Читать книгу Ludwigs Schicksalsjahre - Hans-Peter von Peschke - Страница 12
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Der junge König
E s war ein Ereignis, das uns alle aus der Bahn – mich aus meiner Militärlaufbahn – warf; ich hatte gerade eine meiner ersten Offizierswachen im Karlstor hinter mir. Auf dem Heimweg kehrte ich noch schnell beim nahe gelegenen Augustiner ein, um mit etwas Starkbier – es war Fastenzeit – die nötige Bettschwere zu erhalten. Plötzlich stand Paul von Thurn und Taxis vor mir, sichtlich nervös und erregt: »Gott sei Dank, dass ich dich endlich finde. Ludwig verlangt nach dir.«
Ich schüttelte unwillig den Kopf. »Hat das nicht Zeit? Ich bin saumüde, ich habe im wahrsten Sinne des Wortes die ganze Nacht durchgewacht.«
»Es ist dringend. Der König, der König …«, stammelte er.
»Was ist mit dem König?«
»Er stirbt … vielleicht!«
Es war der Morgen des 9. März 1864. Nunmehr hellwach ging ich schnellen Schrittes zur Residenz, wo ich den Kronprinzen erschüttert und fast ein wenig aufgelöst vorfand. »Noch gestern haben die Ärzte es nicht ernst genommen, er hat sogar Erzherzog Albrecht am Krankenbett empfangen. Es war ja nur eine kleine Schwellung auf der linken Brust«, meinte er kopfschüttelnd. »Und heute Nacht gegen drei Uhr kaum mehr ein Puls, Schweißausbrüche!«
»Und jetzt?«
»Die Ärzte sagen meiner Mutter, es gäbe noch Hoffnung.«
Am späten Nachmittag hieß es in einem ersten ärztlichen Bulletin: »Seine Majestät der König leidet an einem ausgedehnten Rotlauf der linken Brustwand, in dessen Folge Allerhöchstderselbe sich in einem bedenklichen Zustand befindet.«
Freilich erreichte diese Mitteilung noch kaum jemand, denn sie sollte erst am nächsten Tag als Extrabeilage in der Bayerischen Zeitung erscheinen. Aber als kurz nach sechs Regisseur Sigl im Hoftheater die Vorstellung mit den Worten »Seine Majestät ist schwer erkrankt« absagte, da verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer.
Ludwig sah ich nicht mehr. Er war mit der gesamten königlichen Familie vor oder im Sterbezimmer versammelt. Mit Ausnahme von Ludwig I., der gerade Nordafrika besuchte. Fast eine Stunde war Ludwig allein bei seinem Vater. Er hat nie darüber gesprochen, auch mit mir nicht. Später wurde kolportiert, dass die beiden so laut und vernehmlich gesprochen hätten, dass man sie bis ins Nebenzimmer gehört hätte. Und Maximilian II. hätte zu seinem Sohn gesagt: »Ich wünsche dir, dass du einmal einen ebenso ruhigen Tod finden mögest wie ich!«
Ich persönlich glaube, dass der König nicht mehr so zusammenhängend sprechen konnte, aber vielleicht seinen Sohn mit Gesten beruhigte, ihm in wenigen Worten Trost zusprach und Glück für seine Herrschaft wünschte. Dass er sterben würde, war ihm in diesem Moment vielleicht klarer als Ludwig. Wie der empfand, las ich später in seinem Tagebuch:
9 Uhr hinübergerufen, immer schlechter. Alles da, Gerüchte in der Stadt, waren lange in dem Nebenzimmer, furchtbarer Augenblick, viele Menschen, große Theilnahme, hineingerufen, ging schon zum Vater, Liebe Kinder! noch gesagt, letztes Mal Ihn bei Bewußtsein gesehen, 3 / 4 12 hinein, in den letzten Zügen, Erzbischof Sterbegebete gesprochen, standen am Bette, wehe! wehe! tiefer Schmerz! Stöhnte, Todeskampf kurz – †! – bei Gott! – Bleiben noch bei der Mutter. Drückte nach dem Tode dem Entschlafenen die Augen zu! – Gott empfange seine Seele!
Am frühen Morgen des 10. März wurde die Münchner Bevölkerung durch das Läuten der Bennoglocke der Frauenkirche geweckt. Es war das Signal, dass alle für den König beten sollten. Die Menschen drängten sich vor der Residenz, in Scharen kamen sie sogar bis in die Vorzimmer der königlichen Gemächer, wo sie von Baron Moy, Max’ Flügeladjutanten, über den traurigen Zustand des Monarchen informiert wurden. Um Viertel vor zwölf Uhr starb er, wieder läutete die große Glocke des Doms zu Unserer Lieben Frau, und als alle Kirchenglocken der Stadt einfielen, da wusste es auch die Bevölkerung.
