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2. Der Untergang von Ax´lûm
ОглавлениеSeemark, 2371 Elveranjahre früher.
„Das Meer! Es zieht sich zurück!“, rief der junge Mann immer wieder, während er aufgeregt über die staubige Straße der kleinen Siedlung an der Küste des Meeres von Ax´lûm rannte.
Er hatte seit dem frühen Morgen am Strand zugebracht und dabei war ihm aufgefallen, wie sich das Wasser gegen die Flut, die zu dieser Tageszeit hätte herrschen müssen, stetig von der Küste entfernt hatte.
Schließlich erreichte der Mann die Hütte des Dorfältesten, der ebenso wie einige andere Bewohner des Dorfes auf die Rufe aufmerksam geworden und vor seine Hütte getreten war.
„Was schreist du denn so?“, fragte der Alte verwundert und ein wenig ärgerlich. „Du machst ja das ganze Dorf närrisch.“
„Das Meer! Es geht zurück. Es verschwindet. Ich war unten am Strand und habe meine Netze geflickt. Plötzlich sah ich, wie er immer breiter wurde. Die ersten Muschelbänke liegen schon frei.“
„Knurrhahn, ich frage mich, ob du heute nicht schon ein wenig zu früh angefangen hast zu trinken“, entgegnete der Alte, der dem Fischer kein Wort glaubte.
„Aber, Nestan, es ist, wie ich sage“, beharrte der Junge fast flehentlich und verzweifelt. „Ich habe nichts getrunken. Schau es dir selbst an. Irgendetwas geschieht dort draußen.“
Knurrhahn war, wie viele andere in dieser Siedlung, Fischer. Er stand in dem Ruf, ein umso größerer Aufschneider zu werden, je mehr er getrunken hatte. Wenn diese Ereignisse sich auch in ferner Vergangenheit, lange vor dem Dasein von Meneas, zutrugen, so war den Einwohnern dieser Siedlung die Herstellung von Wein doch bereits bekannt. Wahrscheinlich war auch einem von ihnen einmal das Missgeschick passiert, dass sich Obstsaft auf geheimnisvolle Art verändert hatte mit unerwarteten Folgen für denjenigen, der ihn dann trotzdem noch getrunken hatte. Gewitzte Leute mochten dann versucht haben herauszufinden, was mit dem Saft geschehen war und schließlich hatten sie, ohne genau zu wissen, was dabei wirklich vor sich ging, die Weinherstellung erfunden. Sehr zur Freude mancher ihrer Zeitgenossen.
Wegen seiner Trinkfreudigkeit hatte Knurrhahn auch nur wenige Freunde im Ort. Nestan, der Dorfälteste, gehörte nicht dazu. Knurrhahn war nicht sein wirklicher Name, doch seit seiner Kindheit wurde er allseits so genannt und mittlerweile hätte niemand mehr erklären können, warum das so war.
„Also gut“, meinte Nestan mürrisch. „Schauen wir es uns an. Wenn du dir aber wieder einmal etwas zusammengesponnen hast, dann fegst du für ein Jahr den Dorfplatz.“
Er hasste es, aus seiner Mittagsruhe gerissen zu werden, besonders dann, wenn es wegen solcher Leute wie Knurrhahn war.
Etwas mühsam nahm Nestan seinen Gehstock zur Hand und machte sich auf zum Strand. Glücklich und wie ein Hund neben seinem Herrn ging Knurrhahn an seiner Seite. Andere, die den heranstürmenden Fischer gesehen hatten und bis zur Hütte des Dorfältesten gefolgt waren, schlossen sich den beiden an.
