloh. Lotti hatte sich zur Sprecherin der Gruppe gemacht und rief den Geist an, indem sie die anderen in gleichmäßigem und ruhigem Ton aufforderte, sich zu konzentrieren und dem Geist zu öffnen.
War dann in dem Tisch ein Knistern oder Klopfen zu hören, war der Geist anwesend und man konnte mit ihm kommunizieren. Man stellte ihm Ja-Nein-Fragen, die er durch dreimaliges Klopfen für Ja und einmaliges Klopfen für Nein beantwortete. An diesem Abend saßen sie alle bei Lotti und Bernd, die Kinder von Gabi und Oliver waren in dem Alter, in dem sie anrufen konnten, wenn irgendetwas nicht stimmte. Lotti hatte etwas zu essen mitgebracht und sie verbrachten den Abend auch noch mit anderen spiritistischen Dingen. So wie andere ihre Abende mit Kartenspielen verbrachten, beschäftigten sie sich mit den Erscheinungen des Paranormalen. Lotti tat sich dabei besonders hervor, sie glaubte an das Übersinnliche, denn der Glaube an die Existenz des Paranormalen spielte eine große Rolle. Lotti sah die Möglichkeit, mit ihrem Vater in Verbindung zu treten, als sehr verlockend an, und sie war auf den Sitzungen mit den anderen auch sehr erfolgreich gewesen. Wenn es an diesem Abend auch nicht geklappt hat, so ließ sie sich dadurch nicht entmutigen, vielleicht waren sie alle nicht konzentriert genug gewesen, der Fehlschlag konnte viele Ursachen haben. Gabi, Bernd und Oliver waren zwar auch sehr interessiert an den Sitzungen, sie brachten oft aber längst nicht die Energie mit, die dazu nötig war, und Lotti musste sie dann antreiben. Ein weiteres Spiel mit dem Paranomalen, das sie praktizierten, war die Telekinese.
Dabei ging es darum, Gegenstände über eine Entfernung hinweg allein durch die Kraft der Gedanken zu bewegen. Dazu setzte sich die Gruppe wieder an den Tisch, und Lotti forderte alle dazu auf, ihre Gedanken auf den Gegenstand, den sie vorher ausgesucht hatte, zu richten. Niemand durfte an etwas anderes denken, damit die Energie seiner Gedanken nicht geschmälert würde. Wenn im Anschluss auch alle der Überzeugung waren, dass sich der betreffende Gegenstand bewegt hatte, und war es auch nur ein ganz klein wenig, so musste ein neutraler Beobachter doch sagen, dass sehr viel Einbildung dazu gehörte, eine Bewegung des Gegenstandes festgestellt zu haben. Ihre spiritistischen Sitzungen hielten sie geheim, niemand sollte davon wissen und sie womöglich als Spinner abqualifizieren. Die Kinder aber bekamen natürlich mit, was ihre Eltern so trieben. Wenn sie abends auch im Bett waren, so wussten sie doch genau, dass ihre Eltern sich in Hellsehereien ergingen.
„Mama, was habt ihr gestern Abend denn alles gesehen?“, fragte Felix seine Mutter am nächsten Morgen schon einmal, und seine Mutter antwortete dann meist etwas unwirsch:
„Wenn ich Dir das jetzt erkläre, verstehst Du das sowieso nicht!“ Sie lebten alle in dem Neubaugebiet von Stavenkirchen, und jede Familie bewohnte dort ein Reihenhaus, die alle gleich aussahen. Lotti und Bernd wohnten mit ihren Kindern in der einen Stichstraße und Gabi und Oliver mit ihren Kindern um die Ecke, sie sahen sich beinahe jeden zweiten Tag, die Kinder täglich. Man hatte zu den Nachbarn das übliche oberflächliche Verhältnis, blieb aber immer freundlich. Sommertags saßen sie oft auf ihrer Terrasse und grillten, mal bei den einen, mal bei den anderen. Ihre Nachbarn taten das gleiche und man durfte sich nicht allzu laut unterhalten, weil man jedes Wort verstand, das gesprochen wurde. Besonders wenn die Sprache auf paranormale Phänomene kam, wurde das Gespräch schnell wieder abgebrochen. Es wäre ja kaum zu erklären gewesen, was sie so umtrieb, ihre Nachbarn hätten verständnislos dreingeschaut.
