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Die Wahrheit am Heiligen Abend

Der Auslöser war eigentlich völlig lächerlich. Ich habe meiner Schwester Finni heute Nacht während des Schlafens schwarze Schuhcreme auf ihre Handinnenflächen geschmiert. Soweit also alles ganz normal.

Natürlich hat Finni sich über Nacht das ein oder andere Mal im Gesicht gekratzt und beim Aufstehen ihre Haare aus dem Gesicht gestrichen. Natürlich hat sie in der Nase gebohrt und anscheinend auch in ihren Zähnen gepuhlt. Natürlich fand Finni es beim Hinausgehen aus ihrem Zimmer komisch, dass ihre rosa Pferdebettdecke und ihr Kissen überall schwarze Flecken hatten. Und natürlich hat Finni völlig unverhältnismäßig laut geschrien, als sie sich kurze Zeit später im Badspiegel betrachtet hat. Schwarze Flecken im Gesicht, auf den Zähnen und in der Nase schienen ihr nicht zu gefallen. Mir schon, es unterstrich ihren Teint. Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten.

Wie gesagt, soweit war also alles ganz normal. Wie zu erwarten war.

Auch zu erwarten war, dass Mama wieder nichts anderes einfiel, als mir die Sache in die Schuhe zu schieben: »Hannes, gib es zu, das warst du!«

Aber natürlich war auch klar, wie ich auf diese unverschämte Unterstellung reagieren musste: »NEIN, Mama, das war ich nicht! Ganz ehrlich! So was würde ich NIE tun!«

Bis hierhin ist somit alles perfekt und wie geplant verlaufen. Doch dann ist alles anders gekommen.

Anstatt mich kräftig zu schimpfen und danach irgendwann die Sache wieder auf sich beruhen zu lassen, sagte Mama: »Hannes, heute ist Heiliger Abend. Ich habe keine Lust auf einen solchen Unsinn von dir. Ich werde jetzt gar nicht schimpfen, sondern ich will von dir ein einfaches Versprechen: Versprich mir, dass du zumindest heute einmal einen ganzen Tag lang nur die Wahrheit sagst! Versprich mir das auf Weihnachten!«

Was war denn das für ein neumoderner, antiautoritärer Ansatz. Hatte meine Mama einen Workshop bei veganessenden, ringelsockenstrickenden, rastahaareflechtenden Sozialarbeiterinnen mit lebenslanger Erfahrung an Waldorfschulen belegt, von dem ich nichts wusste?

Sie brachte mich in eine üble Lage. Ja, natürlich kam es ab und zu vielleicht ganz selten mal vor, dass ich eine klitzekleineminimale Notlüge verwende. Aber was ich definitiv nie getan habe und auch nie tun würde, ist ein Versprechen zu brechen. Und ich hatte auch nicht vor, damit am Heiligen Abend anzufangen.

Meine Mama wusste das selbstverständlich und konnte mich richtig einschätzen. Schließlich kennt sie mich schon länger als ich mich selbst kenne.

Ich befand mich in einer Zwickmühle. Wenn ich es nicht verspreche, würde mich Mama nicht gehen lassen. Wenn ich es verspreche, würde ich einen üblen Tag erleben. Es war ausweglos.

»Hannes, ich kann dich nicht hören.«

Meine Mama wurde ungeduldig. Mein Hirn ratterte auf Hochtouren. Doch es gab keinen anderen Ausweg: »Na gut, Mama, ich verspreche es dir. Aber nur für heute, weil Heiliger Abend ist.«

Meine Mama lächelte mich zufrieden an.

Meine Schwester grinste bösartig mit ihren schwarzgefleckten Zähnen und ihren schwarzverschmierten Nasenlöchern zu mir herüber und fragte: »Gib’s zu, Hannes, du warst das, oder?«

Ich blickte mit meinem finstersten Blick in ihre hinterhältigen Augen, schluckte, atmete tief ein und wieder aus. Es war ja sowas von klar, dass sie diese Situation wieder schamlos ausnutzte. Schließlich drückte ich ein »Ja« heraus.

