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Reisen – ein Zustand der Ruhelosigkeit

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Euphorische Zeitgenossen preisen das Reisen als neuen, zentralen Inhalt der industriellen Gesellschaft: Mobilität, Dynamik – nur Reisen ist Leben, proklamiert der zu Beginn der industriellen Revolution verstorbene Dichter Jean Paul. Endlich wird die Grand Tour, die oft mehrjährige Europareise junger, begüterter Söhne, schneller und bequemer. Mit der Eisenbahn erleben sie zum ersten Mal die ihnen sonst in Fabriken nicht zugängliche neue Technik. «Die Eisenbahn wird zu einem bedeutungsvollen Sinnbild der technischen Entwicklung. In der Eisenbahn vereinigten sich kapitalistischer Wirtschaftsgeist, exakte Naturwissenschaften und technisches Machbarkeitsdenken zum modernen Fortschritttsglauben.»81 Skeptische Zeitgenossen behaupten dagegen, die Geschwindigkeit der Eisenbahn vernichte den Raum, die Zeit und die Erfahrung, sie mache die Menschheit nervös, sei eine Bewegungstyrannei; die Eisenbahn ermögliche Zeitgewinn durch Zeitvernichtung. «Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet … vor meiner Tür brandet die Nordsee», schreibt der 1856 verstorbene Heinrich Heine.82 Die Entfernung verliert ihre Sinnlichkeit. Die eigene Ermüdung, die Ermüdung des Pferdes spürt man, diejenige der Maschine nicht mehr. Selbst im Falle einer aufkommenden Übelkeit kann man die Eisenbahn nicht zum Halten bringen, um auszusteigen: die Maschinerie hält uns unermüdlich in Trab, lässt uns in Eile verharren. Als Entschädigung für diesen Verlust von Raum zwischen Abreise und Ankunft steht uns jeder beliebige Ort zur Verfügung, wobei mit zunehmender Geschwindigkeit der Bezug zur Distanz abnimmt. Mit dem Raum geht auch die Wirklichkeit verloren, wir verlieren die Orientierung, stellt Wolfgang Schivelbusch 1993 in seinen Betrachtungen zur Geschichte des Reisens fest. Dadurch, dass sich die gesamte Bevölkerung in Bewegung setzt, schrumpft die Welt zum Weltdorf.

Die Eisenbahn beschleunigt die industrielle Revolution massgebend, sie verändert die alltägliche Erfahrungsmöglichkeit des Menschen grundlegend. Wohin könnte ich noch rasch fahren? Ein solcher Gedanke ist vor der Einführung der Eisenbahn müssig, weil «rasch» nicht möglich war. Ein weitgereister Mensch ist vor dem Eisenbahnzeitalter ein er-fahrener Mensch, der mit Intelligenz, Kommunikation und vor allem mit Resistenz lange Reisezeiten durchsteht. Die modernen Verkehrsmittel schützen die Reisenden vor Erfahrungen und schränken bei gleichzeitiger Zunahme der Eindrücke die Reizqualität ein. Auf der Fahrt in schnellen Verkehrsmitteln sind andere Sinne als das Sehen kaum angesprochen. Der Gesichtssinn erhält das Übergewicht über alle Sinne, wobei er überlastet wird: die Seh-Eindrücke nehmen im Vergleich zum Beispiel zum Wandern explosionsartig zu. «Die nächsten Gegenstände, Bäume, Hütten und dergleichen kann man gar nicht recht unterscheiden; so wie man sich danach umsehen will, sind sie schon lange vorbei,» stellte Jacob Burckhardt fest.83 Der Blick muss sich verflüchtigen, er wird zerstreut. Victor Hugo bemerkte 1837 über eine der frühesten Eisenbahnreisen: Alles wird Streifen. Die Augen müssen sich auf unendlich fokussieren, sie suchen aus dem Abteilfenster einen festhaltbaren Ausschnitt aus einem Landschaftsbild. Das fahrende Abteilfenster hat so eine Sehgewohnheit erzeugt, wie sie später der Fotoapparat, der die Landschaft auf einen zweidimensionalen Ausschnitt reduziert, und noch später der Fernsehapparat, der auf einem Bildschirm einen bewegten Ausschnitt wiedergibt, voraussetzen.

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