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ОглавлениеArbeiten für die Bahn: 110-Stunden-Wochen und monatlich anderthalb freie Tage
Sowohl der Bau als auch der Betrieb von Eisenbahnen ist in den ersten 125 Jahren personalintensiv. Insgesamt arbeiten bis zu 60000 Menschen für den Bahnbetrieb und zeitweise über 40000 auf den Bahnbaustellen. Die Zahl der für den öffentlichen Verkehr Arbeitenden sollte sich danach noch verdreifachen.
Arbeiterheere in militärischen Strukturen
Von den Armeen übernommen werden die militärischen Strukturen mit entsprechendem Rapport- und Strafwesen. Die strenge Hierarchie ermöglicht es, den unteren Besoldungskategorien schlechte Löhne und den oberen überdurchschnittlich hohe auszuzahlen – die Lohnschere zwischen Arbeitern und Direktoren beträgt eins zu hundert. Die Beamten und Angestellten haben eine sehr hohe Präsenzzeit einzuhalten, da die Bahnunternehmen mit Ausnahme der Werkstätten nicht dem 1877 eingeführten Fabrikgesetz unterstellt sind.73 Die Sozialleistungen der anonymen Aktiengesellschaften sind unterschiedlich schwach, eine soziale Wohlfahrt wie in vielen familiär geführten Fabrikbetrieben gibt es nur ansatzweise. In der hauptsächlich durch Bahnspekulationen verursachten Wirtschaftskrise werden in den Jahren um 1880 die Löhne stark gekürzt und im wirtschaftlichen Aufschwung der 1890er-Jahre kaum wieder angeglichen. Die zunehmende Unzufriedenheit mit dem Privatbahnsystem und die abnehmenden oder fehlenden Renditen der Bahnunternehmen sind schliesslich die Hauptgründe für die Verstaatlichung der grossen Bahnkonzerne.
Sanktionen dienen den Bahnunternehmen für die Massregelung ihrer Bediensteten. Als «gravierendes Kabinettstück» publiziert die Gewerkschaft vor der Verstaatlichung die zwischen 1884 und 1896 von der Nordostbahn gegen einen Lokführer verhängten Bussen und ihre Gründe.
Schweizerische Eisenbahn-Zeitung 12.4.1901.
Bahnbauarbeiter – am Beispiel des Gotthardtunnelbaus
In der Düsternis des Gotthardtunnelbaus treffen sich die Denkmäler für den Investor Alfred Escher und den spekulativen Tunnelbauunternehmer Louis Favre, der einen Schiessbefehl gegen seine streikenden Arbeiter bezahlt.
H. P. Bärtschi 2016.
Die grösste und langjährigste Bahnbaustelle ist diejenige am Gotthard. Zum Politikum werden das Erschiessen streikender Arbeiter, die mörderischen Arbeits- und elenden Wohnbedingungen; deshalb ist der Gotthardbahnbau besonders gut dokumentiert. Die Bauarbeiten beginnen ein Jahr nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich. Der Hauptförderer, Alfred Escher, will beschleunigt bauen lassen. Deshalb bevorzugt er für die Erstellung des Scheiteltunnels vor erfahreneren Unternehmern Louis Favre und seine Versprechen einer kurzen Bauzeit und niedriger Baukosten. Hinter Favre stehen zwar Genfer Investoren, aber seine Referenzen hätten in Frage gestellt werden können. Italiener leisten die Arbeit, 94 Prozent der Besoldeten im Scheiteltunnel stammen aus dem Süden. 2600 arbeiten 1875–1882 im Durchschnitt im Tunnel, weitere 17450 bauen die Rampenstrecken. Der jüngste Bauarbeiter ist 12 Jahre alt, das Durchschnittsalter der Tunnelarbeiter beträgt 28 Jahre.
Zum Arbeitsalltag beim Tunnelbau gehören Hitze, Wassereinbrüche, unkontrollierte Detonationen, Füsse in den Exkrementen. Favres Bauunternehmen reduziert die Zufuhr von Kühl- und Atemluft zu Gunsten der Kompressorenluft. Staublunge, Cholera und Typhus und vor allem Hakenwürmer, welche die Darmwand durchbohren, fordern zusätzlich zu den mindestens 199 Unfalltoten beim Tunnelbau 120 weitere Tote und ein Mehrfaches an Opfern nach der Rückführung kranker Arbeiter in ihre Heimatorte.74 Die Stundenlöhne liegen zwischen 30 und 40 Rappen, abzüglich Unfallgeld, Lampenmiete und Öl. In den mit bis 120 Mann überfüllten Verschlägen fehlt es an jeglicher Hygiene, es stinkt in der viel zu kurzen Ruhezeit nach Jauche.75 Die Liegepritschen sind teilweise im Achtstundenrhythmus, also dreifach vermietet.
