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Das Rollmaterial: von der Ausland- zur Inlandherstellung

Bis zum Ersten Weltkrieg steigt der Rollmaterialbestand in der Schweiz auf gegen 20000 Güterwagen66 und 5000 Personenwagen67, 1905 gibt es 1331 Dampflokomotiven und bereits 29 elektrische Lokomotiven, ferner 151 Triebwagen68. In den ersten Jahrzehnten importieren die Schweizer Bahnen ihre Wagen und Lokomotiven hauptsächlich aus Deutschland, teilweise aus Frankreich, aus dem Elsass und aus entfernteren Gegenden. In der Schweiz selbst entwickelt sich zaghaft eine eigenständige Herstellung von Rollmaterial. Da gibt es die Werkstätten der grossen Privatbahnkonzerne in Yverdon, Olten, Zürich und Rorschach. Die grösste Privatbahnwerkstatt, Olten, beschäftigt in ihren besten Zeiten über 1000 Leute. Aber auch bestehende Industriebetriebe wie Escher Wyss in Zürich oder Rieter in Winterthur bieten sich für Rollmateriallieferungen an, und neue Firmen wie die «Schweizerische Industriegesellschaft» SIG werden gegründet.

Privatbahnzeit: Vernachlässigter Güter- und Personenwagenbestand

Es ist schwer zu fassen, wie überholt der Wagenpark der Schweizer Bahnen am Ende der Privatbahnzeit ist. Die Gesellschaften haben im Wissen um die baldige Verstaatlichung wenig investiert und spekulieren auf möglichst hohe Ablösungssummen. Rund 680 Güterwagen weisen weder Bremsen noch Bremsleitungen auf. Den grössten Anteil an Wagen machen die gedeckten Güterwagen aus. Als «K»-Wagen bezeichnet sind diejenigen, die sich zum Viehtransport eignen, weil sie sich innen reinigen und desinfizieren lassen; die anderen heissen «J»-Wagen. Die einheitliche Bezeichnung führt nach mehreren Anläufen der schweizerische Wagenverband ein, damit ein rascher Austausch zwischen den Privatbahnen gewährleistet ist. Offene Güterwagen mit Wandhöhen über 60 Zentimeter erhalten die Bezeichnung «L», Niederbordwagen die Bezeichnung «M», Spezial- und Privatwagen die Bezeichnungen «N», «O» und «P»; Untergruppen geben das Ladegewicht und die Ladefläche an. Diese betragen bei den Wagen mit den kürzesten Achsständen von 3,15 Metern weniger als 10 Tonnen Ladegewicht für 20 Quadratmeter Ladefläche.


Zum frühesten und bedeutendsten Rollmaterialhersteller entwickelt sich die Schweizerische Industriegesellschaft in Neuhausen am Rheinfall. Der Katarakt erscheint unterhalb der Bahnbrücke und des Werkes klein.

Slg. H. P. Bärtschi 2003.

Die Personenwagen der Privatbahnen bieten um 1900 110000 Sitzplätze, 85 Prozent in der dritten Klasse. Bei vielen Drittklass-Personenwagen fehlen die Beleuchtung, die Dampfleitungen und an den hölzernen Sitzbänken die Rückenlehnen. Die Federung ist ungenügend, das Laufverhalten lärmig, Aborte gibt es in der Regel nur in Zweit- und Erstklasswagen. Drehgestellwagen mit vier Achsen führen von Anfang an die Basler Centralbahn und die St. Galler VSB ein, das schlechteste Rollmaterial fährt auf der Zürcher Nordostbahn, das beste auf der Gotthardbahn.

Neue Wagen werden in der Regel zur Erweiterung des Rollmaterialbestandes angeschafft und nicht zu dessen Modernisierung. So übernehmen die Schweizerischen Bundesbahnen 1903 96 Prozent aller Personenwagen, die seit 1847 bei den Privatbahnen rollen.