Obwohl er seinen Vater ja nicht sonderlich geliebt hatte, war Ludwig doch tief bewegt und aufgewühlt. »Ich empfand tiefen Schmerz, vor allem das letzte Stöhnen meines Vaters war herzzerreißend«, sagte er zu mir. Als er aus dem Sterbezimmer kam und ihn plötzlich ein Bediensteter mit »Majestät« ansprach, wurde er kreidebleich und wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Aber er fing sich sehr bald und wollte alles tun, seine ihm plötzlich zugefallene Aufgabe anzunehmen. Schon am 12. März schrieb er in sein Tagebuch: »Sonnabend Geschäfte, begann um halb 9:00 Uhr« und dann über die gesamte Seitenbreite »König«.
So weit die Innenansicht dieser bewegten Tage. Wie sich das von außen darstellte, schildert Trutz von Greifenklau in einem Brief an Bismarck, den er am 14. März 1864 abschickte:
Sie haben mich ja gebeten, ungeniert Stimmen und Stimmungen aus diesem mir noch immer unvertrauten Bayernland zu schildern. Es war eine bewegte und bewegende Woche, die mit dem unerwarteten Tod des Königs begann. Schon immer wusste man, dass Max kränkelte, er war ja deshalb im Winter wie schon in den letzten Jahren in Italien, um sich im wärmeren Klima zu erholen. Diesmal kam er wegen der Schleswig-Holstein-Krise mehr von seinen Ministern gerufen als dem eigenen Triebe folgend zurück. Viele glauben, dass diese Anstrengung und die schwierige Situation seinen Tod beschleunigten.
Als am Mittag des 10. März alle Glocken Münchens schlugen, da hatte ich wie die ganze Bevölkerung erst am Abend zuvor erfahren, dass der König ernstlich krank sei. Hier in der Hauptstadt glaubte ich ehrliche Trauer über seinen Tod zu spüren, obwohl die Bayern mit ihrem zweiten Max irgendwie nicht warm geworden sind, ganz anders als mit seinem Vater Ludwig, den sie noch immer lieben, auch wenn sie ihn wegen seiner Liaison mit der feschen Lola vom Thron gejagt haben. Aber jetzt wird vielen erst richtig klar, dass die Jahre unter Max gute, vor allem ruhige Jahre waren.
Gleichzeitig werfen die Bayern, wenn sie nicht der schwärmerischen Damenwelt angehören, bange Blicke auf den jungen Thronfolger. Der Schriftsteller Paul Heyse vertraute mir an: »Das Land selbst ist im wahrsten Sinne des Wortes verwaist, der junge Thronfolger nur den Jahren nach mündig, ein guter, harmloser, feiner Jüngling von schwacher Gesundheit und an Geist und Charakter ein unbeschriebenes Blatt!« und weiter: »Nirgends in seiner Umgebung ein fester Halt, ein Ratgeber, auf den sich die Blicke vertrauensvoll richteten; nirgends ein Staatsmann, der der bedrohlichen und verwickelten Situation gewachsen wäre.« Aber Heyse war natürlich ein besonderer Protegé von Max II., und dessen Favoriten – so munkelt man – wurden und werden ja von Ludwig nicht besonders geliebt.