Die Siedlung der sich selbst als Seemenschen bezeichnenden Bewohner, in der Nestan und Knurrhahn lebten, war die einzige ihrer Art in der Seemark. In diesem Landstrich im östlichen Teil des Kontinentes Päridon existierten zu dieser Zeit zwar auch und schon länger, als diese Siedlung bestand, noch andere Lebensgemeinschaften von Menschen, doch die befanden sich auf einem deutlich niedrigeren Entwicklungsstand als die Seemenschen. Es waren hellbraunhäutige, kleinwüchsige Ureinwohner, Eingeborene Päridons, die erst am Anfang ihrer gesellschaftlichen Entwicklung standen. Sie lebten in losen Sippenverbänden und ohne feste Behausungen zumeist unter freiem Himmel, wenn sie nicht die natürlichen Schutzmöglichkeiten wie Felshöhlen nutzten. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie aus der Jagd, dem Fischfang in Binnengewässern, denn vor dem Meer scheuten sie zurück, und durch Sammeln dessen, was ihnen die Natur an Nahrung bot. Diese Eingeborenen hatten erst eine sehr einfache, für die hellvioletthäutigen Seemenschen kaum verständliche Sprache entwickelt.
So, wie die Eingeborenen Furcht vor dem Meer empfanden, obwohl sie an windstillen Tagen und bei abgelaufenem Wasser schon einmal wagten, Strandgut, das sie für sich nutzen konnten, einzusammeln, so waren ihnen auch die Seemenschen unheimlich, von denen sie um mehr als Kopfeslänge überragt wurden. Nur dann und wann kam einmal ein Jäger der Ureinwohner in die Nähe des Dorfes, um dann aber schnell wieder zu verschwinden. Daher begegneten sich diese verschiedenen Menschen nur selten.
Die Seemenschen hatten wohl festgestellt, dass sie anders waren als die übrigen Einwohner der Seemark, ohne auch nur eine blasse Ahnung davon zu haben, was der Grund dafür war. Da sie aber keine Erinnerung an ihren Ursprung besaßen, und genauso wenig ein ausgeprägtes Bewusstsein für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entwickelt hatten, war es ihnen fremd, sich über solche Dinge Gedanken zu machen. So wussten sie auch nichts davon, dass über ihrer Existenz ein erschütterndes Geheimnis lag. Und die Einwohner der Seesiedlung würden auch niemals die Möglichkeit bekommen, Näheres über ihr unglaubliches Schicksal zu erfahren, das sie in die Seemark verschlagen hatte.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Worte Knurrhahns im Dorf wie ein Lauffeuer verbreiteten und immer mehr Einwohner kamen hinzu. Noch ehe der Zug den Strand erreichte, sahen sie den weiten, in der Mittagssonne vor Pfützen glitzernden Meeresboden und den dunklen Saum der Muschelbänke. Einige Bewohner des Dorfes waren bereits dort und standen aufgeregt schwatzend auf den Dünen. Solange sie sich zurückerinnern konnten, war so etwas noch nicht geschehen. Sicher, Ebbe und Flut waren bekannt, wenn auch nicht ihre Ursachen, aber jeder wusste, dass jetzt die Zeit des Hochwassers war. Außerdem wehte der Wind von der See her und hätte das Wasser nicht aufs Meer hinaustreiben können.
„Was geht hier vor?“, fragte Nestan mit leiser, beinahe ehrfürchtiger Stimme. Er erwartete allerdings keine Antwort.
Langsam ging er zum Strand hinunter und blieb dort, wo zu dieser Zeit die Wasserlinie hätte sein müssen, stehen. Die anderen Leute hatten sich hinter ihm versammelt. Nur Knurrhahn stand stolz neben dem Alten.
„Na, was habe ich euch gesagt“, meinte er triumphierend. „Das Meer ist weg.“
Nestan sah ihn nicht an. Sein Blick war auf den Horizont gerichtet. Er war ebenfalls Fischer gewesen und seine Augen, deren Sehkraft im Alter nicht schwächer geworden war, waren an die Ferne gewöhnt. Nestan sah, dass sich das Meer fast bis zum Horizont zurückgezogen hatte und mit ihm zu verschmelzen schien. Er konnte aber nicht erkennen, ob es sich immer noch fortbewegte. Nestan wusste, die Leute hinter ihm erhofften sich eine Antwort auf die Frage nach der Ursache dieser Erscheinung, doch er musste zugeben, dass er genauso hilflos war wie sie. Plötzlich sah er etwas, was der Grund sein konnte, und wenn er es richtig deutete, bestand Veranlassung zu großer Sorge.
