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Das Märchen vom Weihnachtstraum

Es war die Nacht des Heiligen Abends. Ein Mann mittleren Alters stand am Fenster und blickte hinaus. Die Lichter aus den Nachbarhäusern erhellten warm die Dunkelheit. Leise und sacht klopften kleine Schneegraupel an die Fensterscheibe und ein unerbittlicher Wind ließ die Sträucher tanzen.

Seine Frau und seine Kinder schliefen bereits tief und fest. Er konnte sich nicht vom Fenster lösen. Schemenhaft erkannte er die Umrisse der Kirche und dahinter die gemächlich ansteigenden Hügel. Die Schneegraupel klopften weiter unablässig an die Scheibe.

»Worauf wartest du?«

Wer hatte das gesagt? Wer war da?

Er kannte die Stimme nicht. Er sah auch niemanden.

»Gib mir deine Hand!«

Hier musste jemand sein! Oder einfach nur ein Hirngespinst nach einem langen, erfüllten Weihnachtstag?

Der Mann blickte sich im dunklen Raum um. Zu seinen Füßen entdeckte er seinen Teddy, sein Kuscheltier, ohne das er in Kindertagen nicht ins Bett gegangen wäre. Seine Mutter hatte den Teddy letzte Woche in einer Erinnerungsschachtel auf dem Dachboden gefunden und ihm freudestrahlend zu Weihnachten geschenkt.

»Lass uns aufbrechen!«

Nun hatte er es ganz deutlich gehört: Der Teddy hatte zu ihm gesprochen. Das Kuscheltier blickte ihn an und zwinkerte ihm sogar lächelnd zu.

»Mach dir keine Gedanken!«, befahl sich der Mann und gab dem Teddy seine Hand.

Plötzlich strahlte durch das Fenster gleißend helles Licht, als würde die Sonne direkt davorstehen. Doch der Mann konnte in die Helligkeit hineinblicken. Er musste sich keine Hand vor die Augen halten und empfand keinen Schmerz.

Er merkte, wie er an der Hand des Teddys langsam zu schweben begann. Wie von Geisterhand öffneten sich die Flügel des Fensters. Sie flogen hinaus ins Licht. Der Mann spürte, wie die Last der vielen Gedanken und Sorgen, die das Erwachsenenalter so mit sich bringt, langsam von seinen Schultern wich. Er empfand Freiheit.

Wie lange sie flogen, konnte er nicht sagen. Waren es Sekunden? Waren es Stunden? Auf einmal erkannte er, dass das helle Strahlen, das alles um ihn herum erleuchtete, aus einem anderen geöffneten Fenster kam. Auf dieses bewegten sie sich zu.

Es war ein älteres Flügelfenster aus Holz. Die Lackfarbe blätterte schon etwas von den Sprossen ab. Aber es sah gemütlich und einladend aus.

Sie flogen hindurch und hinein in ein Zimmer, das der Mann aus allen Zimmern auf der ganzen weiten Welt herauskennen würde. Sie landeten im Wohnzimmer seiner Eltern, und zwar in dem, wie es vor Jahrzehnten ausgesehen hatte.

Ein glänzender Christbaum stand in der Mitte des Raums. Er war mit roten und goldenen Kugeln sowie mit Lametta geschmückt. Echte rote Kerzen brannten. Es roch nach Wachs, nach Räucherkerzen, nach Fichte, nach Orangen, nach … Kindheit.

Leise hörte er ein Glöckchen klingeln. Vor der Tür war freudiges Lachen und aufgeregtes Reden zu vernehmen. Er sah, wie die Türklinke vorsichtig nach unten gedrückt wurde.

Da sprang auch schon ein Junge im Vorschulalter fröhlich und nervös herein. Der Mann erkannte ihn. Er erkannte sich selbst.

Dem Jungen folgten lachend seine älteren Geschwister und seine Eltern. Der Mann sah, wie sich die ganze Familie aneinandergekuschelt um den Christbaum setzte und den wunderschönen Baum bestaunte. Er hörte, wie alle gemeinsam Weihnachtslieder sangen und wie die Kinder darum baten, endlich die Geschenke auspacken zu dürfen. Er roch den perfekten Weihnachtsduft. Ein Duft, der unbeschreiblich und doch ganz einfach, der besonders und doch ganz selbstverständlich ist.

Er spürte das Glück in diesem Raum und die Unbeschwertheit der Kindertage. Er erkannte, wie sicher, behütet und wohl sich er und seine Geschwister als Kinder fühlen durften. Er sah, wie sein kindliches Ich völlig überwältigt vom Zauber des weihnachtlichen Augenblicks zu seinem Vater aufschaute. Und er erkannte, wie glücklich und stolz sein Vater auf seine Familie hinunterblickte, ein Gefühl der vollkommenen Sicherheit.

Genauso stolz und glücklich hatte er vor wenigen Stunden auf seine Familie hinuntergeblickt. Ein Blick aus einer anderen, einer erwachsenen Perspektive. Aber ein Blick, der in ihm so viele wundervolle Augenblicke der letzten Jahre und Jahrzehnte aufleben ließ. Ein Blick, der seinen Kindern nun die vollkommene Sicherheit schenkte. Ein Blick voller Zufriedenheit und Glück und Dankbarkeit. Für alles.

Plötzlich stand der Mann wieder in seinem Haus am Fenster. Der Teddy saß zu seinen Füßen und schaute zufrieden aus. Er hob ihn auf, lächelte ihn an und flüsterte ihm zu:

»Alles zu seiner Zeit. Ein Traum.«

Weihnachtstraum

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