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Bahnhöfe verbinden, trennen und zentralisieren Ortschaften
ОглавлениеDie Frage, wo der Bahnhof gebaut werden soll, bewegt längst nicht nur die Städte, welche Eisenbahnpolitiker stützen oder stürzen. Die Konkurrenz der Eisenbahnen überträgt sich auf die mitfinanzierenden Gemeinden. Sieg oder Niederlage in entscheidenden Eisenbahnbau-Schlachten bestimmen die Ströme der modernen Völkerwanderung. Dass der Standort der meisten Bahnhöfe ursprünglich ausserhalb bestehender Siedlungsstrukturen liegt, hängt mit den technisch bedingten Linienführungen und den günstig zur Verfügung stehenden Grundstücken zusammen. Für ziemlich alle realisierten Bahnlinien erarbeiten die Vermesser und Planer Varianten von Linienführungen. Sie erschliessen ein Mehr oder Weniger an Ortschaften mit mehr oder weniger kostspieligen Bauarbeiten. In manchen Fällen erstellen Gesellschaften Bahnhöfe für mehrere Ortschaften; dies führt zu Doppelbezeichnungen wie Arth-Goldau. Aber auch in Randsituationen entwickeln sich die neuen Verkehrsknoten zu sozialen und wirtschaftlichen Zentren. Vor den Bahnhöfen entstehen Geschäftszentren auf Grundstücken mit hohen Preisen, hinter den Bahnhöfen konzentrieren sich Lager-, Gewerbe- und Industriebetriebe, vermischt mit hoch verdichtetem Wohnungsbau für die Arbeiter. Die Lage der Bahnhöfe dominiert Siedlungen, fördert und behindert ihre Ausdehnungen und die inneren Verbindungen. So gestaltet die Eisenbahn nicht nur Agrar- und Gebirgs-Landschaften um, sondern auch Siedlungslandschaften. Sie wird zum wichtigsten Element ihrer Strukturierung. Neue günstige Standorte bestimmen über die Bodenpreise auch die Siedlungsentwicklung – stärker als viele, oft nur im Ansatz ausgeführte Planungen: Bahnkonzerne machen oder bestimmen Stadtplanungen, notwendige Korrekturen können erst nach der Verstaatlichung stattfinden: Basel vereinigt seine drei Kopfbahnhöfe, die Bahnhöfe wie in Biel oder Luzern werden verlegt.
Kleinste Bahnhöfe haben per Definition mindestens zwei Weichen, damit Züge zusammengestellt, kreuzen, enden, wenden oder überholen können. Die dazugehörenden Hochbauten umfassen bei grossen Anlagen Aufnahmegebäude für Reisende mit Bahnhofhallen, Perrondächern und Aborthäuschen, Güter- und Wagenschuppen, Lokomotivdepots mit Wassertürmen und Werkstätten.37
Das älteste Wärterposten- und Stationsgebäude der Schweiz steht seit 1847 in Dietikon.
Foto H. P. Bärtschi 1980.
Am 1857 erbauten Bahnhof Aigle treffen die Schmalspurbahnen nach Leysin, Champéry und Les Diablerets die Hauptbahn.
H. P. Bärtschi 1985.
Als ältester Bahnhof der Schweiz steht in Baden das 1846 geplante Aufnahmegebäude, das 1980 eine sorgfältige Renovation erfährt.
H. P. Bärtschi 1980.
Eine monumentale Halle aus der Privatbahnzeit bilden die erhaltenen Teile des 1896 erstellten Centralbahnhofs Luzern.
Foto H. P. Bärtschi 2015.
In Zürich schenkt die Stadt der projektierenden Privatbahn den Bauplatz ausserhalb der Festungsanlage und beseitigt diese. In Personalunion plant der Politiker, Jurist und Bahninvestor Alfred Escher die Bahnhofverlegung an den See. Er scheitert an der Opposition, die eine Seepromenade und keinen Hafenbahnhof will. Der Bahnhof bleibt am alten Standort (rechts unten).
Projekt Wild/Wetli 1862/63.