Wenn sich blasse Schatten vor einen hellen Hintergrund befinden, dann dauert es manchmal einige Zeit, bis die Augen sie erkennen, besonders, wenn diese Schatten weit entfernt sind. Das war bei Nestan jetzt der Fall. Während er seinen Blick über den Horizont schweifen ließ, traten zwei Dinge immer deutlicher zum Vorschein: eine fahle, aufsteigende Wolke, die langsam in den Himmel wuchs und dabei dunkler wurde, und nicht weit davon entfernt ein scheinbar dünner, leicht gebogener Schlauch, der sich von der vermuteten Meeresoberfläche ebenfalls in den Himmel erhob und in einer zweiten, weitspannenden Wolke einmündete.
Mit der ersten Erscheinung wusste der Alte nichts anzufangen. Kein Unwetter, woran er sich erinnern konnte, hatte jemals so ausgesehen. Und von Vulkanausbrüchen hatte er sein Leben lang nichts gehört, geschweige denn, jemals einen gesehen. Außerdem wusste niemand in dem Dorf, dass es jenseits des Meeres überhaupt Land gab, denn keines ihrer Boote war für so weite Fahrten geeignet. Den Schlauch jedoch konnte er deuten. So etwas hatten viele von schon einmal erlebt, auch wenn dieses Ereignis sehr lange zurücklag. Und wenn die Leute nicht so aufgeregt geredet hätten und so unaufmerksam gewesen wären, sondern wie Nestan das Meer beobachtet hätten, dann wäre es auch ihnen aufgefallen. Vor ihnen auf dem fernen Meer tobte der gewaltigste Wirbelsturm, den er je gesehen hatte.
Nestan wusste, dass sich unter Wirbelstürmen dieser Art die Meeresoberfläche anhob, wenn er auch keine Vorstellung hatte, warum das so war. Er wusste auch, dass das Wasser bald wieder zurückkommen würde, wenn sich der Sturm aufgelöst hatte. Und bei dieser ungewöhnlichen Entfernung musste es mit einer gewaltigen Flutwelle geschehen. Dass die Rauchwolke ein Hinweis auf eine mögliche Ursache einer viel größeren Flutwelle war, konnte er nicht einmal ahnen.
Plötzlich verstummten die Gespräche hinter Nestan und die ersten Arme zeigten auf den Horizont. Also war es jetzt auch anderen aufgefallen. Der Dorfälteste drehte sich zu ihnen um.
„Es ist ein Sturm“, sagte er.
Zu der zweiten Wolke schwieg er, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Er wusste noch nicht einmal, ob der Sturm etwas mit dieser Wolke zu tun hatte. Nestan versuchte, seiner Stimme einen festen und ruhigen Klang zu geben, denn was er jetzt ankündigen musste, bedurfte der Ruhe und Ordnung.
„Der Sturm hat das Wasser an sich gezogen“, erklärte er. „Es wird wiederkommen und eine große Flut mit sich bringen. Unser Dorf liegt zu nah am Strand. Dort sind wir nicht sicher. Wir müssen in die Hügel vor dem Wald fliehen. Packt eure Sachen. Wenn wir diese Gegend ruhig und sofort verlassen, dann haben wir genug Zeit.“
Nestan wusste zwar nicht, wann der Sturm das Wasser wieder freilassen würde, aber er war sicher, dass er mit seiner Behauptung Recht behalten würde.