Für den Neubau von Wagen gegründet, entwickelt sich die «Schweizerische Industriegesellschaft» SIG zur ersten bedeutenden Rollmaterialfabrik der Schweiz. 1853 wählen ihre Gründer den Standort in Neuhausen nicht wegen der Aussicht auf den Rheinfall, sondern wegen seiner Wasserkraft. Zusätzlich zu den Kraftwerken von Neher und Moser erstellt sie mit diesen zusammen ein Turbinenhaus am rechten Ufer des Katarakts. Die Kraft wird mittels einer schmiedeisernen Welle ins höher gelegene Werk übertragen. Noch ziehen die Industriepioniere die Nutzung des grossen Wasserreichtums den teureren Dampfmaschinen vor. Die Initiative für den Waggonbau geht vor allem auf Friedrich Peyer im Hof zurück, den Schaffhauser Wirtschaftsmann, Politiker, Mitbegründer der Rheinfallbahn und vorübergehenden Weggefährten von Alfred Escher. Europas Wagen sind zu dieser Zeit fast alle zweiachsig, die amerikanischen vierachsig mit zwei Drehgestellen.69 Die SIG gehört zu den ersten europäischen Fabriken, die ab 1855 Drehgestellwagen verkauft. Der andere Kompetenzbereich ist der Wagenkastenbau, ursprünglich für Güterwagen und für drei verschiedene Klassen von Personen – Drittklass-Passagiere müssen sich mit Hartsitzen begnügen. In den teureren Reiseklassen geniessen die Reisenden einen gewissen Beleuchtungs- und Heizkomfort. Die SIG wird so auch zu einem Pionier in der Lüftungs-, Heizungs- und Klimatechnik und betreibt zusätzlich eine Sattlerei und ein Möbeldesign-Unternehmen. Um 1900 erarbeitet die SIG Verbesserungen für den Reisekomfort und die Verbilligung des Wagenunterhalts. Man baut grössere Fenster, mehr Ablageflächen, Armlehnen, Lüftung und elektrische Heizung für alle Klassen. Nicht genug: Die SIG fabriziert Rollmaterial für den globalen Markt und für alle Wünsche, von speziellen Güterwagen bis zum luxuriösen Pullman-Wagen, vom Tram über Bergbaulokomotiven bis zu Zahnradtriebwagen für den boomenden schweizerischen Bergbahnmarkt.70 Robustheit und Zuverlässigkeit sind Grundwerte der SIG-Produkte. 25000 Schienenfahrzeuge verlassen in den ersten 115 Jahren das Werk über dem Rheinfall, auch nach Übersee.


1876 gelingt der SIG der Bau von doppelstöckigen Vorortbahn-Triebwagen für die Schmalspurbahn «Lausanne—Echallens—Bercher».

Slg. H. P. Bärtschi.


In ihren ersten 115 Jahren liefert die SIG 25000 Fahrzeuge: Seilbahnwagen Harder auf einem SIG-Flachwagen.

Slg. H. P. Bärtschi 2003.

Andere grosse Wagenbauer haben ihren Markteintritt erst um 1900 oder danach, so die «Ateliers des Constructions mécaniques Vevey» ACMV, die «Schweizerische Waggonfabrik» in Schlieren, die «Wagi», und kleinere, die, wie auch die grossen, wieder verschwinden.

