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Rentabilität im Dschungel der Tarife
ОглавлениеEs ist das grundlegende Interesse der Bahn, immer mehr immer schneller zu transportieren. Nur so kann sie mit den bislang dargestellten Rahmenbedingungen wirtschaften: Beeinflussung durch die Politik, Verzinsung des Kapitals, Amortisierung der gewaltigen Bausummen, Verbrauch von Energie, Einrichtung von Sicherheitssystemen, Abnutzung und Überalterung des Rollmaterials und Besoldung des Personals. Den Schweizer Bahnen gelingt es, die Anzahl Züge pro Kilometer auf ihren Netzen von 1860 bis 1900 zu verdreifachen. Die Geschwindigkeit der Züge steigt inklusive Zwischenhalte je nach Strecke, Anhängelast und Triebfahrzeug von durchschnittlich 24,7 auf 55,3 Stundenkilometer. Nach der Jahrhundertwende verkehren pro Kilometer Bahnlinie jährlich zwischen 2000 und 38000 Züge – die höchste Zahl betrifft die Strassenbahn Genf—Veyrier.89 Den Rekord im Gütertransport weist die Gotthardbahn mit jährlich 500000 Tonnen pro Kilometer auf. Gute Streckenbelegungen ermöglichen die raschere Amortisation der Bauinvestitionen. Wirtschaftlich entscheidend sind schliesslich die Fahrkarten- und die Frachteinnahmen – und die Subventionen, schon im 19. Jahrhundert.
Edmondson-Billettkasten mit 56 Nachschubfächern für kleine Stationen, gefüllt mit einem breiten Sortiment von schweizerischen und ausländischen Fahrkarten 1950–2018.
Slg. H. P. Bärtschi.
Konkurse und mit Steuergeldern gerettete Privatbahnen, Katastrophen wegen mangelhafter Sicherheit der Bauten und des Rollmaterials und vor allem die zwischen den Privatbahnen entstehenden Transportschranken bedingen eine zunehmende Reglementierung des Bahnbetriebs. Hat der Bundesrat 1852 den Bau und das Betreiben von Eisenbahnen der Privatwirtschaft überlassen, so versucht er ab 1872 vor allem zu Gunsten der Industrie und der Landwirtschaft über Konzessionen und Tarifgrundlagen chaotische Verkehrszustände zu verhindern: Das eidgenössische Post- und Eisenbahndepartement legt Betriebspflichten und Tarifsysteme fest. Militärtransporte und der Schienenpostverkehr werden vom Bund entschädigt. Tarifgrundlagen gibt es für den Personen- und Gepäckverkehr, Generalabonnemente sollen den Berufsverkehr und das Umsteigen von einer Privatbahn auf die andere erleichtern. Denn die Privatbahnkonkurrenz hat zu schwierigen Situationen geführt, die zum Beispiel die Fahrgäste einer Trambahn vor dem Kreuzen mit einer Hauptbahn zum Aussteigen und danach zum Wiedereinsteigen zwingen, denn die kleine Konkurrenzbahn darf die grosse Bahn nicht mit Passagieren kreuzen. Im Güterverkehr hat die Nordostbahn mit juristischen Tricks die Übernahme von Wagen der konkurrierenden Nationalbahn verhindert und diese zum Aus- und Umladen auf Nordostbahn-Wagen gezwungen. Erste Versuche der Privatbahnen, mindestens den direkten durchgehenden Güterverkehr zu regeln, gehen auf die Jahre 1860 bis 1862 zurück. Vorbilder sind die deutschen und die französischen Bahnen. Mit der Zunahme des Transitverkehrs wird eine Vereinheitlichung der Tarife immer dringlicher. Vor allem die grossen Transitbahnen, die Centralbahn und die Gotthardbahn, drängen darauf.