Noch ehe er seine Worte beendet hatte, geschah genau das, was er vermeiden wollte. Von Angst gepackt, begannen die Ersten zu ihren Hütten zu rennen. Nestan machte keine Anstalten, die Leute zurückzuhalten. Es wäre sinnlos gewesen. Schweigend beobachtete er ihre Flucht und schüttelte nur mit dem Kopf.
Nestan hatte keine Angst. Er war alt, sogar sehr alt für einen Menschen seiner Zeit. Fast einhundert Jahre hatte er auf Elveran gelebt, wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte, und er hatte die Aussicht, seinen einhundertsten Geburtstag im kommenden Jahr zu feiern. Doch er wusste, viele Jahre würden ihm danach nicht mehr bleiben. Schon als Fischer, und obwohl er stets gehofft hatte, er würde ihn nicht zu früh ereilen, hielt er den Tod im Wasser für den würdigsten für einen Menschen des Meeres, die sie alle waren. Jetzt bestand die Aussicht, dass dieser Zeitpunkt nicht mehr allzu fern war.
Knurrhahn stand immer noch neben ihm und blickte traurig aufs mehr Meer hinaus.
„Was ist?“, fragte der Alte. „Willst du dich nicht in Sicherheit bringen?“
Der junge Mann sah ihn an und Nestan erkannte eine Träne in seinen Augen.
„Soll ich das alles hier im Stich lassen?“, fragte er und zeigte auf seine beiden Boote, sein ganzer Stolz, und auf die Netze.
Nestan hatte sich oft über Knurrhahn geärgert und ihn auch nicht immer freundlich behandelt, doch in diesem Augenblick fühlte er eine gewisse Zuneigung zu ihm und Mitleid. Und zum ersten Mal bedauerte er, wie Knurrhahn oft darunter gelitten hatte, wenn die anderen Bewohner ihn wegen seiner geistigen Schwerfälligkeit verspotteten. Väterlich legte er ihm eine Hand auf die Schulter und sagte:
„Glaube mir, ich verstehe dich. Mir würde es an deiner Stelle kaum anders ergehen. Aber bedenke, wenn du am Leben bleibst, wirst du dir alles wieder neu erschaffen können. Bleibst du jedoch in Sorge um deinen Besitz hier, wirst du sterben und weder deine Boote noch die Netze werden dir an dem Ort, wo du hingehst, von Nutzen sein.“
Knurrhahn blickte auf die Erde und dachte nach.
„Ja, du hast Recht“, gab er nach kurzer Zeit zu und ging langsam ins Dorf.
Der Alte folgte mit unsicheren Schritten.
Während die meisten Einwohner der Siedlung ihre Habseligkeiten zusammenrafften, einige weigerten sich, ihr Dorf zu verlassen, weil sie nicht glaubten, dass die erwartete Flutwelle wirklich so stark werden würde, wie Nestan behauptet hatte, oder weil sie in ihren Häusern sterben wollten, wenn sie schon sterben mussten, geschah wieder etwas Unerwartetes und Bedrohliches. Obwohl der Sturm für sie weit weg war, erreichten sie die Vorboten des Unterganges.
Plötzlich begann die Erde sich unter ihren Füßen zu bewegen und ein dumpfes Grollen erfüllte die Luft. Heftige Stöße und ein mächtiges Schütteln durchfuhren den Untergrund und ließen alles schwanken. Das Unheil schien von überall her auf sie einzustürzen, denn es kam aus keiner bestimmten Richtung. Einige Dorfbewohner wurden sofort zu Boden gerissen, andere konnten sich gerade noch an verschiedenen Gegenständen festhalten, bis auch diese Stützen zusammenbrachen. Das Erdbeben sorgte dafür, dass jetzt endgültig Angst und Schrecken ausbrachen, die in einer heillosen Flucht mündeten.
Einige Hütten, nur leicht aus Holz und Schilf gebaut, fielen in sich zusammen und begruben unter sich, wer sich nicht schnell genug nach draußen retten konnte. Bald loderten die ersten Feuer auf und setzten weitere Hütten in Brand.
