Читать книгу Kategorie: Glück - Hans Müller-Jüngst - Страница 5

Bildung

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Paulo wurde wie alle Kinder mit 6 Jahren in die Grundschule eingeschult, und er bekam an seinem ersten Schultag eine große Schultüte, die mit allerlei Süßigkeiten gefüllt war. Er trug eine kurze Lederhose und hohe Lederschuhe, das war damals so Standard und wurde von beinahe allen anderen Schulkindern auch getragen. Es wurden Fotos geschossen, und Paulo stand stolz und blickte in die Kamera. An diesem Tag begann für Paulo eine 14jährige Schulzeit, in der ihm beigebracht wurde, was es hieß, zu leben. Und was sich so hochtrabend anhörte, war wirklich so gemeint, denn es ging in der Schule längst nicht nur um Wissensanhäufung. Es ging auch um das Erlernen sozialer Kompetenzen, das war ein Begriff, der damals noch nicht existierte, und der umfassend beschrieb, was neben dem kognitiven Wissenserwerb noch gemeint war, nämlich die Aneignung von Empathie und Rücksichtnahme, von Ausdauer und emotionaler Wärme. Aber diese Qualifikationen spielten erst viel später eine Rolle, zuerst ging es ans Bimsen, und das hieß lernen, lernen und nochmals lernen. Aber das Lernen fiel Paulo leicht, das kleine Einmaleins flog ihm quasi zu, und er erlernte auch schnell das Lesen und Schreiben, denn das hatte er immer schon zu Haue geübt. Seine Mutter hatte mit ihm das kleine Einmaleins rauf und runter gepaukt und ihm Zeitungsausschnitte zu lesen gegeben, die waren zwar nicht in lateinischer Schrift geschrieben, er kam aber mit den Druckbuchstaben schnell zurecht.

Und so konnte Paulo vor seinen Mitschülern glänzen, wenn er etwas vorlas, oder wenn er Kopfrechenaufgaben wie aus dem Effeff zu lösen wusste. In Paulos Grundschulzeit lernten die Kinder noch auf Schiefertafeln schreiben, dazu benutzten die Schüler einen Griffel, den sie immer anspitzen mussten, und mit dem sie Zeigestöcke oder andere einfache Symbole auf die Tafel kratzten. Sie hatten in einer kleinen Dose ein Schwämmchen, mit dem sie die Tafel sauber wischten und einen Lappen, mit dem sie sie wieder trockneten. Die Schulklassen waren damals groß und bestanden immer aus über 30 Schülern, und man wusste während des Unterrichts gleich, bei wem der Hase wo im Pfeffer lag. Paulo hatte nicht viel von seiner Grundschulzeit im Gedächtnis behalten, was ihm aber unvergessen geblieben war, war die Tatsache, dass er einmal vom Schulrektor mit dem Rohrstock verprügelt worden war. Die ganze Klasse hatte gestanden, um die Lehrerin zu begrüßen, als Paulo den Stuhl seines Freundes und Vordermannes zur Seite geschoben hatte und der, als sich alle wieder setze durften, ins Leere gefallen war und sich dabei wohl wehgetan hatte. Schnell war klar gewesen, dass Paulo der Verursacher des Zwischenfalls gewesen war, und er wurde zum Rektor geschickt. Der zog Paulos Lederhose stramm, damit er die Rohrstockschläge auch gut zu spüren bekam.

Im Lauf der vier Jahre, die Paulo an zwei Grundschulen verbrachte, kristallisierte sich heraus, wer geeignet sein würde, eine weiterführende Schule besuchen zu dürfen und wer nicht, und Paulo sollte auf das Gymnasium wechseln. Nun war es damals noch nicht so, dass man sich einfach an einem Gymnasium anmeldete und damit aufgenommen war. Jeder musste zunächst eine Aufnahmeprüfung bestehen und die zog sich über 3 Tage. Paulo erinnerte sich, wie er mit anderen Aspiranten Mathematik- und Deutschtests anfertigen musste und am Ende tatsächlich aufgenommen wurde, er war von diesem Zeitpunkt an Gymnasiast. Das war zu der damaligen Zeit etwas ganz Besonderes, denn der Prozentsatz der Schulkinder, die ein Gymnasium besuchen durften, war noch sehr klein, und Paulo musste frühzeitig darauf achten, dass er nicht abhob und sich wie ein Hahn unter den Gleichaltrigen bewegte. Aber genau das gelang ihm von Anfang an nur schlecht, was nicht nur an ihm lag, er war nicht unbedingt überheblich. Vielmehr entwickelten sich bei den ehemaligen Freunden einfach die Lebensläufe auseinander. Später war Paulo noch lange Jahre Schüler, während die anderen eine Berufsausbildung zu absolvieren begannen. Aber Paulo empfand das nicht als Nachteil, im Gegenteil, es eröffneten sich für ihn ganz neue Lebenswelten, von denen er früher nur geträumt hatte. Es formierte sich ein Freundeskreis, zu dem die Kinder aus Reichenhäusern gehörten, nicht nur, aber auch, und Paulo begann, sich in solchen Kreisen bewegen zu lernen.