Bei den Unruhen im April 1875 macht sich der Urner Polizeidirektor persönlich von Altorf auf den Weg nach Göschenen und bewaffnet 20 Bürgerwehrleute. Ähnliches geschieht, als am 27. Juli 1875 80 Mineure die Arbeit verweigern und tags darauf 2500 Kameraden mobilisieren: gegen Schikanen, mangelnde Atemluft und Rauch im schlecht entlüfteten Tunnel, gegen eine Entlöhnung in Form von Favreschen Gutscheinen an Stelle von gemünztem Geld. Streikbrecher werden am Einfahren gehindert. Mit einem Telegramm fordert Favres Bauleiter die Urner Regierung zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung auf. Polizisten und Milizionäre schiessen in die Menge, vier Italiener sterben, zwölf sind verletzt, zwölf verhaftet, die Tunnelportale sind gesäubert. Es wird mit zusätzlichen Verschlechterungen der Arbeits- und Lebensbedingungen weitergearbeitet.76 Nach einer diplomatischen Note Italiens rechtfertigen sich die Behörden, die Erschiessungen seien in Notwehr erfolgt, die Neue Zürcher Zeitung verurteilt am 5. August 1875 den Streik der «Revolteurs» und begrüsst den Einsatz. Der von Bundesrat Welti eingesetzte Begutachter Oberst Hold bestätigt die These von der Notwehr. Der Urner Cantonssäckelmeister stellt Herrn Louis Favre für den patriotischen Einsatz der Todesschützen 2570 Franken und 15 Rappen in Rechnung. Damit sind die Bauverteuerungen und Verzögerungen nicht beseitigt. Erst fünf Jahre später berichtet der Arzt Laurenz Sonderegger detailliert über das Elend der Tunnelarbeiter77: Der 11 Jahre vor dem Gotthardtunnel vollendete, nur 1,3 Kilometer weniger lange Mont Cenis-Tunnel habe nicht einmal halb so viele Opfer gefordert.
Beamte und Bahnangestellte
Anders als die Bahnbauarbeiter sind die Bahnbetriebsarbeiter einem Dienstverhältnis unterstellt, einem besonderen Gewaltverhältnis, bei dem die Betriebsreglemente einen integralen Bestandteil des Arbeitsvertrages bilden. Obwohl der Beamtenstatus bis zu seiner Abschaffung behördlichen Tätigkeiten vorbehalten wäre, stufen die Privatbahnen gegen zwei Drittel ihrer Beschäftigten als Beamte ein. Die übrigen Bahnarbeiter gelten entweder als Angestellte oder Betriebsarbeiter, Hilfsarbeiter, Ablöser, Stellvertreter und Lehrlinge. Zu dieser Hierarchisierung tritt mit den Dienstreglementen und den Pflichtenheften eine berufliche Einteilung, zum Beispiel in Lokomotivführer, Heizer, Zugführer, Bremser, Rangierarbeiter, Strecken- oder Barrierenwärter. Damit das auch gut sichtbar ist, sind Beamte und Angestellte verpflichtet, im Dienst die Uniform zu tragen. Sie wird vom Unternehmen zur Verfügung gestellt und weist je nach Rang einen Stehkragen aus schwarzem Samt, versilberte Knöpfe und seidene Rocksäume aus. Bei der Centralbahn unterscheidet sich der Zugführer vom Kondukteur durch zwei versilberte Sternchen an den Kragenenden. Am klarsten zeigt sich die Stellung des Arbeiters in den Abzeichen und in der Ausstattung seiner Schirmmütze mit farbigen Schnüren. Die Uniform schafft so einerseits Respekt in der Öffentlichkeit, andererseits auch eine Distanzierheit innerhalb der Belegschaft, was zu Gunsten des Unternehmens eine Solidarisierung ausserhalb der Hierarchien und Berufsgruppen erschwert.
Handarbeit eines Streckenwärters mit Schraubenschlüssel und Hammer.
Foto H. P. Bärtschi Teegärten Sri Lanka 2018.
Da die Bahnunternehmen nur ihre Werkstätten dem Fabrikgesetz unterstellen müssen, gelten im Bahndienst über die Arbeitszeit hinaus Präsenzzeiten. Die tägliche Dienstzeit beträgt 1888 rund 16 Stunden, manchmal gegen 19 Stunden, an sieben Tagen die Woche! An Sonn- und Feiertagen muss je nach Dienstplan gearbeitet werden, auf drei Wochen Arbeit besteht ein Anrecht auf einen freien Tag. Der Gesetzesbestimmung, dass allen Eisenbahnern wenigstens 17 Ruhetage jährlich zu gewähren seien, kommen die Privatbahnen nur zögerlich nach.78 Da auch andere Empfehlungen des Eidgenössischen Eisenbahndepartements für maximale Präsenz- und Arbeitszeiten und obligatorische Pausen auf wenig freiwilliges Entgegenkommen stossen, tritt Ende 1890 das Bundesgesetz betreffend die Arbeitszeit beim Betrieb von Eisenbahnen in Kraft. Wie auch in anderen Bereichen bieten die Zürcher Nordostbahn und die St. Galler VSB weiterhin die schlechtesten Bedingungen, die Gotthard- und die Centralbahn die besten.
