Читать книгу Kategorie: Glück - Hans Müller-Jüngst - Страница 6
Freundschaft, Liebe
ОглавлениеFreundschaften hatten Paulo immer sehr viel bedeutet und waren für ihn auch Quellen des Glücks. Paulo hatte viele Freunde, schon in seiner Kindheit hatte er freundschaftliche Kontakte zu den Nachbarjungen geknüpft, und der Kontakt zu ihnen machte eigentlich sein Leben aus. Immer, wenn er sich in seiner Freizeit befand, umgab er sich mit seinen Freunden und unternahm Dinge mit ihnen, die er sein ganzes Leben lang nicht vergessen sollte. Vermutlich waren frühe Freundschaften für die Entwicklung des Individuums zu einem sozialen Wesen unabdingbar, denn nur aus dem frühen Umgang mit außerfamiliären Beziehungen konnte soziale Reife erwachsen.
Paulos Freundschaften beschränkten sich im frühen Kindesalter auf Jungen und wurden erst ganz allmählich auf Mädchen ausgedehnt, zu denen er lockeren Kontakt hatte, und er zog schon früh mit ihnen durch die Gegend. Besonders intensiv war natürlich sein Verhältnis zu seinen Schulkameraden, mit denen er das harte Los des Unterrichts teilen musste. Die gemeinsam erlebten Höhen und Tiefen schufen eine solide Basis für Freundschaften, denn es kam darauf an, dass man sich bei den schulischen Anforderungen half, und dabei gab es geschlechtsspezifische Unterschiede. Mädchen lösten die schulischen Probleme auf andere Weise, als Jungen das taten. Während Jungen die schulischen Herausforderungen direkt angingen, im Fall des Scheiterns aufgaben und sich in ihr vermeintliches Schicksal fügten, gingen Mädchen überlegter mit ihnen um und setzten sich intensiver mit ihnen auseinander, sie waren fleißiger und lernten mehr als Jungen, sodass sie eher mit schulischen Schwierigkeiten zurechtkamen. Gleichzeitig grenzten sie sich aber durch solch ein schulkonformes Verhalten stark von den Jungen ab. Paulo hatte noch kein Bedürfnis, Freundschaften zu Mädchen zu knüpfen, er bezog Glücksgefühle aus dem Kontakt zu gleichaltrigen Jungen, mit denen er die Gegend unsicher machte und voll darin aufging.
Paulo lebte eigentlich nur für seine Freundschaften, er sehnte das Ende seiner Verpflichtungen immer herbei, waren es nun Kindergarten oder die Schule, um sich danach sofort mit seinen Freuden zu treffen. Das sah dann meistens so aus, dass er vor die Tür ging und dort einen Pfiff oder einen besonderen Schrei von sich gab und damit den Freunden aus der Nachbarschaft zu verstehen gab, dass die Zeit gekommen war, irgendwelchen Unsinn anzustellen. Sein Pfiff oder Schrei wurde dann beantwortet, und er traf sich mit seinen Freunden entweder bei sich vor der Haustür, oder er lief zu ihnen. Danach zogen sie, wenn sie ein paar Pfennige in der Tasche hatten, zur Bude, wie der Verkaufskiosk hieß und kauften dort Bonbons, Kaugummis oder Mohrenköpfe. Im Sommer setzten sie sich auf ihre Fahrräder und fuhren zum Schwimmen an den Kanal. Dort empfand Paulo regelmäßig großes Glück, wenn er sich in das nicht ganz saubere Wasser warf und an die Schiffe heranschwamm, um auf sie zu klettern und ein Stück mit ihnen zu fahren. Anschließend sprang er wieder ins Wasser und fuhr mit einem anderen Schiff zurück, es waren immer seine Freunde dabei, und er hätte sich kaum etwas Schöneres vorstellen können. Oder aber er ging mit seinen Freunden auf die sehr große, seinem Haus gegenüberliegende Wiese und machte dort ein Lagerfeuer.