Mama nickte zufrieden lächelnd in meine Richtung. »Sehr schön, Hannes, dein Versprechen scheint tatsächlich zu funktionieren.«

Damit war die Sache mit der Schuhcreme für Mama erledigt. Auch wenn meine Schwester natürlich versuchte, sie noch davon zu überzeugen, mich zu bestrafen. Meine Mama allerdings meinte, dass einen Tag nicht zu lügen für mich schon Strafe genug sei.

Womit sie mehr als recht hatte, fand ich.

Nach dem Frühstück fragte mich mein Papa: »Hast du Lust, mit mir den Christbaum reinzuholen und dann mit Finni und Mama zusammen zu schmücken?«

Aus der Tradition heraus wollte ich bereits unbedacht zusagen. Zum Glück fiel mir aber noch rechtzeitig mein Versprechen ein und deswegen antwortete ich wahrheitsgemäß: »Nein, Papa, ich hab keine Lust. Ich will lieber Computer zocken.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Hannes!«

»Doch, das ist die Wahrheit, Papa«, nickte ich, drehte mich um und wollte in mein Zimmer gehen, um mich ungestört meiner Spielekonsole zu widmen.

»Du kommst sofort her und hilfst mir«, befahl in diesem Augenblick mein Vater. Somit musste ich gegen meinen Willen und gegen meine innere Überzeugung doch anpacken.

Als wir gerade mit dem Dekorieren fertig waren, klingelte es an der Tür. Zu viert gingen wir hin und Mama öffnete. Draußen standen Frau und Herr Wachter, unsere netten Rentner-Nachbarn, beide mit einer durchaus beachtlichen Bauchrundung ausgestattet.

»Hallo ihr Lieben«, begann Frau Wachter, »wir wollten euch noch eine kleine Weihnachtsfreude vorbeibringen«.

Sie reichte uns eine Dose Plätzchen und einen in orange-blau Tönen gehäkelten, großmaschigen Schal.

»Oh, schaut mal, Kinder, ist dieser Schal nicht wunderschön?«, lächelte Mama uns an.

»Oh ja«, sagte Finni zurücklächelnd.

»Ich finde ihn übelst hässlich«, sagte ich stirnrunzelnd. »Aber als Putzlumpen, da kannst du ihn bestimmt gut hernehmen. Das hast du ja mit den anderen Häkelsachen von Frau Wachter auch gemacht.«

Meine Mama funkelte mich böse an. »Was redest du denn da für einen Schmarrn, Hannes. Der Schal ist herrlich und mit den Putzlumpen täuschst du dich natürlich, sowas würde ich nie tun.«

»Probiert doch mal meine leckeren Plätzchen«, meinte Frau Wachter, die sich auch nicht so richtig wohl in ihrer Haut fühlte. Wir mussten alle vier zugreifen.

»Wow, sind die fein«, sagte meine Mama, »Sie müssen mir unbedingt das Rezept geben. Oder, was meint ihr?«

Meine Mama blickte uns drei auffordernd an.

»Die sind ja sensationell«, lobte mein Papa.

»Sowas von lecker«, schmatzte meine Schwester.

»Boah, ich krieg die Teile kaum runter«, würgte ich, »ich glaube, das sind die schlechtesten, härtesten Plätzchen, die ich jemals gegessen habe«.

Entsetzt haftete der Blick meiner Mama auf mir. Genau in diesem Augenblick sprang der Kater von den Wachters, Pablo, zwischen den Beinen unserer Nachbarn durch herein in unser Haus.

»Oh, das tut mir aber leid«, entschuldigte sich Frau Wachter und versuchte Pablo wieder herauszulocken. Der Kater sträubte sich aber und versteckte sich hinter der Schuhkommode.

»Das ist doch kein Problem, so ein süßer Kater darf immer zu uns ins Haus«, meinte da mein Papa und versuchte gleichzeitig, dieses Fellknäuel irgendwie zu fassen zu bekommen.

»Schön, tierliebe Nachbarn zu haben«, freute sich Herr Wachter und schaute zu Finni und mir. »Na, habt ihr beide unseren Kater Pablo auch so gern wie euer Papa?«

»Oh ja, ich liebe Katzen«, sagte Finni.