Unzufriedenheit und Selbstorganisierung
Die wachsende Unzufriedenheit eines grossen Teils des Personals hat in den 1860er-und 1870er-Jahren zur Stärkung der demokratischen Bewegung vor allem gegen den «Eisenbahnkönig» Alfred Escher und seine liberale Partei geführt. Mit dem Scheitern dieser Bewegung verlagern sich die Aktivitäten des Personals auf die gewerkschaftliche Ebene. Ende 1868 entsteht die Zürcher Bezirksorganisation des – wohlgemerkt – «Vereins Deutscher Lokomotivführer». Obwohl in den Lokomotiven immer ein Führer und ein Heizer zusammenarbeiten müssen, besteht zwischen ihnen ein Hierarchiegefälle, welches immerhin in Sachen Verschwiegenheit bei Alkoholkonsum überwunden wird. So entstehen 1877 bis 1888 in Zürich, Olten und Luzern die Berufsorganisationen der Heizer und schliesslich auch solche für die Zugführer, die Wagenvisiteure, die Weichenwärter und Rangierer.79 Arbeitszeitverkürzungen und höhere Löhne sind die entscheidenden Forderungen; zunehmend wichtig werden «Hülfskassen» für den Ausgleich bei Krankheit und Unfall. Für das Äufnen solcher Kranken- und Unfallversicherungen sind die Direktionen eher zu gewinnen als für Lohnaufbesserung und Arbeitszeitverkürzung, denn die Fonds gehen zu Lasten der Bediensteten und werden von den Direktionen verwaltet. International verschärft sich der Kampf der organisierten Arbeiterschaft gegen die Kapitaleigentümer. Am 1. Mai 1886 berichtet der 70-jährige Friedrich Engels stolz: «Heute hält das europäische und amerikanische Proletariat Heerschau über seine erstmals mobil gemachten Streitkräfte.»80 Zwei Jahre später gründet sich die Sozialdemokratische Partei der Schweiz neu und schliesst sich der Zweiten Internationale an. Eine Forderung ist die 48-Stundenwoche. Die oppositionellen Aktivitäten der Eisenbahner münden schliesslich in eine Initiative für die Verstaatlichung der grossen Bahnkonzerne, welche jedoch 1891 scheitert. Die Eisenbahner schliessen sich 1894 zum «Verband des Personals schweizerischer Transportanstalten» VPST zusammen und wählen Theodor Sourbeck zum vollamtlichen Sekretär. Zumindest die niedrigsten Gehälter sollen angesichts der wieder wachsenden Profite erhöht werden. Die Central- und die Gotthardbahn machen Zugeständnisse, die anderen Direktionen sehen in der Forderung eine Agitation einer Handvoll Provokateure. Diese reagieren mit der Einberufung einer Generalversammlung der schweizerischen Eisenbahner auf den Sonntag, 16. Februar 1896 in Aarau. Unter schmetterndem Tusch der Eisenbahner-Musikkorps versammeln sich 12000 Bedienstete. Sie fordern entblössten Hauptes durch Aufheben der Schwurfinger kürzere Arbeitszeiten und bessere Löhne. Mit Streik wird gedroht. Bereits am 29. Februar 1896 findet unter dem Vorsitz von Bundesrat Zemp die Verhandlung zwischen dem VPST und den Privatbahndirektionen statt. Vier Privatbahnkonzerne lenken mit der Schaffung einer verbindlichen Lohnskala ein. Nur die Nordostbahn fehlt. Sie verfolgt unter Alfred Eschers Nachfolger Adolf Guyer-Zeller sogar einen verschärften Kurs: maximale Dividende, minimale Löhne. Auch ein Jahr nach der Aarauer Versammlung reagiert die NOB-Direktion auf ein Ultimatum des VPST nicht. In der Nacht auf den 12. März 1897 legen 5000 Beamte und Angestellte der NOB ihre Arbeit nieder. Die wenigen Streikbrecher haben keine Chancen, den komplexen Bahnbetrieb aufrechtzuerhalten. In der ganzen Nordostschweiz kommen Pendler nicht zur Arbeit und Güter nicht zu den Industriebetrieben. Neben Zemp reist auch Bundesrat Müller nach Zürich und fordert die NOB-Direktion zum Einlenken auf. Diese beugt sich nach anderthalb Tagen Streik. Für die Zustimmung zum Verstaatlichungsgesetz ein knappes Jahr später ist der Streik vom 12. und 13. März 1897 ebenso entscheidend wie die noch nicht verarbeiteten Eisenbahnkatastrophen.
Aus der Zeit der sich zuspitzenden Kämpfe zwischen den Bahnarbeitern und den Bahninvestoren stammt diese Karikatur für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen.
Der neue Postillion 9, September 1899.
Da die Nordostbahn als einzige Privatbahn den Forderungen der 12000 Eisenbahner der Aarauer «Generalversammlung» nicht nachkommt, streiken die NOB-Bediensteten. Nach Vermittlung des Bundesrates nehmen sie am dritten Tag die Arbeit wieder auf.
Neues Winterthurer Tagblatt 13.3.1897.