Die Kinder mochten das Grillen sehr, weil man sich beim Essen nicht so benehmen musste, und man auch schon mal vom Tisch aufstehen und zur Schaukel rennen durfte. Es kam vor, dass Klara alle an einem schönen Sommertag zu sich einlud, und es wurde dann bei ihr gegrillt. Die Kinder tobten in Omas Garten herum und nahmen den Schuppen nicht aus, natürlich sahen sie danach aus wie die Ferkel. Klara hatte auch Lezek immer zu solchen Grillabenden eingeladen, und Lezek kam sehr gerne. Sie machte dann ihren legendären Kartoffelsalat, der einfach unerreicht war und auch den Kindern so gut schmeckte, dass sie gar nicht aufhören wollten zu essen. Ihre Mütter hatten sich das Rezept von Oma geben lassen und versucht, den Kartoffelsalat nachzumachen. Sie waren damit aber in den Augen der Kinder regelmäßig gescheitert und gaben irgendwann den Versuch auf.
Lotti, Bernd, Gabi und Oliver lasen schon mal die Magazine der Regenbogenpresse, und immer, wenn sie auf die Seiten mit den astrologischen Artikeln oder das Horoskop stießen, regten sie sich über den Unsinn auf, der dort geschrieben stand. Nur anhand des Sternzeichens lassen sich sicher keine bis ins Detail gehenden Aussagen zum Schicksal des einzelnen treffen. Dennoch wurden gerade solche Zeitschriften in Millionenauflage gedruckt und verkauft. Abonniert hatten sie diese Zeitschriften natürlich nicht. Sie lasen sie beim Arzt oder Lotti und Bernd bei sich im Fitnessstudio, ansonsten kamen sie ihnen nicht in die Hände! Sie sahen schon mal die Nachbarn, wie sie bei sich auf der Terrasse in den bunten Blättern lasen, sie saßen dann bei einer Tasse Kaffee und erkundigten sich über das Neuste aus den Königshäusern.
Gabis Spezialität war das Hellsehen, sie hatte sich da letztlich zu einer Fachfrau entwickelt und hasste jeden Dilettantismus, besonders solchen, wie er in der Regenbogenpresse verbreitet wurde. Das Hellsehen war für Gabi keine Wissenschaft, man musste sich dabei aber an bestimmte Standards halten, wollte man einigermaßen glaubhafte Ergebnisse erhalten. Gabi hatte sich auf das in die Zukunft gerichtete Hellsehen festgelegt, das also, was im Volksmund das Wahrsagen ist. Es gab auch Hellseherei, die sich auf die Vergangenheit oder die Gegenwart richtete, um Ergebnisse zu erzielen, die sich der Kenntnis der Fragenden entzogen. Gabi wies den Gedanken, sie stünde mit dem Okkultismus im Bunde, weit von sich. Sie sagte aber, dass sie über ein dem Unkundigen verborgen bleibendes Wissen verfügte, das es ihr erlaubte, in die Zukunft zu schauen.
Bernd, der es als Informatiker gewohnt war, rational zu denken, tat sich anfangs schwer mit den paranormalen Vorlieben der Frauen, bis er sich aber damit vertraut machte und sie gewähren ließ. Nie verlor er aber ein Wort über Hellsehen, Tischerücken oder Telekinese auf der Arbeit, seine Arbeitskollegen hätten ihn für verrückt gehalten.
