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Internationale Zeit: Fahrplanmässig Reisen, fahrplanmässig warten

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Das Eisenbahnreisen erfordert eine weitere neue Sichtweise, nämlich diejenige der Uhrzeit: Züge verkehren sinnvollerweise nach Fahrplan. Den Blick auf die Uhrzeit hat bereits die rund vier Jahrzehnte vor der Eisenbahn eingeführte Fabrikarbeit erfordert. Die Fabrikzeit diente der Arbeitsdisziplinierung und der Arbeitsorganisation in der Fabrik; dafür genügt die Lokalzeit. Mit der Eisenbahn hält eine neue Form der Zeitwahrnehmung Einzug: der Kult der Pünktlichkeit muss sich grossräumig durchsetzen, denn entlang einer Strecke ist nun eine Einheitszeit notwendig. Die Eisenbahn weitete die lokale zeitliche Disziplin der Industrie zur überregional zu koordinierenden Zeit aus, auch wenn vorerst verschiedene Privatbahnen unterschiedliche Privatzeiten beibehalten. Erste Ansätze zur Zeitvereinheitlichung setzten sich in den 1840er-Jahren in England durch. Und in der Schweiz beginnt mit der Bundesstaatsgründung ab 1848 im europäischen Rahmen eine frühe, grossräumige Zeitvereinheitlichung. Im Jura blüht die Uhrenexportindustrie; Schweizer Uhren werden ein Symbol nationaler Identität, ergänzt durch ein protestantisches Ethos, das Arbeitseifer mit Pflichttreue und Zeitdisziplin gleichsetzt: Zeit ist Geld. Als verbindliche Schweizerzeit gilt die Zeit der Sternwarte Bern, welche ihre Zeitmessung telegrafisch zu übermitteln beginnt. 1859 erhält die Hauptstadt des Uhrenkantons Neuenburg eine neue Sternwarte, die ihre Messung mit der internationalen Telegrafenzeit abstimmt und nach Bern übermittelt.

Immer noch bleibt aber das Problem der unterschiedlichen Zeitzonen ungelöst, das Albert Riggenbach anschaulich so schildert: «Fahren wir mit einem Kourierzug, der 60 Kilometer die Stunde durcheilt und alle Stunden ein Mal anhält, genau ostwärts, so müssen wir an jeder Station unsere Taschenuhr um drei Minuten vorstellen.»84 1883 löst Washington an einer Konferenz das Problem für Amerika mit dem Stundenzonenkonzept, das auf der Londoner Greenwich-Zeit aufbaut. Ein Jahr später schliesst sich Europa mit der Westeuropäischen und der Mitteleuropäischen Zeit der Standardzonenzeit an. Bei diesem letzten Integrationsschritt ist dann allerdings die Schweiz nicht mehr führend. Genf hat seit 1848 mit der eigenen Sternwarte eine Lokalzeit beibehalten, und die Berner Zeit weicht sowohl von der mitteleuropäischen als auch von westeuropäischen Zeit um eine halbe Stunde ab, da der Zeitzonen-Meridian die Schweiz teilt. Nach heftigen Debatten um das «Zeitdiktat aus der Deutschschweiz»85 schliesst sich die Schweiz – «nur um es den Eisenbahnverwaltungen noch bequemer zu machen»86 – auf den 1. Juni 1894 der mitteleuropäischen Zeit an. Damit hat der internationale Verkehr auch die Schweiz endgültig zur Internationalisierung der Zeit gezwungen.

Die Anpassung an die internationale Zeit beschränkt sich aber nicht auf das Vorstellen des Uhrzeigers. Die Zeitvereinheitlichung ist grundsätzlich mit einem tiefgreifenden Wandel des Zeitempfindens verbunden, was eine Schrift zur Zeit der Zeitauseinandersetzung im Jahre 1893 unter dem Titel «Über die wachsende Nervosität unserer Zeit» anprangert: «Durch den ins Ungemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert; alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für die Geschäfte benutzt, selbst die ‹Erholungsreisen› werden zu Strapazen für das Nervensystem; grosse politische, industrielle Krisen tragen ihre Aufregung in viel weitere Bevölkerungskreise als früher.»87 Doch solche Klagen über den Verlust der Beschaulichkeit gehen in einer allgemeinen Fortschrittseuphorie unter. Ein Glaube, der Fortschritt mit automatischen, evolutionären Verbesserungen durch Fortschreiten der Zeit gleichsetzt, wird auch ohne besonderes Bekenntnis zur Lebenseinstellung. Diese huldigt der Illusion, dass man durch immer höhere Geschwindigkeiten immer mehr Zeit gewinne. Inzwischen haben wir dank umfassender Beschleunigung so viel Zeit gewonnen, dass wir für nichts mehr Zeit haben.

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