Auf jeden Fall hat der junge König – nicht nur bei besagter Damenwelt – einen blendenden Eindruck hinterlassen. Nachdem er den vorgeschriebenen Eid auf die Verfassung abgelegt hatte, sagte er so kurz wie bescheiden: »Der allmächtige Gott hat Meinen teueren, viel geliebten Vater von dieser Erde abberufen. Ich kann nicht aussprechen, welche Gefühle Meine Brust durchdringen. Groß ist und schwer die Mir gewordene Aufgabe. Ich baue auf Gott, dass Er Mir Licht und Kraft schicke, sie zu erfüllen. Treu dem Eid, den Ich soeben geleistet, und im Geiste Unserer durch fast ein halbes Jahrhundert bewährten Verfassung will Ich regieren. Meines geliebten Bayernvolkes Wohlfahrt und Deutschlands Größe seien die Zielpunkte Meines Strebens. Unterstützen Sie Mich in Meinen inhaltsschweren Pflichten!«
Beeindruckt hat Tausende von Münchnern, die während des Trauerzuges die Straßen säumten, wie ernst und gefasst er hinter dem Sarg seines Vaters schritt und entgegen dem vorgeschriebenen Protokoll seinen Bruder Otto neben sich gehen ließ. Rhetorisch glänzend, aber auch hochinteressant – weshalb ich sie hier in Ausschnitten wiedergebe – war auch die Rede von Stiftsprobst Döllinger in der Hofkirche: »Das Staatsschiff Bayerns ist jetzt den reinen, unschuldigen Händen eines sehr jugendlichen Steuermanns anvertraut. Aber die älteren Glieder unseres Königshauses und die erfahrenen, lange erprobten Räte und Diener seines königlichen Vaters stehen ihm helfend, beratend, dienend zur Seite; die ganze Nation trägt ihm ihre Liebe und ihr Vertrauen entgegen.« So weit, so gut, aber dann: »Der verdiente nicht, den Namen eines Bayern zu tragen, der etwa wähnen möchte, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, der Jugend des Monarchen und der Neuheit seiner Regierung etwas abzupressen, eines seiner Grundrechte ihm zu schmälern oder gar zu entreißen … Was dem Lande Bayern vor allem Not tut in dieser Zeit einer umwölkten Gegenwart, einer ungewissen und dunkel drohenden Zukunft, das ist ein starkes Königtum, ein Thron, welcher ruhe auf dem Felsengrunde der grundsätzlichen Treue, der gewissenhaften Hingebung der Untertanen und nicht auf dem Flugsande einer trügerischen Popularität, welche mit Konzessionen an Tagesmeinungen viel zu teuer erkauft wäre. Wir bedürfen eines Königtums, das auch im Sturm fest stehe wie eine Eiche, nicht aber gleich einem schwankenden Schilfrohre von jedem Windstoß verändert, von der da oder dort sich kundgebenden Volksstimmung bald so, bald anders gebeugt werde.« Da hat Döllinger recht: »Jetzt wird der Kampf um die Gunst des Königs einsetzen, einige werden mit ihm, einige an ihm vorbei regieren wollen. Und keiner weiß so recht, was hinter der glänzenden Fassade steckt! Übrigens auch unsere Konkurrenten: Kaiser Franz Joseph wird ihn schon in den nächsten Tagen zum Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies machen. Weitere Ordensverleihungen werden folgen und wir sollten uns da nicht zurückhalten …«
In diesen Tagen hatte man es mit Ludwig nicht leicht, als König und als Freund! Manchmal rangen zwei Persönlichkeiten in seiner Brust – die des ernsten, um Volk und Land besorgten Monarchen und dann die durchaus liebenswerte Persönlichkeit des schwärmerischen Kunstgeistes und Fantasten. Ich erinnere mich da an ein Gespräch im Mai 1864 in der Residenz, als er mir aufgeregt entgegenkam. »Er ist da, endlich ist er da! Ich habe ihn gesehen, mit ihm gesprochen, seine Hand gedrückt!«
»Wer ist da?«, fragte ich irritiert.
»Wagner natürlich, der göttliche Komponist, was sage ich, Schöpfer von wirklichen Gesamtkunstwerken. Seit ich den Lohengrin gelesen und dann gesehen habe, verehre ich den Meister. Pfistermeister hat ihn in Stuttgart aufgespürt und seit gestern ist er in München. Ich habe ihm versichert, dass ich die niederen Sorgen des Alltagslebens von ihm nehmen will, damit er bei uns in Bayern die mächtigen Schwingen seines Genius ungestört entfalten kann.«
»Das freut mich für dich«, fiel ich ihm ins Wort. »Aber solltest du dich nicht auf andere Fragen konzentrieren? Es gibt genug Probleme …«
»Aber das ist doch das Problem, dass meine Bayern so wenig von Kunst und Kultur verstehen!« Ludwig sprühte vor Energie. »Mein Vater hat immer nur Wissenschaft und Technik gefördert, ich aber will die Kunst, alles Schöne fördern!«
»Aber hat da dein Vater nicht – ausnahmsweise – recht gehabt?«, wagte ich einzuwerfen. »Ist der Kampf um den ›Rohstoff Geist‹, der ›Kampf um die besten Köpfe‹ gerade für ein Land wie Bayern nicht entscheidend?«
»Wenn ich etwas von der Politik meines Vaters übernehme, dann das!«, stimmte er mir fast beiläufig zu, um dann wieder enthusiastisch fortzufahren: »Aber es geht auch um die besten Künstlerköpfe und um die Köpfe meiner Untertanen. Ich will sie durch die Aufführung seriöser, bedeutender Werke – Shakespeare, Calderon, Goethe, Schiller, Beethoven, Mozart, Gluck, Weber – in eine gehobene, von innerer Einsicht getragene Stimmung versetzen und damit auf die zu erwartenden Wunderwerke Wagners vorbereiten.«
Er war in einer der euphorischen Stimmungen, von denen ich ihn – wenn es denn gelang – herunterzuholen versuchte. »Trotzdem musst du jetzt vor allem in die Niederungen der Politik hinabsteigen …«
Der König seufzte. »Lass mir doch meine kleinen Freuden. Aber du hast recht, wir müssen so viel anderes tun: die Kirche zurechtstutzen, was den Ultramontanen und meiner bigotten Mutter nicht gefallen wird, sowie Bayerns Selbstständigkeit bewahren, und dafür braucht es mehr innere Stärke, dazu muss ich mich auf alle Klassen stützen können.«
»Dann aber musst du den gedrückten, den unteren Klassen entgegenkommen«, warf ich ein.