Das erste Beben war kaum abgeklungen, als das nächste folgte. Nestan, der langsamer war als die anderen Einwohner des Dorfes, stürzte auf dem Weg vor seinem Haus. Dabei fiel er so unglücklich, dass er sich ein Bein brach. In dem aufgekommenen Durcheinander, dem Geschrei und dem Hin- und Herhasten, fand sich jedoch niemand, der ihm helfen wollte oder konnte. Unter Schmerzen und einer großen Kraftanstrengung gelang es ihm, die Trümmer seiner Hütte zu erreichen.
Sie hatte kein Feuer gefangen, dennoch war sie in einem Zustand, der es ihm nicht mehr ermöglichte, in sie hineinzugelangen. Er schleppte sich an einen Platz, wo er seine letzten Stunden, und daran zweifelte er jetzt nicht mehr, hoffentlich so bequem wie möglich verbringen konnte.
Ein Beinbruch wäre kein Todesurteil gewesen, wenn die Verletzung schnell hätte versorgt werden können. Doch die Umstände ließen das nicht mehr zu und er selbst war kein Heiler. Daher wusste Nestan, dass er in diesem Leben an keinen anderen weltlichen Ort mehr gelangen würde. Trotz seiner kläglichen Lage war er jedoch nicht nur nicht verzweifelt, sondern sogar von einer überraschenden Gelassenheit erfüllt und, wie er verwundert feststellte, von einer gewissen Heiterkeit. Plötzlich spürte er die ganze Belanglosigkeit des irdischen Daseins. Es war ein Gedanke, der ihn seltsamerweise erst in der Stunde seines nahen Todes erfüllte.
So schnell, wie Nestan erwartet hatte, ging es dann aber doch nicht. Der Dorfälteste - jetzt ohne Dorf - beobachtete, wie die letzten Einwohner Hals über Kopf flohen. Seltsam, dachte er, wie schnell sie doch all ihre Vernunft und Überlegung verloren haben.
Viele der Hütten brannten und der Geruch, der im Rauch lag, ließ vermuten, dass sich nicht alle retten konnten und in ihren Behausungen umgekommen waren. Nestan schien der letzte lebende Mensch in der Siedlung zu sein. Bedauernd dachte er an seine Familie und Freunde, die, wenn sie nicht auf der Flucht waren, vielleicht tot unter Trümmern lagen. Und verbittert fragte er sich, warum ihm niemand geholfen hatte. War die Angst tatsächlich so groß, dass jeder nur noch an seine eigene Rettung dachte?
Verwirrte Haustiere, Hunde, Katzen, Hühner, Schafe und was es noch alles so gab, irrten zwischen den ehemaligen Gebäuden umher. Ihr Angstgeschrei erfüllte die Luft. Sie waren alles, was Nestan noch als Gesellschaft geblieben war. Sie verhieß jedoch nur wenig Trost.
Schließlich wurde es Abend und nur noch die zusammengefallenen Ruinen und die schwelenden Gluthaufen der ehemaligen Behausungen lagen verstreut vor Nestan. Seine eigene hatte am Rand eines Hügels gestanden. Von hier konnte er nicht nur die traurigen Überreste des Dorfes betrachten, sondern jetzt, wo die meisten Hütten in Trümmern lagen, auch bis zum Meer blicken. Das Wasser war immer noch nicht zurückgekehrt.
In der Dämmerung bot sich ihm am Horizont eine Erscheinung, die allen tagsüber verborgen geblieben war. Der Himmel in der Ferne war dort, wo Nestan in der Mittagszeit die geheimnisvollen Wolken aufgefallen waren, in ein trübes Rot getaucht. Er sah flackernde und beunruhigende Lichtspiele, und ein Teil der rätselhaften Wolken schien erleuchtet. Nestan beobachtete das Schauspiel gleichzeitig mit Schaudern und Faszination. Er war davon so beeindruckt, dass er für eine Weile sogar die Schmerzen in seinem Bein vergaß.