Sie standen dann da und starrten in die Flammen, es hätte nichts gegeben, was sie in diesem Moment mehr begeistert hätte. Später dann, als Paulo ungefähr 14 Jahre alt war, begann sein und seiner Freunde Interesse am Rauchen und Trinken zu wachsen. Es gab noch flache Schachteln mit 6 Zigaretten zu kaufen, die besorgten sie ich und gingen zum Rauchen immer irgendwohin, wo sie von niemandem gesehen wurden. Das war etwas, das sie nie mit einem Mädchen getan hätten, die Zigaretten schmeckten eigentlich auch gar nicht so richtig, es ging dabei nur um den Reiz des Verbotenen. Das war auch der Grund, weshalb Paulo und seine Freunde schon mal ein Bier tranken, obwohl Bier bitter schmeckte, und Bier deshalb niemandem zusagte. Es begann die Zeit, in der Paulo mit seinen Freunden angab und herumprahlte, sie fuhren in die Stadt und sahen sich dort nach Mädchen um, sehr unbeholfen zunächst und nicht zu jedermanns Freude. Aber auch da war es der Umgang mit den Freunden, der Paulo zu Glück verhalf und ihn Dinge erleben ließ, die er allein nie erlebt hätte. Sie stachelten sich an, um sich in ihrer Angeberei gegenseitig zu überbieten. Erst ganz allmählich wandelte sich der Umgang der Jungen und jeder bekundete ein Interesse an Mädchen. Bis Paulo aber ein Mädchen als seine Freundin ansehen konnte, dauerte es seine Zeit. Alle Jungen in Paulos Alter fingen mit einem Mal an, ihre Fühler nach Mädchen auszustrecken und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen.
Sie zeigten sich Händchen haltend mit ihrer Angebeteten in der Öffentlichkeit und waren plötzlich wie ausgewechselt. Das Freizeitverhalten bekam eine ganz andere Qualität, nichts war mehr mit ausufernden Saufgelagen oder Rumgeprahle. Man hielt sich sehr gesittet und ging mit seiner Freundin ins Kino oder in ein Cafe, später auch in die Tanzschule. Was aber blieb, war der Glücksschub, den jeder erfuhr, und auch Paulo war endlich mit seiner Brigitte glücklich. Die Freundschaft mit seinen Kumpels blieb zwar bestehen, sie war aber durch die Liebe zu einem Mädchen ergänzt worden. Diese Liebe wurde als so gewaltig empfunden, dass Paulo alles um sich herum zu vergessen drohte, sodass seine Mutter ihn manchmal fragte, wo er denn mit seinen Gedanken wäre. Sie merkte ihrem Sohn an, dass die Liebe ihn völlig aus der Bahn warf, gleichzeitig sah sie, dass sie ihm guttat und Paulo ein nettes Mädchen zur Freundin hatte. Immer bevor sich die beiden trafen, wurde telefoniert und sie verabredeten sich dann in der Stadt, es geschah nur selten, dass Brigitte zu ihm nach Hause kam. Dagegen war Paulo öfter bei ihr, um gleich von dort zu verschwinden und irgendwo hinzugehen, wo sie ungestört knutschen konnten. Es war für ihn das höchste Glück, wenn er seine Brigitte in seinen Armen hielt, und sie sich küssten, sie sahen sich dabei sehr tief in ihre Augen und schworen sich ewige Liebe. Die Liebe unterschied sich doch deutlich von der Freundschaft, Paul hatte noch nie so etwas Intensives erlebt, er wäre bereit gewesen, beinahe alles zu tun, um seine Liebe zu Brigitte bestehen zu lassen.
Und das war auch die Crux, die mit der Liebe verbunden war, mit ihr wurde eine sehr große Fallhöhe geschaffen, die jeder zu spüren bekam, bei dem das Liebesverhältnis mit einem Mal an sein Ende angelangt war. Und genau das musste Paulo einige Male erfahren, als das Verhältnis zu seiner jeweiligen Freundin ein jähes Ende gefunden hatte, und er ins vermeintlich Bodenlose abstürzte. Es dauerte dann immer lange, bis er sich wieder gefunden hatte, und eine neue Liebe ihren Anfang nahm. Die Liebe war eine Erscheinung, die den Liebenden die denkbar größte Glücksfülle bescherte. Aber neben der großen Fallhöhe, die ihr zu eigen war, gab es noch eine weitere negative Begleiterscheinung, denn Liebe machte bekanntlich blind. Das hieß, dass sie den Liebenden die Fähigkeit nahm, rationale Erwägungen anzustellen und sie sich ausschließlich von ihrem Emotionen leiten ließ. Bei Paulo traf das voll zu, als er auch wegen der Liebe beinahe seine Schule komplett aus einem Bewusstsein verdrängt hatte und deshalb noch einmal sitzengeblieben war. Die ersten Liebesverhältnisse liefen bei Paulo ab, ohne dass er mit seinen Freundinnen geschlafen hätte. Als er das aber schließlich genießen durfte, bekam die Liebe für ihn plötzlich noch einmal eine ganz neue Qualität. Mit einem Mädchen zu schlafen war das Nonplusultra und konnte durch nichts übertroffen werden. Ein solches Liebesverhältnis zu beenden, bedeutete den Absturz von einer noch größeren Fallhöhe.
