Читать книгу Kategorie: Glück - Hans Müller-Jüngst - Страница 8
Politische Partizipation
ОглавлениеPolitische Partizipation bedeutet politische Beteiligung, und das war für Paulo immer oberste Bürgerpflicht, und sie entsprang bei ihm einem neugierigen Interesse. Es stimmte ihn glücklich, wenn er den politischen Sachverhalt, um den es jeweils ging, verstand und durch seine Beteiligung vielleicht sogar etwas bewirken konnte. Er merkte schon als Kind, dass es wichtig war, sich um die Belange zu interessieren, die einen betrafen, und er bekam immer mit, wie sich sein Vater aus der Tageszeitung informierte und sich im Fernsehen die Tagesschau ansah. Natürlich konnte er im Kindesalter die Themen noch nicht durchdringen, weil ihm einfach das Hintergrundwissen und die Einsicht fehlten. Er stellte aber fest, seit er das Gymnasium besuchte, wurde in ihm das Interesse am politischen Geschehen geweckt. Für ihn war es auch eine Frage des Intellekts, sich für Politik zu interessieren. Was jemanden aber schließlich dazu brachte, sich politisch zu engagieren, war das Maß der persönlichen Betroffenheit von politischen Entscheidungen und von deren Auswirkungen auf das eigene Leben. Das war unabhängig vom Intellekt des Betroffenen, der Intellekt war aber dabei von Belang, wie derjenige sich mit dem Sachverhalt auseinanderzusetzen in der Lage war. Der erste Raum, in dem politische Meinung gefragt war, und der für Paulo wichtig war, war die Schule. Entscheidungen der Schulleitung mussten demokratischen Grundsätzen genügen, und an ihnen war in der Regel die Schülervertretung zu beteiligen. Ebenso waren die Schüler an Entscheidungsorganen zu beteiligen wie zum Beispiel an der Schulkonferenz, aber auch an anderen Organen, die in der Schule wichtige Entscheidungen fällten. Die gesamte Schülerschaft war in der Schülervertretung organisiert und das war ein politisches Organ.
Mitglied in der Schülervertretung waren gewählte Mitschüler, die sich dadurch hervorgetan hatten, dass sie sich für Schulpolitik interessierten oder sich schon einmal für einen Mitschüler eingesetzt hatten, sie konnten zu Klassen- oder Stufensprechern gewählt werden und waren als solche Mitglied der Schülervertretung. Paulos politische Sozialisation begann so richtig als Klassensprecher, er fühlte sich dazu berufen, sich für seine Mitschüler zu engagieren und nahm das Amt des Klassensprecher gern wahr. Paulo musste immer daran denken, wie er einmal auf der niedrigsten Stufe, auf der ein Klassensprecher aktiv werden konnte, in der direkten Ansprache eines Lehrers für einen Mitschüler Partei ergriff, der zu Unrecht mit einer Strafarbeit belegt worden war. Der betreffende Lehrer ließ sich von Paulo überzeugen und sprach ihm sogar wegen seines Engagements ein Lob aus. In diesem Moment war Paulo zu Recht mächtig stolz auf sich, er hatte konkret etwas durch die Ausübung seines demokratischen Amtes bewirkt, sein Mitschüler bedankte sich bei ihm und Paulo war glücklich. Mit diesem Erlebnis wurde bei Paulo ein Prozess in Gang gesetzt, der ihn zum Mitstreiter in vielen Dingen machen sollte, weit über seine Schulzeit hinaus.
Paulo stellte fest, dass immer, wenn er sich um politische Belange kümmerte, ein Glücksgefühl in ihm keimte, unabhängig davon, ob sein darauf folgendes Engagement von Erfolg gekrönt war oder nicht. Dieses Glücksgefühl resultierte einfach daraus, dass Paulo sich mit dem jeweiligen Sachverhalt intellektuell beschäftigte, und das hob ihn in diesem Moment auch von den anderen ab, die vielleicht dazu nicht in der Lage waren, aus welchen Gründen auch immer oder einfach keine Lust dazu hatten. Nachdem während seiner Schulzeit der Keim für politische Beteiligung angelegt worden war und er gelernt hatte, aus politischen Engagement Glück zu erfahren, setzte er während seiner Studentenzeit seine politische Partizipation im Asta fort. Er trat mit einem Mal im Audimax auf und hielt coram publico flammende Reden, die er vorher einstudiert hatte, und mit denen er seine Zuhörer zu begeistern wusste. Dazu gehörte natürlich eine gehörige Portion Selbstsicherheit, die sich bei Paulo in zunehmendem Maße verfestigte, und er war am Ende so selbstbewusst, dass er sich offenen Diskussionen stellte und auch in den kompliziertesten Themen seinen Mann zu stehen wusste. Alle merkten Paulo an, dass er glücklich war, wenn er mit seinem politischen Sachverstand Themen darlegte, sie erörterte und sie für jedermann verständlich in all ihren Schattierungen aufbereitete. Das brachte ihm sehr große Achtungserfolge ein und mehr als das, die Mädchen begannen, auf ihn zu fliegen und himmelten ihn an, was Paulo sehr entgegenkam, und er hatte in seiner Studentenzeit eine Menge flüchtiger Verhältnisse.