Später in der Nacht sah er einen gewaltigen Feuerausbruch, bei dem der Horizont in einem Glutball zerrissen zu werden schien. Eine lodernde Flammensäule stieg in den Himmel, wuchs an und verblasste wieder. Eine weitere folgte. Alles geschah vollkommen lautlos und schob jeden Gedanken Nestans an den Wirbelsturm, der draußen auf dem Meer immer noch mit mörderischer Gewalt, aber unsichtbar in der Dunkelheit, tobte, beiseite.
Das Inferno am Horizont ließ seine Bewunderung für diesen Anblick jäh ersterben und machte blankem Entsetzen Platz. War das der Beginn des Weltunterganges? Hatten sich schließlich die Götter gegen die Menschen und alle anderen Kreaturen dieser Welt gewandt?
Nestan war sicher, dass in Kürze das Ende über sie kommen musste, doch außer, dass auch der zweite Feuerball erlosch, geschah wieder nichts. Aber lange konnte das endgültige Unheil nicht mehr auf sich warten lassen. Trotz seiner verzweifelten Lage hielt sich sein Interesse an dem Geschehen immer noch wach und zu gern hätte er gewusst, was sich dort hinten wirklich abspielte und was der Grund dafür war.
Nach einiger Zeit riss ihn ein erneutes Erdbeben aus seinen Gedanken. Es warf ihn auf dem Erdboden hin- und her und der Schmerz in seinem Bein drohte Nestan für einen kurzen Augenblick bewusstlos zu machen. Ehe er jedoch in eine wohltuende Ohnmacht fallen konnte, war das Beben wieder vorbei. Und das Donnergrollen, das es begleitet hatte, war ihm in seiner Qual entgangen. Nestan war überzeugt gewesen, das letzte Beben würde ihn umbringen, aber noch immer war es ihm nicht vergönnt zu sterben.
Nachdem auch dieses Erdbeben vorübergegangen war, blieb es den Rest der Nacht ruhig. Selbst der Wind vom Meer legte sich allmählich, und bald zogen die letzten Rauchschwaden nur noch langsam und träge über die heruntergebrannten Hütten des ehemaligen Dorfes. Nestan fiel in einen unruhigen Schlaf.
Der Morgen wartete mit einem weiteren gewaltigen Schauspiel auf ihn, und das sollte das Letzte in seinem damaligen Leben werden - und das Ende der Seemark.
Nestan erwachte mit einem Hustenanfall. Eine Rauchfahne war über ihn und die Reste seiner Hütte hinweggezogen. Sie war tatsächlich eine der wenigen, die nicht in Flammen aufgegangen waren, weil er am vorherigen Tag kein Verlangen nach einer warmen Mahlzeit gehabt hatte und seine Feuerstelle kalt geblieben war. Aber das konnte sie schließlich auch nicht retten, denn stattdessen war sie den Erdbeben zum Opfer gefallen.
Mühsam schlug Nestan seine Augen auf. Er fühlte sich elend. Er hatte Schmerzen, wurde von Durst gequält und er sehnte sich nach dem erlösenden Zeitpunkt seines Todes. Nach allem, was er durchgestanden hatte, war er trotzdem noch in der Lage, sich zu wundern, dass sich das Leben so hartnäckig an seinen Körper klammerte. Erstaunlich, wie viel man doch aushalten kann, dachte er und lächelte bitter. Das war kein Geschenk des Schicksals. Inzwischen hatte sich seine Verfassung aber in einem Maße verschlechtert, dass er sich darüber keine Gedanken mehr machte, ob das einen tieferen Sinn haben konnte.