Aber auch diese Erfahrung musste Paulo einige Male machen, bis er erst sehr viel später eine Beziehung zu einem Mädchen einging, die Bestand hatte, über Jahre hinweg. Es war im Laufe dieser Beziehung zu beobachten, wie das, was sich am Anfang als bedingungslose Liebe gezeigt hatte, sich immer mehr wandelte zu einem Verhältnis, das belastbar war. Das hieß, dass diese Beziehung nicht zu vergleichen war mit Beziehungen, wie Paulo sie früher zu seinen Freundinnen gehabt hatte. Solche emotionalen Ausnahmesituationen wären auf Dauer auch nicht auszuhalten gewesen. An die Stelle der blinden Liebe war etwas getreten, was man vielleicht vertrauensvolle Beziehung nennen konnte, bei der nicht mehr länger nur die explodierenden Emotionen im Vordergrund standen, sondern rational begründetes Verhalten, das Liebeszuneigung nur noch am Rande zuließ. Aber das war etwas, das Paulo und seine spätere Frau durchaus auch wollten und in Kauf nahmen, denn beide wussten, dass eine reine Liebesbeziehung keinen Bestand haben konnte. Aber auch in dieser Beziehung mit der neuen Qualität gab es Glück, sonst wäre sie auch nicht aufrechterhalten worden, denn es kamen Glückserlebnisse hinzu, an die man vorher gar nicht gedacht hatte, Kinder zum Beispiel, ein Haus, ein Auto etc.
Aber eigentlich waren das alles Elemente, die nicht das wahre Glück ausmachten, weil sich auch das, was Glück bedeutete, geändert hatte, ohne dass man an Gefühlsintensität einbüßte.
Manchmal überschnitten sich auch die Grenzen zur Zufriedenheit, aber was spielte das für eine Rolle, Paulo und seine Frau nahmen den Unterschied kaum wahr. So hatte Paulo viele Beziehungen erlebt, da waren am Anfang während seiner Kindheit Freundschaften zu Gleichaltrigen, die eine wichtige Rolle für ihn gespielt hatten, weil sie ihm halfen, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. In ihnen genoss er seine ersten Glücksgefühle, seine ersten Übertretungen gesellschaftlicher Normen, wenn man einmal an das frühe Rauchen und Trinken denkt. Diese Freundschaften hielten an, bis Paulo Jugendlicher wurde und Beziehungen zu Mädchen aufzubauen begann. Dort lernte er einen solchen emotionalen Überschwang kennen, wie er ihm noch nie zu Bewusstsein gekommen war. Diese Phase wurde abgelöst von erotischen Beziehungen, die noch intensiver waren und er war, wenn sie beendet wurden, beinahe am Boden zerstört. Das war während seiner Studentenzeit, als er ein lockeres Leben führte und verschiedene Verhältnisse geführt hatte, aber bei keinem längere Zeit geblieben war. Er hatte aber Glücksgefühle größten Ausmaßes genossen, entsprechend groß war immer die Niedergeschlagenheit nach Beendigung des jeweiligen Verhältnisses. Die Liebesbeziehung, die am Ende in seine Ehe mündete, stellte sich am Schluss seines Studiums ein und war eine Verbindung, die über Jahre hinweg anhielt.
Wie schon erwähnt, hatte sich diese Beziehung zu etwas völlig eigenem entwickelt, das sich von den anderen Beziehungen, die Paulo eingegangen war, unterschied. Die Frage, die sich am Ende der Betrachtungen zu Freundschaften und Liebe bei Paulo stellt, ist die, ob man beides braucht, um glücklich werden zu können. Sie ist nicht eindeutig zu bejahen, denn das hieß ja, dass jemand, der nie Freundschaft und Liebe erfahren hat, nicht glücklich werden könnte. Ergebnisse der modernen Glücksforschung haben ergeben, dass an erster Stelle der Glücksfaktoren Partnerschaft, an zweiter Freundschaft und an dritter Stelle Kinder stehen. Dennoch meine ich, dass man auch ohne Partnerschaft Freundschaft oder Liebe glücklich werden kann, nur eben auf einer ganz anderen Ebene, die sich vielleicht dem traditionell Glücklichen verschleißt, und da knüpfe ich an den Eremiten an, auf den ich in der Vorbemerkung zu sprechen gekommen bin. Der Eremit ist ein Mensch, der sich abkapselt und soziale Kontakte meidet, und jeder wird sagen, dass ihm damit wichtige Hilfestellungen zum Glücklichsein entgehen. Aber auch der Eremit strebt zum Glück, nur dass er es in anderen Sphären wahrnimmt und auf Wegen zu ihm gelangt, die von anderen nicht gegangen werden können. Ich glaube, dass man auch dem Eremiten zugestehen muss, glücklich werden zu können, nur ist der traditionelle Weg ein anderer, als ihn auch Paulo gegangen war.