Paulo merkte schnell, dass es immens wichtig war, sich mit profunden Kenntnissen zu versehen, wenn man in der Politik mitreden, und wenn man von seinen Kontrahenten ernst genommen werden wollte. Das betraf aber nur die sehr ins Spezielle gehenden Sachverhalte, andere Bereiche tangierten jeden direkt, jederzeit spürbar. Das waren zu Paulos Studienzeit die Fragen der Kernenergie und die Frage der Nachrüstung mit Pershing-II-Raketen oder besser gesagt, die Friedenspolitik allgemein. Die Zeit der Großdemonstrationen war angebrochen, und Paulo freute es sehr, dass sich Tausende auf den Weg begaben und ihrem Ärger über die ungelöste Endlagerfrage oder die umstrittene Nachrüstung Luft machten. Und zum ersten Mal sah er, dass sich an den Demonstrationen nicht nur Leute seines Schlages, sondern auch normale Bürger beteiligten. Alte, die den Krieg noch erlebt hatten, reihten sich bei den Nachrüstungsgegnern ein und Bürger, die an die Generationen nach ihnen dachten, erhoben ihre Stimmen gegen die geplanten Endlager. Diese Demonstrationen waren ein Erlebnis für sich, natürlich hatten die Teilnehmer das Ziel, die Endlager oder die Nachrüstung zu verhindern, aber es schwang noch sehr viel mehr mit.
Die Stimmung auf diesen Großveranstaltungen kam der auf einem Volksfest gleich, es waren im Falle der großen Friedensdemonstration um die 300000 Teilnehmer, die transportiert und verköstigt werden mussten. Eine solche Massenansammlung hatte es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben, und man merkte den Menschen an, dass sie geradezu beseelt waren von der Idee, etwas zu verändern, sie waren glücklich. Auch Paulo war beinahe euphorisch, als er sich in der Masse befand, und er hörte gebannt den Ansprachen der prominenten Redner zu. Nur so ließe sich etwas in großem Stil verändern, dachte Paulo bei sich, die Stimmen solcher Massen an Menschen konnten einfach nicht übergangen werden. Eine ähnliche Willensdemonstration kam auch bei den Antikernkraft-Kundgebungen in Brokdorf auf, wo unter anderem die ungelöste Endlagerfrage auf der Tagesordnung stand. Jeder war ergriffen von der ansteckenden Stimmung, und jeder ließ sich mitreißen von den Parolen, die gerufen wurden. Die Stimmung war absolut gewaltfrei und man konnte sich vorstellen, dass auf einem solchen politischen Volksfest neue politische Ideen geboren werden konnten. Nachdem die Großveranstaltungen beendet worden waren, nahm jeder etwas von der Euphorie mit zu sich nach Hause und hatte auch noch lange Zeit etwas davon, bis die Hochstimmung aber wieder vom Alltagsleben erstickt wurde. Bei Paulo hielt die Glücksstimmung aber an, denn er machte an seiner Hochschule weiter mit seiner politischen Arbeit, und er versuchte, seine Kommilitonen zur politischer Teilhabe zu ermuntern.
Paulo blieb ein politisch sehr stark interessierter Mensch, und er setzte, nachdem er noch während seines Studiums in die SPD eingetreten war, seine Arbeit in der Partei fort. Er besuchte Seminare und klärte die Menschen an Ständen und bei Besuchen auf. Dass das ein mühseliges Geschäft war, war ihm längst klargeworden. Man rannte keine offenen Türen ein, wenn man die Menschen zum Beispiel über die Ursachen der Massenarbeitslosigkeit aufklären wollte, sondern man musste erst einmal darum kämpfen, sich Gehör zu verschaffen. Wenn es dann sogar dazu kam, dass sich die Angesprochenen auf ein Gespräch mit ihm einließen und ihre Meinung kundtaten, war schon sehr viel erreicht und Paulo war glücklich, auch wenn er bis zu diesem Zeitpunkt noch niemanden von seiner eigenen Meinung überzeugt hatte. Die Haltung: „Ich allein kann doch sowieso nichts ändern!“ musste aufgeweicht werden, wie Paulo fand. Er gab sein Bestes, wenn es darum ging, die Menschen dazu zu bringen, nicht gleich die Flinte ins Korn zu werfen. Er sah allmählich, dass es bei der politischen Beteiligung nicht allein damit getan war, sich sachkundig zu machen, sondern man musste auch den Willen haben, aktiv zu werden und sich die Zeit dafür zu nehmen. Und genau das war der Knackpunkt, an dem die meisten scheiterten, wenn es darum ging, politische Handlungen mitzutragen.