Die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten und ließ einen weiten Blick über das Land zu - und über das Meer. Er riss entsetzt seine Augen auf. Plötzlich war er wieder hellwach. Was sich da näherte, war nichts anderes als das, wovor er die Dorfbewohner gewarnt hatte, doch noch gewaltiger, als er es sich ausmalen konnte. Zuerst undeutlich, dann immer klarer erkannte er die Flutwelle, die auf die Küste zurollte. Sie war noch gewaltiger, als er es sich vorgestellt hatte. Nestan besaß nicht mehr die Kraft, die alles erfüllende Stille zu bemerken. Selbst das Haus- und Hofgetier hatte die Gefahr gespürt und war über Nacht geflohen. Nestan war das letzte lebende Wesen an diesem Ort.
Es war gespenstisch, wie die Welle lautlos und immer höher anwachsend auf die Küste zurollte. Der Alte hatte schon einige Flutwellen im Laufe seines langen Lebens gesehen, aber diese hier übertraf alle anderen bei weitem. Es konnte nicht mehr lange dauern, und sie würde das Land erreichen und alles, was es dort gab, verschlingen.
Dann war sie heran. Zuerst mit einem schwachen Rauschen, das bald zu einem wilden Tosen und Brausen anwuchs. Nestan hatte Angst gehabt. Im Angesicht dieser Todeswelle hatte er die erbärmlichste Angst seines langen Lebens gespürt. Doch als das Wasser die Reste des Dorfes erreichte, war diese Angst schlagartig verschwunden. Fast im gleichen Augenblick wurde er hochgehoben und weggerissen. Ein mörderischer Schmerz durchfuhr sein verletztes Bein, dann umgab ihn eine kalte, nasse und trübe Welt. Unwillkürlich stockte seine Atmung. Nestan hörte das Gurgeln und Rauschen des Unterganges in seinen Ohren und erlebte noch, wie er sich drehte und überschlug. Mit einem dumpfen Stoß traf ihn ein Stück Holz am Kopf und endlich versank er in eine gnädige Bewusstlosigkeit. Dass er kurz darauf ertrank, bemerkte er nicht mehr. Erst von seinem Körper befreit, erfüllte seinen Geist das dankbare Gefühl, ihn so verlassen zu haben, wie er es sich immer gewünscht hatte - im Wasser.
Die Flutwelle hatte die Ausmaße eines Weltunterganges. Sie zerstörte den ganzen Landstrich von der Küste bis dorthin, wo sich auf den Sandflächen der Geest allmählich der Fenharenwald auszubreiten begann, und das Meer drang sogar noch ein Stück in den Wald hinein.
Die überlebenden Einwohner des Dorfes waren nicht so weit geflohen, wie ihr Dorfältester es ihnen geraten hatte. Trotz ihrer Angst, ihres Schreckens und ihrer Verzweiflung über das so unvermittelt über sie hereinbrechende Schicksal, waren sie nur bis zum übernächsten Hügel gekommen, in der Hoffnung, doch noch etwas aus ihrem Dorf retten zu können, wenn der neue Tag anbrach. Ohne Ausnahme wurden sie nur kurz nach Nestan Opfer der hereinstürzenden Wassermassen. Bei all der übermächtigen Wucht dieses Naturereignisses hätte jedoch auch die Befolgung des Rates ihres Dorfältesten keinen von den Bewohnern mehr retten können.
Die Siedlung von Nestan und Knurrhahn war nicht die einzige, die an diesem Tag vom Meer für immer ausgelöscht wurde. Die gesamte Seemark wurde allen Lebens beraubt.
Als das Wasser nach einigen Tagen abgelaufen war, waren fast alle Spuren einer früheren Besiedlung der Seemark getilgt. Was nicht ins Meer fortgerissen worden war, lag im Schlamm begraben. Siedlungen, Bewohner, Tiere, Felder und ein Teil der Wälder - alles war vernichtet.
Die Sonne schien unbeeindruckt von einem strahlendblauen Himmel auf eine von zahlreichen kleinen und großen Seen bedeckte, neu entstandene Landschaft. Der Wind wehte warm und leicht von dem ruhig daliegenden Meer - und das brachte neue Siedler.