Auch Oliver hielt sein Wissen über diese Dinge für sich, nicht auszudenken, wenn die Kunden des Baumarktes, die er so gut wie alle kannte, ihn in Verbindung zu so etwas wie Okkultismus bringen würden. Auch wenn Gabi sehr weit in ihrer Hellseherei ging, er wollte sich einfach nicht damit beschäftigen und ließ seine Frau in die Zukunft sehen. Die Kinder blieben völlig außen vor, es geschah schon einmal, dass Felix, das Älteste der Kinder, etwas von seinen Eltern erfahren wollte, was denen aber nicht recht war, und sie beschieden ihn dann immer sehr knapp. Untereinander sprachen die Kinder nicht über die Treffen ihrer Eltern, weil sie auch gar nicht wussten, worum es dabei ging, und sie im Übrigen im Bett waren. Der kleine Sascha war einmal aufgestanden und wollte von seiner Mutter etwas zu trinken haben. Da sah er die Erwachsenen, wie sie um den Tisch saßen und ihre Hände zu einem Kreis auf die Platte gelegt hatten. Aber Gabi sprang schnell auf, gab ihm zu trinken und legte ihn wieder in sein Bett. Er hat dann kaum etwas von dem Tischerücken mitbekommen.
Wenn die Frauen später allein waren, tranken sie im Regelfall Kaffee auf der Terrasse miteinander und sprachen über das letzte Treffen oder bereiteten das nächste Treffen gedanklich vor. Wenn die Kinder oder die Männer nach Hause kamen, hörten sie sofort damit auf und gingen ihren normalen Alltagsbeschäftigungen nach.
Als Klara einmal bei Lotti zu Besuch war, waren auch Gabi, Oliver und deren Kinder bei Lotti, und sie machten einen richtigen Familienabend aus dem Treffen. Es war warm, und sie saßen draußen und grillten. Oma Buchloh hatte ihren Kartoffelsalat mitgebracht, und alle hauten ordentlich rein. Plötzlich fing Gabi an zu erzählen:
„Ich weiß, dass bei Dir in den nächsten Tagen die Handwerker im Haus sein werden und das Dach eindecken, die Wasserleitungen austauschen und die Stromleitungen ersetzen werden!“ Klara schaute ihre Schwiegertochter ganz erstaunt an und fragte sie:
„Woher weißt Du das, es stimmt nämlich, dass ich Handwerker zu mir bestellt habe, die die von Dir beschriebenen Arbeiten ausführen sollen?“
„Gabi besitzt präkognitive Fähigkeiten, das heißt, dass sie Dinge im voraus weiß“, sagte Oliver zu seiner Mutter.
„Du willst mir doch wohl nicht weismachen wollen, dass Du weissagen kannst!“, konterte Klara.
„Doch, das kann sie, vieles von dem, das sie vorhergesagt hat, ist auch wirklich schon eingetreten!“, sagte Lotti.
„Das ist ja allerhand, vielleicht sollte ich einmal mit meinem noch nicht ausgefüllten Lottoschein zu Dir kommen und Dich bitten, die richtigen Zahlen für mich einzutragen!“, wunderte sich Klara. Als die Kinder vom Tisch aufgestanden waren, um auf dem Rasen zu spielen, fragte Klara ihren Sohn:
„Seid Ihr jetzt unter die Hellseher gegangen?“
„Keine Angst“, antwortete Oliver, „soweit werde ich es bei uns nicht kommen lassen, aber wir beschäftigen uns schon mit paranormalen Erscheinungen, wir treffen uns zum Beispiel regelmäßig und veranstalten Tischerücken und Telekinese.“ Als er sah, dass seine Mutter ihre Stirn runzelte, erklärte er:
„Beim Tischerücken geht es darum, mit Verstorbenen in Kontakt zu treten. Lotti hat auf diese Weise schon Kontakt zu Vater aufbauen können.“
„Wie, und dann erscheint Euer Vater in Eurem Zimmer und Ihr könnt Euch mir ihm unterhalten?“, fragte Klara misstrausich.