Der schweizerische Lokomotivbau

1871 springt Charles Brown Senior nach 20 Jahren Tätigkeit bei Sulzer in Winterthur nach Zwistigkeiten mit der neuen Führungsgeneration ab. Der englische Ingenieur ist 1851 per Head Hunting nach Winterthur gelangt. Die Bank in Winterthur, später zur SBG und dann zur UBS fusioniert, unterstützt Brown bei der Gründung der «Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik» SLM grosszügig. Den Aufbau der neuen Fabrik unmittelbar auf dem Nachbargrundstück der Maschinenfabrik Sulzer durch den ehemaligen Sulzer-Mitarbeiter empfindet das Winterthurer Bürgertum als Provokation. Es kommt sogar zu Handgreiflichkeiten: Albert Sulzer-Grossmann verabreicht dem Textilindustriellen Bühler eine Ohrfeige, weil er sich in den Verwaltungsrat der SLM wählen lässt. Entscheidend für das Überleben in der 1877 ausbrechenden schweren Krise ist das Durchhaltevermögen. Dies gelingt der SLM mit Bankkrediten und Arbeitsplatzabbau und dank einer innovativen Produktepolitik. Neben dem Bau von Zahnradlokomotiven entwickelt die SLM Sonderbauarten für Werk- und Tramlokomotiven. Von letzteren können 283 Stück geliefert werden, weil man gleich auch den Strassenbahnbau mitfinanziert. Nach 1884 bleibt die SLM in der Schweiz mit wenigen Ausnahmen die einzige Anbieterin von Lokomotiven. Die Wirtschaft beginnt sich von der Krise zu erholen, der Verkehr belebt sich, die unvollendeten Neubaustrecken werden nach zehnjährigem Moratorium vollendet, der Bedarf an Lokomotiven steigt. Den Weg zum Monopolanbieter in der Schweiz bahnt sich die SLM mit einem Angebot verschiedenster Konstruktionen nach englischen, amerikanischen und vor allem deutschen und französischen Vorbildern. Ihre 1884 gegründete elektrotechnische Abteilung allerdings verkauft sie noch vor dem Elektrifizierungsboom 1897 an die Maschinenfabrik Rieter, welche sie an die Maschinenfabrik Oerlikon weiterreicht. Die SLM als «Mechaniker» ist somit bei Bestellungen von elektrischen Triebfahrzeugen von den «Elektrikern» abhängig. Verständlich, dass sie am Bau von Dampflokomotiven festhält, neue Absatzmärkte im Ausland sucht und auch mit grossem Aufwand die neuen technischen Möglichkeiten verfolgt. Beim Bau von Zahnradlokomotiven erlangt die SLM weitgehend das weltweite Monopol – dank der komplexen Antriebssysteme von Roman Abt und «Winterthur». Die SLM erreicht mit gegen 3000 Arbeitern ihren höchsten Beschäftigungsstand.71


In einer Odyssee durch drei Konstruktionswerkstätten entstehen Niklaus Riggenbachs erste Zahnradbahnlokomotiven.

Zeichnung H. P. Bärtschi 2003.


Zur Überbrückung der Krise von 1877 kann die SLM 283 Tramway-Dampflokomotiven liefern. Dampftram Bern.

Foto H. P. Bärtschi 1976.


Die SLM Winterthur erkämpft sich in der Schweiz ein weitgehendes Monopol für den Bau von Lokomotiven und international speziell für den Bau von Zahnradmaschinen. Von insgesamt 6000 gefertigten Lokomotiven wird mit diesem Stahlstich von 1896 die Ablieferung der eintausendsten gefeiert: Werk 1 mit Portal; im Hintergrund mit Werksiedlungen.

Slg. H. P. Bärtschi 1896.


Die SLM spezialisiert sich neben Tram- und Bergbahnlokomotiven auch auf Werkloks. Der SLM-Gründer Charles Brown I. entwirft einen Antrieb hoch über den Schienen und zwischen den Achsen: E 2/2 4 von 1900 mit Brown’scher Steuerung im Gusswerk Rondez, 1990 noch kommerziell in Betrieb.

H. P. Bärtschi 1990.

Die Depots und Unterhaltswerkstätten

Neben den grossen fünf Privatbahnen betreiben die vielen kleinen Bahnen eigene Depots zum Einstellen ihrer Fahrzeuge und Werkstätten für deren Unterhalt, Reparatur und teilweise für den Neubau von Bahnfahrzeugen. Auch die kleinsten Werkstätten sind in der Regel mit den meisten gebräuchlichen Werkzeugmaschinen für die Metallbearbeitung ausgerüstet, mit Bohr- und Fräsmaschinen und Drehbänken. Zur Ausstattung gehören meist auch eine Schmiede und eine Kleingiesserei für Achslager oder gar für Bremsklötze. Diese spezialisierten Werkstätten überleben vor allem bei Bahnen mit aussergewöhnlicher Technik: für die Pilatus-Bahn mit dem einzigartigen Zahnradantrieb System Locher lohnen sich der Ausbau und der Neubau von Stahlteilen in Alpnachstad. Die Arth—Rigi-Bahn verlegt ihre 1875 bei Arth erstellte Werkstatt nach der Eröffnung der Gotthardbahn 1884 nach Arth-Goldau und baut dort mit der platzsparenden Einrichtung einer Schiebebühne zum Querverschieben von Rollmaterial ihre Werkstattbereiche laufend aus.72


Jede grosse Privatbahn baut Zentral- und Depotwerkstätten: gedeckte Drehscheibe in der Rotonde Yverdon um 1855.

Foto SBB Kreisarchiv III.

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