Das fiel ihm nicht immer leicht, denn er musste einen Balanceakt absolvieren zwischen seiner doch einfachen Herkunft und dieser Welt der Begüterten.

Aber bei allen Unterscheiden, die es zwischen seiner und der Welt der Reichen gab, lagen die Interessen der Schulkinder doch gleich, weil sie noch jung waren und über kein großes Erfahrungsspektrum verfügten.

In der Anfangszeit am Gymnasium entwickelten sich die typischen Verhaltensmuster der Jungen. Es gab welche, die sich mit Fotoarbeiten im schuleigenen Fotolabor beschäftigten, andere machten Versuche mit selbstgebastelten Raketen und natürlich hatten sie alle ein Fahrrad, mit dem sie zum Gymnasium fuhren und es dort in den Fahrradkeller stellten. Eines Tages schenkten Paulos Eltern ihrem Jungen ein Fahrrad, das sie von Paulos Patenonkel übernommen hatten und das das absolute Nonplusultra war: es hatte eine Torpedo-Dreigangschaltung, es hatte sogar batteriebetriebene Blinker und ein Kombiinstrument von VDO mit Tacho und Uhr. Paulo wusste gar nicht, was er vor Dankbarkeit sagen sollte, als er das Rad geschenkt bekam, und er nahm sich natürlich vor, sehr gut auf seine neues Fahrrad aufzupassen. Sein Freund Rudi aus der Nachbarschaft, mit dem er die gleiche Klasse am Gymnasium besuchte, hatte ein ähnlich gut ausgestattetes Fahrrad, und zusammen fuhren sie morgens immer zum Gymnasium. Im Laufe der Zeit legten sie sich weitere Ausstattungsdetails an ihren Fahrrädern zu, und da war vor allem die Radlaufschelle zu nennen, die eigentlich verboten war, aber es machte eben Spaß, die Fußgänger mit der höllisch lauten Schelle zu erschrecken.

Nach und nach wandelte sich die Interessenlage der Schüler weg von den Fahrrädern und den typischen Jungenhobbys hin zu den Mädchen, die es natürlich in ihrer Klasse auch gab. Leider litten darüber der Lerneifer und das Interesse am Unterricht allgemein, sodass Paulo sitzenblieb. Aber es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, in der neuen Klasse wieder Freundschaften zu schließen. Es gab in der Mittelstufe Fächer, die Paulo sehr gern hatte und solche, die er hasste, weil sie von Lehrern unterrichtet wurden, die offensichtlich noch in der NS-Zeit unterrichtet hatten, denn sie verhielten sich den Schülern sehr autoritär, um nicht zu sagen brutal gegenüber. Zu Paulos Schulzeit wurde an den Schulen noch geprügelt und das bekam er auch zur Genüge mit. Die kleinste Verfehlung im Unterricht reichte aus, und man bekam eine Ohrfeige, nach der alle Finger des Lehrers noch lange auf der Backe zu sehen waren. Dann gab es aber auch Lehrer, zumeist jüngere, die von allen gemocht wurden, und die es verstanden, einen interessanten Unterricht zu geben. Das Gymnasium war, besonders für die älteren Schülern, ein ganz eigener Raum, über den die Außenstehenden meist nur die Köpfe schüttelten, den sie aber tolerierten, weil dem Gymnasium ja die geistige Elite entsprang, weshalb das, was dort getrieben wurde, nicht ganz verkehrt sein konnte.

Paulo erinnerte sich, wie er und seine Freunde das Maß an Toleranz oft beinahe überstrapazierten, das betraf ganz besonders ihr Äußeres. Sie ließen sich die Haare wachsen, sodass manche aussahen wie Rübezahl, oder sie trugen Kleidung, bei der man nicht wusste, ob sie nicht besser entsorgt gehört hätte. Er dachte an Hosen, die unten sehr weit ausgestellt waren und eine Kellerfalte hatten oder an Lackjacken, die mit Fuchspelz besetzt waren. Aber alles das wurde toleriert, man beließ den Gymnasiasten den Raum der Exaltiertheit und des Narzissmus. Und die Gymnasiasten wussten, dass sie eine Sonderstellung genossen, ohne dass sie arrogant waren, von Ausnahmen abgesehen. In dieser abgehobenen Stellung, und mit wenig Enthusiasmus für den Schulbetrieb machte Paulo ein schlechtes Abitur, aber es war ein Abitur, das ihm den Zutritt zu einer Hochschule ermöglichte. Er absolvierte die Bundeswehrzeit und schrieb sich anschließend für die Fächer Kunst und Mathematik für das Lehramt am Gymnasium ein. Ja, er wählte den Beruf des Gymnasiallehrers, obwohl er unter den Gymnasiallehrern so gelitten hatte. Aber es war in ihm eine Achtung vor diesem Beruf gewachsen, vielleicht ein Respekt vor der Machtfülle, mit der er ausgestattet war. Das Studentenleben sagte Paulo gleich zu, war er während seiner Zeit bei der Bundeswehr wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden, bewegte er sich von da an wieder auf einem abgehobenen Niveau.