Der Güterverkehr ist in den ersten 120 Jahren der Schweizer Bahnen der dominierende Verkehr. Die Bahnen erlangen dabei – sei es regional, sei es im Transit – weitgehende Monopole. Der Güterverkehr generiert die grössten Einnahmen und benötigt, wie im Kapitel Rollmaterial dargestellt, die weitaus meisten Wagen. Industrie und Gewerbe haben ein existentielles Interesse, dass der Bahngüterverkehr reibungslos und günstig abgewickelt wird. Dabei ist ein Gerangel der verschiedenen Güterverkehrsteilnehmer nicht zu verhindern. Die frühen Bahnen befördern Güter in Stückformen, die von Hand bewegt werden und vorerst im Packwagen von Personenzügen. An der Grenze zu einer anderen Privatbahn müssen sie «oft eine wenig schonliche Umladung über sich ergehen lassen, ehe sie ihr Ziel erreichen».90 Um 1860 führen einzelne Privatbahnen Güterkurswagen ein, bei denen das Umladen entfällt. Das ist auch die Zeit der Einführung spezieller Güterzüge und der entsprechenden Infrastruktur: Güter müssen angenommen, ein- und ausgeladen und ausgeliefert werden. Im ersten Jahrhundert der Schweizer Bahnen wichtig ist die Beförderung von lebenden Tieren mit Einhaltung der veterinärpolizeilichen Vorschriften. Es entstehen die Hauptgattungen Stückgüterverkehr und Wagenladungsverkehr: Für grössere Sendungen können ganze Wagen genutzt werden. Kleinere werden in den Güterstationen aus- und umgeladen. Zu diesem Zweck entsteht eine umfangreiche Infrastruktur. Sie schafft auf Bahnstationen Gütergleise und umfasst auf dem Höhepunkt landesweit 1918 Güterbahnhöfe. In kleineren Stationen sind die Güterbahnschuppen mit den Personenaufnahmegebäuden zusammengebaut, manchmal sind auch Billettschalter in den Güterschuppen untergebracht. Problematisch bleibt zur Privatbahnzeit das Rangieren. Die Wagen sind nicht nach Zielen geordnet; somit muss in den Übergabestationen zu anderen Bahnen die Übernahmebahn umfangreiche Rangierarbeiten vornehmen. Ab 1875 entstehen erste Rangierbahnhöfe mit Einfahrts- und Abfahrtsgruppen und erste Ablaufberge. Diese ermöglichen das Hochziehen gemischter Züge, die dann wagenweise hinuntergelassen werden und per Weichenstellung in die richtigen Abfahrtsgleise rollen. Dort setzt ein Rangierarbeiter einen Hemmschuh auf die Schiene, damit der Wagen nicht auf den zusammenzustellenden Zug auffährt.
In den Übergabebahnhöfen müssen die Wagen rangiert werden. Auch 150 Jahre nach der allgemeinen Einführung der Schraubenkupplung verbinden und trennen die Rangierer die Wagen auf die altherkömmliche, gefährliche Art zwischen den Puffern.
Fotodienst SBB/VHS 1997.
Mit der Zunahme des industriellen Güterverkehrs erstellen die grossen Betriebe Anschlussgleise und kaufen sich firmeneigene Privatwagen, die vom Sende- zum Empfangsort in die Güterzüge eingereiht werden. Für die Belieferungen der Domizile mit Stückgütern stellen die Bahnen Verträge mit Pferdefuhrhaltern aus. Die Güterarbeiter organisieren die ganze Transportkette im «inneren Güterdienst» über Frachtbriefe. Anstelle eines Computers verfügen sie noch über ein grosses Hirn. Denn es gibt unzählige Kombinationsmöglichkeiten, die sich von Bahn zu Bahn unterscheiden können und pro Doppelzentner Transportgut verschiedene Tarife haben. Als teuerste Bahn verlangt die Nordostbahn 10 Rappen pro Wegstunde zu 4,8 Kilometer. Andere Bahnen haben Einkilometertarife. Im Stückgut- und im Wagenladungsverkehr gibt es Eilgutmöglichkeiten und verschiedene Klassen von Gütern. Eine schweizerische Eisenbahnkonferenz von 1878 bewirkt bis 1886 eine gewisse Vereinheitlichung. Nun kommen aber zunehmend Expeditionsgebühren und Wirtschaftslenkungs-Tarifabstufungen dazu. Sehr begünstigt sind der Transport von Kohle, Salz und Zuckerrüben, etwas weniger derjenige von Brot, Butter, Milch, Käse oder Getreide. Calciumkarbonat muss, soll es günstig transportiert werden, schweizerischen Ursprungs sein. Industrie- und Baustoffe wie Steine, Kalk und Gips, Erze und verarbeitete Metalle oder Holz und Papier