Architektonisch sind die Bahnhofbauten oft die ältesten erhaltenen, bedeutenden Zeugen des frühen Eisenbahnwesens. So sind von der ersten Schweizer Bahngesellschaft nur Teile eines einzigen Wagens von 1847 erhalten, hingegen existieren noch das Aufnahmegebäude Baden (ohne Bahnhofhalle) und – vergrössert – die Wärterstation Dietikon, beide aus dem Jahre 1846.38 Da die Aufgabe zur Erstellung von Bahnhochbauten sich wiederholt, haben die Bahnunternehmen Normalien für Bautypen erarbeiten lassen. Personenbahnhöfe können so nach Form (Kopf-, Keil-, Insel-, Hochbahnhof) oder nach Grössenordnungen eingeteilt werden. Im für die Generaldirektion der SBB 1979–1984 erstellten Bahnhofinventar39 werden die über 900 Stationen folgenden Grössenordnungen zugeteilt: In kleinen Orten richten die Bahnen Wartehäuschen, Wärterstationen oder Güterstationen ein. Bei letzteren handelt es sich um Güterschuppen mit Wohnung für den Stationsvorstand und Schalterraum für die Personenbeförderung. Betriebstechnisch gehören einzelne dieser Gebäude zu Dienst- und Haltestellen, andere zu kleinen Bahnhöfen, die später oft durch den Abbau von Weichen ihre Stellung als Bahnhof verlieren. In Dörfern entstehen die am meisten verbreiteten Landstationen. Sie umfassen eine Wohnung für den Bahnhofvorstand und Dienst-, Gepäck-, Schalter- und Warteräume in zweigeschossigen, meist traufständigen Satteldachgebäuden. Diese sind in der Mehrzahl gemauert und verputzt, seltener weisen sie Chalet- und Regionalformen auf. Für Kleinstädte werden mittelgrosse Bahnhöfe erbaut. Sie umfassen zusätzliche Nutzungen und weisen meist klassizistische Formen und Verzierungen auf. Dabei lässt sich die erwähnte Tendenz der abnehmenden Grosszügigkeit gerade bei dieser Grössenordnung von Aufnahmegebäuden verfolgen. So entstehen die ersten Bahnhöfe der Tessiner Talstrecken der Gotthardbahn als grosszügige «Palazzi», später baut die Bahn an den Rampenstrecken aus Spargründen nur noch kleine, zierlose Stationsgebäude. Die grossen Stadt- und Grenzbahnhöfe bilden Sonderformen. Ferner sind die Güter-, Werk-, Hafen- und Rangierbahnhöfe zu erwähnen. Ihre Gleisfelder, Ablaufberge und die Richtungs- und Ausfahrgruppe bilden flächenmässig die grössten zusammenhängenden Bahnanlagen. Wo sie in alten Vorbahnhofbereichen liegen, bilden sie grosse innerstädtische Flächen ohne Hochbauten, also eine Form von Freiflächen, die nicht öffentlich zugänglich sind.
Die baukünstlerisch aufwändigsten Bahnbauten gelten dem Eintritt in die Stadt – oder dem Abschied von der Stadt. Nirgends repräsentiert sich die Eisenbahn prunkvoller als im Hauptbahnhof einer grossen Stadt. Die Reisenden werden in grossen Hallen empfangen oder abgefertigt. In der Verbindung von Massivbauten und überdachten Zugsgleisen entsteht eine neue Ästhetik. Repräsentative Stadtbahnhöfe erstellen im 19. Jahrhundert die Gotthardbahn in Bellinzona, Lugano und Locarno, die Centralbahn in Luzern und die Nordostbahn in Zürich. Der Hauptbahnhof Zürich ist die Krönung der schweizerischen Bahnhofarchitektur während der Privatbahnzeit. Noch anfangs der 1860er-Jahre will Alfred Escher den 1846 erstellten ersten Bahnhof vom Platzspitz an das Seeufer verlegen, was aber an der Opposition scheitert. Schon 1855 hat Escher als Gründer des Polytechnikums, der NOB und der Kreditanstalt den Stararchitekten Gottfried Semper nach Zürich an die ETH geholt. 1861 wird Semper mit dem Entwurf für einen neuen Hauptbahnhof beauftragt. Dieser skizziert nach römischem Vorbild den Bau einer grossen Basilika-Halle für die ein- und ausfahrenden Züge und zur Stadt hin seitliche Monumentalbauten. Die deutschfeindlichen Ausschreitungen nach dem Krieg 1871 in Zürich und die Berufung nach Wien führen zum Wegzug des Stararchitekten. Zum Hausarchitekten von Alfred Escher ist inzwischen Jakob Friedrich Wanner geworden. Wanner entwirft den Neubau der Schweizerischen Kreditanstalt am Paradeplatz und viele Bahnhofgebäude für die Nordostbahn. Er leitet – als letzter Architekt in der Schweiz – den Bau des Hauptbahnhofs in Zürich von der Gleishallenkonstruktion bis zum Figurenschmuck.40 Escher setzt gleichzeitig eine Stadtplanung durch, die den neuen Bahnhof ins Zentrum setzt, mit Triumphbogen, Bahnhofstrasse und umgebenden Quartieren für Geschäfte, Arbeitermietskasernen und Fabriken: die Eisenbahn beweist sich als dominierender städtebaulicher Faktor.