„Nun, so sicher nicht!“, mischte sich Lotti ein, „vielmehr können wir Ja/Nein-Fragen stellen, und der Angesprochene gibt Klopfzeichen als Antwort.“ So ganz überzeugt war Klara noch nicht und sie fragte nach:
„Und was hat es mit der Telekinese auf sich?“
Bernd antwortete:
„Telekinese ist die Fähigkeit, verschiedene Gegenstände auch über Entfernungen hinweg mithilfe der eigenen Gedanken zu bewegen. Stell Dir vor, wir säßen hier in einer telekinetischen Runde zusammen und würden uns alle derart konzentrieren, dass sich zum Beispiel der Teller in der Tischmitte bewegt. Das sollte er dann auch tun, wenn nicht, hat sich einer von uns nicht richtig konzentriert und an etwas anderes gedacht.“
Jetzt hatten sie Klara also doch in ihr geheimes Wissen um Paranormalität eingeweiht, und Klara blieb skeptisch, erklärte aber immerhin nicht alle für verrückt. Nach und nach kamen die Kinder wieder an den Tisch, und neugierig, wie Kinder nun einmal sind, wollten sie von Oma Buchloh wissen, was Opa Buchloh für ein Mensch gewesen und warum er so früh gestorben war.
„Euer Großvater war ein herzensguter Mensch“, sagte Klara, „Ihr kanntet ihn doch alle noch, er hat alles für Euch getan. Niemals konnte er schlecht über seine Enkelkinder reden, und er konnte fuchsteufelswild werden, wenn einem von Euch ein Unrecht widerfuhr. Sicher wisst Ihr noch, dass Opa ein ausgezeichneter Geschichtenerzähler war, er saß früher mit Euch bei uns im Garten und hat Euch um sich versammelt. Ihr habt alle um ihn gehockt und ihn beinahe erdrückt, so sehr seid Ihr ihm auf die Pelle gerückt. Seine Geschichten dauerten immer so an die zehn Minuten, und wenn die um waren, war Euer Gezeter groß. Ihr wolltet natürlich noch eine Geschichte hören und noch eine und noch eine...
Aber irgendwann war Schluss, Opa ließ sich dazu überreden, noch eine Geschichte zu erzählen und vielleicht auch noch eine dritte, dann hörte er aber auf, und wir mussten in Eure traurigen Gesichter blicken. Wenn ich dann aber ins Haus gegangen und mit einem Eis für jeden von Euch wieder herausgekommen bin, kehrte das Strahlen in Eure Gesichter zurück.
Eines Tages starb Opa an dem Lungenemphysem, das, wie ich vermutete, ein Überbleibsel aus der Kriegszeit gewesen war. Ihr müsst Euch das so vorstellen: die Lunge gibt den Sauerstoff aus der Atemluft an das Blut ab, das macht sie über ganz kleine Gefäße, die Zugang zu den Adern haben. Und wenn diese Gefäße beschädigt oder ganz kaputt sind, kann der Sauerstoffaustausch mit dem Blut nicht mehr stattfinden, und der Mensch stirbt.
Ihr könnt Euch vorstellen, dass mich der Tod meines geliebten Mannes sehr getroffen hat. Mit der Zeit habe ich aber lernen müssen, alleine klarzukommen. Das fiel mir anfangs sehr schwer, nach und nach ging das dann aber immer besser. Ich denke oft an Euren Opa, ich habe ihn geliebt und wir waren mehr als fünfzig Jahre zusammmen.“ Klara zupfte ihr Taschentuch und tupfte sich ein paar Tränen aus den Augen.
„Oma, weinst Du?“, fragte die kleine Dorith und legte ihre Arme um ihre Großmutter. Und in diesem Augenblick sah Klara die kleine Dorith an und musste lachen, und auch Dorith lachte, alle mussten lachen. Kurze Zeit später halfen alle, den Tisch abzuräumen und die Kinder mussten ins Bett. Die Erwachsenen saßen noch eine Weile am Tisch und erzählten sich Geschichten vom guten Großvater. Sie hatten viele schöne Stunden gemeinsam mit ihm verbracht, gerade auch beim Grillen. Dann wurde es aber auch für die Erwachsenen Zeit und sie legten sich schlafen.