liegen im mittleren Preissegment. Vergängliche Güter wie Bier müssen als Eilgut befördert werden; um die höchsten Tarife umgehen zu können, besitzen auch schon kleine Brauereien Privatwagen. Fix in diesem Quodlibet von Tarifen ist nur die Post: Da die Bahnkonzessionen dem alten öffentlichen Transportmittel das Monopol und die Einnahmen wegnehmen, muss die Bahn Sendungen bis 5 Kilogramm unentgeltlich in speziellen, von der Post gestellten Wagen mitnehmen. In diesen Postwagen sortieren Pöstler die Sendungen während der Fahrt. Um die Abgeltung für das Befördern von schwereren Sendungen wird seit Bestehen der Bahnpost gerungen. Die Abgeltungen der Post an die Bahn nehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um das Fünfzehnfache zu.91
Die Tarife im Güter- und Viehverkehr begünstigten die Industrie und die Landwirtschaft zu Lasten des Personenverkehrs. Für diesen besteht im Unterschied zu privaten Strassenverkehrsunternehmen eine Transportpflicht, wie sie auch für den Schienengüterverkehr gilt. Der Personenverkehr muss jedoch nach festgelegten Fahrplänen und streng streckenabhängigen Tarifen abgewickelt werden. Ab 1872 verhindert das eidgenössische Post- und Eisenbahndepartement Umwegentschädigungen; nur der Weg auf der kürzesten gebauten Schienenstrecke darf in Rechnung gestellt werden. Das führt unter anderem zum Bau von unsinnigen Abkürzungsstrecken und zusätzlichen festen Kosten, ohne dass ein Mehrverkehr dies rechtfertigen könnte. Die Bahnen versuchen, das mit Tarif- und Komfortabstufungen wettzumachen. Im ersten gedruckten Fahrplan für die Nordbahn Zürich—Baden sind zwischen den fünf Stationen zehn Verbindungen möglich, und diese können in 1., 2., 3. und in der Kinderklasse gelöst werden. Das erheischt schon 40 verschiedene Fahrkarten mit entsprechenden Preisen. Nun kommen Retourbillette dazu und allerlei Ermässigungen zum Beispiel für Ausflugs- und Sonntagsreisen, für Rundfahrten, für Generalabonnemente, für Schüler und Familien, für Gruppen- und Gesellschaftsfahrten, für Militärpersonen und Krankenpflegerinnen. Später gibt es Zuschläge für die Benutzung von Schnellzügen oder von Bergbahnen mit besonderen Kilometersätzen, für das Mitnehmen von Kinderwagen, Fahrrädern und Hunden – und überhaupt für das Gepäck, für das die Bahnen spezielle Gepäckwagen anschaffen.
85 Prozent der Bahnreisenden können sich in der Privatbahnzeit nur die dritte Klasse leisten. Zum «Komfort» gehören Holzbänke, Durchzug, mangelhafte Heizung und Federung und im besten Fall Nachbarn, die gefälligst fragen sollten, falls sie rauchen wollen.
Sammlung H. P. Bärtschi 1966.
Wie nun sollen all diese Transportscheine ausgegeben und kontrolliert werden? Es ist der Engländer Thomas Edmondson, der 1838 Transportscheine aus Karton in der Grösse von 30 mal 57 Millimetern kreiert. Das vorgedruckte Billett zeigt auf einen Blick auch farblich erkennbar seine Gattung, den Ausgangs- und den Bestimmungsort, die Wagenklasse, die Geltungsdauer, den Preis und eine Kontrollnummer. Beim Verkauf des Billetts prägt der Stationsbeamte das Datum in das Billett ein und macht es so gültig. Zum System gehören eine Druckpresse und eine Nummerierungs- und Zählmaschine, welche das Abrechnen erleichtern. Das älteste erhaltene Edmondsonsche Billett ist auf den 31. Januar 1858 für die Strecke Subingen—Solothurn gestempelt.92
Wie sieht nun die Verteilung der Reisenden auf die «harte Klasse», die «weiche Klasse» und die «Luxusklasse» zur Privatbahnzeit aus? 85 Prozent der Reisenden setzen sich dem unbequemen Reisen in der dritten Klasse aus, nur etwa 14 Prozent können sich ein Zweitklassbillett leisten, das Erstklassreisen ist dem einen Prozent der Reichen vorbehalten.
Neben dem Aufdruck von Strecke, Klasse, Geltungsdauer und Preis dienen Farben, diagonale und horizontale Streifen dem Erkennen von Vergünstigungen. Mit der Schere stellt der Stationsbeamte Halbtax- und Kinderbillette her.
Slg. Beat Winterberger, Ausstellung Fribourg 2017.