Beinahe alle begaben sich in eine politische Apathie und blieben da. Paulo sah es in seiner Partei als eine seiner Hauptaufgaben an, unter den Apathischen politische Aufklärung zu betreiben und das war eine Ochsentour, denn er musste die Menschen natürlich bei sich zu Hause besuchen, um an sie heranzukommen. Das wurde aber vielfach als Eindringen in die Privatsphäre verstanden und Paulo wurde zurückgewiesen. Er hatte dann immer große Schwierigkeiten, die Menschen doch noch zu überzeugen. Manchmal half aber alles nichts und er musste unverrichteter Dinge das Feld räumen. In der Regel schaffte er es zumindest, dass er gehört wurde und sein Anliegen vortragen konnte. Er merkte aber, dass das Zuhause der Menschen nicht sein Terrain war und er fühlte sich am sichersten, wenn er sich mit den Leuten an einem Stand aufhielt, wo sie sich nicht in ihre vier Wände zurückziehen und sich ausklinken konnten. Bei ihm zu Hause stand natürlich die Politik ganz oben auf der Tagesordnung, und auch seine Frau, die er damals auf einer Großdemonstration kennengelernt hatte, mischte ordentlich mit und war für Paulo eine ausgesprochen kompetente Gesprächspartnerin. Als seine Kinder allmählich heranwuchsen, konnte er an ihnen genau feststellen, wann sie sich für Politik zu interessieren begannen, und er brachte ihnen frühzeitig bei, sich vernünftig auszudrücken und ein Anliegen mit den passenden Worten vorzutragen. Später bekam er sich mit ihnen prompt öfter einmal in die Wolle, wenn sie in Diskussionen zu siegen drohten, und ihre Mutter unterstützte sie dabei.
Aber in Wirklichkeit freute sich Paulo natürlich, wenn seine Kinder so glänzende Rhetoriker waren. Beide übernahmen schon früh Klassensprecherämter, und es zeichnete sich bei ihnen die gleiche politische Karriere ab wie bei ihrem Vater. Ihr Umgang mit den modernen Medien machte für sie aber so manches einfacher. So konnten sie sich immer über den aktuellen Stand bei einer politischen Sachdebatte im Internet informieren und sich schnell Emails schicken oder sich und ihre Positionen über Facebook bekannt machen, Dinge, von denen ihr Vater früher nur träumen konnte. Oft unterhielt sich Paulo mit seinen Kindern darüber, ob ihnen die politische Arbeit Glück beschied und beide bejahten seine Frage und sagten, dass sie besonders dann, wenn sie erfolgreich gewesen wären, großes Glück empfanden. Sie gingen in fortgeschrittenem Alter auf Informationsveranstaltungen der SPD zum Stand und diskutierten dort mit Passanten. Die wiederum nahmen Paulos Kinder manchmal gar nicht ernst und sagten ihnen offen heraus, dass sie sie für noch zu jung hielten, sich an aktuellen politischen Fragestelllungen zu beteiligen. Ganz besonders taten sich immer die ehemaligen Kriegseilnehmer hervor, die aber immer seltener wurden. Sie kamen mit ihrer Erfahrung, wenn die Friedensfrage diskutiert wurde und sprachen den Jugendlichen quasi das Recht ab, sich überhaupt mit Frieden und Krieg zu beschäftigen.
Paulos Kinder merkten in solchen Gesprächen immer gleich, dass sie da nicht weiter kamen und ließen die Passanten meistens gehen. Paulo fand nach wie vor, dass politisches Engagement nicht nur wichtig für das Funktionieren der demokratischen Ordnung war, sondern jedem auch tiefe Glücksgefühle vermitteln konnte. Ein Haupthindernis auf dem Wege dabei, wenn sich jemand politisch engagierte, sah er in weit verbreiteten Hemmungen, die die Menschen hatten und denen wiederum die verschiedensten Ursachen zu Grunde liegen konnten. Eine große Crux war fehlendes Selbstbewusstsein, wenn man sich im Gespräch gegenüberstand und seine Argumente austauschte, da war der politisch Geschulte eindeutig im Vorteil. Wenn man sich aber zurückzog und das politische Feld redegewandten Dilettanten überließ, war es um die Politik schlecht bestellt. Die Kinder mussten deshalb schon in der Schule offensiv an die Politik herangeführt und ihnen so sehr früh Selbstbewusstsein verschafft werden. Dazu gehörte, dass sie sich vor Publikum präsentierten und redeten, nur so konnten sie lernen, eventuellen Anfeindungen zu begegnen und sie wegzustecken.