Man ließ die Studenten gewähren, weil Studenten in den Augen der allermeisten Zeitgenossen ohnehin nicht ernst zu nehmen waren. Paulo wechselte im Lauf der Zeit die Studienfächer und belegte am Ende Geschichte und Sozialwissenschaften. Diese Fächerkombination sagte ihm doch deutlich mehr zu als die doch sehr abstrakte Mathematik und die arbeitsaufwändige Kunst, wo es gelegentlich Veranstaltungen erst abends um 20.00 h gab. Paulo zog mit anderen in eine Wohngemeinschaft und erlebte dort die intensivste Zeit seines Lebens. Es war eine Zeit der Exzesse und des Wahns, dennoch ließ Paulo sein Studium nicht schleifen. Er durchlebte Zeiten größten Glücksgefühls, zum Beispiel, wenn er sich gerade verliebt hatte, aber auch, wenn er eine gute Klausur nach Hause brachte und einmal auch, als er eine von Grund auf von ihm zusammengeschraubte Ente durch den TÜV gebracht hatte. Aber immer ging er in seine Veranstaltungen und achtete auf einen geregelten Studienablauf. Es wurden Feten gefeiert und Mädchenbekanntschaften geschlossen, die aber immer nur kurze Zeit andauerten, dennoch Momente großen Glücks bewirkten. An Paulos Studium schloss sich eine Referendarzeit an, und die war weniger dazu ausersehen, einem Glücksmomente zuteil werden zu lassen, denn sie war eine Abfolge von extrem autoritär durchgeführten Prüfungssituationen, die man nach entsprechender Vorbereitung bestehen musste, wollte man sein Referendariat erfolgreich abschließen.

Nachdem die Referendarzeit aber mit Erfolg abgeschlossen war, stellte sich ein unbeschreibliches Glücksgefühl ein, das zwar nicht lange anhielt, aber von einer großen Intensität war. Vermutlich musste man immer erst eine Durststrecke durchlaufen, um am Ende Glück spüren zu können. Schließlich war Paulo Studienrat und hatte eine sehr lange Ausbildungszeit hinter sich gebracht, zusammen mit der Grundschule waren es beinahe 20 Jahre! Er hatte die Erfahrung gemacht, dass man sich nicht unbedingt in Räume begeben musste, die für die anderen nicht zugänglich waren, um glücklich zu sein. Paul hatte erlebt, dass sich Glück entweder einstellt, nachdem man eine positive Leistung vollbracht hatte, oder es entstand aus einem situativen Kontext. Wenn man zum Beispiel ein Mädchen kennenlernte, ergab sich Glück eher zufällig. Sollte das Glück aber von langer Dauer sein, bedurfte es schon einer Basis, die erst einmal geschaffen werden musste und ein Weiteres war ihm klar geworden: materieller Reichtum gehörte nicht unbedingt dazu, wenn man glücklich werden wollte, es reichte aus, wenn man über die Mittel verfügte, die einem ein durchschnittliches Auskommen gewährleisteten. Aber gebildet musste man sein, um Glück erleben zu können, zufrieden sein konnte jeder, aber Glück war an Bildung gekoppelt, so viel war Paulo doch klar geworden.

Man musste die Welt, und was einen umgab verstehen und sich ein Urteil bilden können, wenn man nicht dazu verurteilt sein wollte, dahinvegetieren zu müssen. Bildung war ein Bedürfnis des Individuums, das in der Regel durch eigenes Zutun angestrebt werden konnte. Natürlich war der Erwerb von Bildung mit einigem Aufwand verbunden, man musste sich einem Lernprozess unterziehen und sich dazu in eine Schülerrolle begeben, weshalb die meisten davor zurückschreckten. Leider konnte man den Glückszustand, der sich im Anschluss einstellte, nicht hinreichend beschreiben, sonst würden sich der Anstrengung des Lernens mehr Menschen unterziehen. Paulo hatte sich ein Glückspolster angelegt, auf dem er prima existieren konnte, es fiel ihm nur sehr schwer, sich anderen in seiner Lage mitzuteilen.

Kategorie: Glück

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