»Nein, ich mag keine Katzen«, sagte ich, »und Papa hasst Ihren Kater auch voll. Der wirft immer fluchend Holzscheite nach ihm, wenn keiner hinschaut.«

Erschrocken starrten Herr und Frau Wachter zu meinem Papa. Gleichzeitig blickten Papa und Mama mich entsetzt an. Ich schaute zu unseren Nachbarn und war zufrieden, dass ich mein Versprechen bisher so gut eingehalten hatte.

»Da schwindelt der Hannes natürlich, der will Sie nur reinlegen«, meinte mein Vater und lächelte verlegen.

Unsere Nachbarn lächelten peinlich berührt zurück.

»Ja, der Hannes ist halt ein kleiner Witzbold«, nickte Frau Wachter.

»Oh ja, das ist er«, nickte meine Mama unsicher und drückte ihre Hand auf meine Schulter. Durchaus deutlich zu fest, wie ich fand.

»Nun, wir werden uns dann mal wieder verabschieden«, lächelte Frau Wachter, »wir belohnen uns heute Abend mit einem Weihnachtsfestmahl, weil wir in den letzten Wochen jeder sieben Kilo abgenommen haben.«

»Das ist ja wunderbar«, meinte da meine Mama, »ich habe mir gleich gedacht, dass Sie viel frischer und gesünder aussehen. Großes Kompliment! Und Ihre neue Frisur, Frau Wachter, die ist einfach klasse. Nicht wahr?«

Wieder blickte meine Mama uns drei auffordernd an.

»Sie sehen richtig gut aus, richtig vital. Die Frisur unterstreicht das«, bestätigte mein Vater.

»Sie schauen total sportlich aus, Frau Wachter!«, bestätigte auch Finni.

»Also mir wäre nicht aufgefallen, dass da sieben Kilo weg sind«, sagte ich, »aber wahrscheinlich fällt das bei der Masse halt nicht so ins Gewicht wie bei anderen. Und Ihre Haare, naja, also, Ihre lila Haare, puh, die sind einfach nur richtig schei …«

»Schick! Richtig SCHICK, möchte Hannes sagen!«, fiel mir meine Mama einfach ins Wort. Unglaublich, dass einen die Erwachsenen nie ausreden lassen. Aber da verabschiedeten sich die Wachters dann doch tatsächlich freundlich lächelnd. Meine Eltern und Finni lächelten höflich zurück, sahen dabei aber so aus, als würden sie am liebsten im Boden versinken. Ich lächelte nicht, denn schließlich wäre das in dieser Situation gelogen gewesen. Ich grinste stattdessen zufrieden über den Erfolg meiner Ehrlichkeit. Ehrlichsein war doch gar nicht so schlimm, wie ich das erwartet hatte.

Kaum war die Tür zu, schrien mich meine Eltern an: »Was fällt dir ein, Hannes, so unverschämt zu sein?!?«

»Mama, ich habe dir versprochen, ehrlich zu sein. Und versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen!«

Kurz vorm Explodieren schienen meine Eltern tatsächlich innezuhalten und zu überlegen. Meine Worte hatten gesessen. Endlich war ich wieder voll im Spiel!

Es erklärt sich von selbst, dass ich von meinem Wahrheitsversprechen noch vor dem Mittagessen höchst offiziell von meiner Mama erlöst wurde. Wobei, eigentlich hat sie sich damit ja nur selbst erlöst, denn nachmittags sind noch weitere Besucher zu uns gekommen, die uns in neuen Kleidungsstücken und mit neuen Topffrisuren Geschenke und Plätzchen und vieles mehr vorbeibrachten.

Ich fand übrigens alle Geschenke, Plätzchen, Frisuren, Klamotten, Witze und so weiter einfach nur sensationell und schön, ist doch klar – etwas anderes würde mir ehrlicherweise (oder eigentlich UNehrlicherweise) nie über die Lippen kommen. So ehrlich muss ich dann doch sein.

Weihnachtstraum

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