Ludwig schaute mich nachsichtig an: »Ich weiß, die soziale Frage ist dein Steckenpferd …«
»Ich sehe die rechtlosen Massen, die Arbeiterbewegung stärker werden. Wir müssen diesen um Verbesserung Ringenden die rettende Hand darreichen. Sonst werden sie das immer enger werdende Gefäß unseres Staates sprengen. Wenn Monarchen dies nicht sehen, gehen sie unter! Die Französische Revolution hat es gezeigt. Die Aufgabe von Königen sind Reformen, die Evolution und Entwicklung ihres Landes.«
Ludwig schüttelte nachdenklich den Kopf: »Nicht, dass mir all diese Gedanken gefallen. Aber ich werde auf Reformen im sozialen Bereich ebenso drängen wie auf die Entfaltung von Wirtschaft, Wissenschaft und – notabene, mein Freund – Kultur. Sei versichert, ein Schattenkönig will ich nicht sein, auch wenn das wohlmeinende Ministerialbeamte wünschen.«
Von diesen Gedanken fand sich freilich wenig in seinem Regierungsprogramm. Da ging es vor allem um die Aufrechterhaltung der Rechte des Monarchen und die Abwehr von Reformen, die die Rechte der Kammer der Abgeordneten und Reichsräte stärken wollten. Er ließ durchblicken, dass er die Macht des Königs beibehalten, ja stärken wollte. Zudem forderte er von seinen Ministern, dass sie sich gegen die Einflussversuche von Richtern, Advokaten und Notaren verwehren sollten. Die Juden sollten besser behandelt, freilich nicht völlig gleichgestellt werden. Außenpolitisch unterschied sich seine Linie kaum von der seines Vaters. Noch stärker als dieser forderte er die Integrität und Souveränität Bayerns, das er als führende Kraft der Mittelstaaten zwischen Preußen und Österreich sah.
Dass die soziale Komponente in dieser ersten Regierungserklärung fast völlig fehlte, hieß nicht, dass er Reformen in diesem Bereich für unnötig hielt – im Gegenteil, wie aus seinen späteren Äußerungen etwa gegenüber Professor Huber oder Ludwig Feuerbach deutlich wurde. Er wollte nur zunächst die Machtfülle des Königs restaurieren, denn die hielt er für seine Regierungsweise für unabdingbar. Von dieser Haltung rückte er im Grunde bis zu seinem Rücktritt nicht ab, auch wenn er sie angesichts der Macht des Faktischen nie durchsetzen konnte.
Ebenfalls im Mai 1864 wurde mir ein Billett gereicht, dessen Urheber ich am Siegel gleich erkennen konnte. Es kam von dem ehemaligen Monarchen Ludwig I., der mit mir reden wollte. Er nahm regen Anteil an der Regierungstätigkeit seines Enkels und versuchte, ihm ein guter Ratgeber zu sein, was Ludwig mit gemischten Gefühlen aufnahm. Einerseits schätzte, ja liebte er seinen Großvater, andererseits war ihm gerade in dieser Zeit alles verhasst, was nach Bevormundung aussah.
Deshalb wäre ich am liebsten der Aufforderung – es war beileibe keine höfliche Bitte – nicht gefolgt, aber wie konnte ich mich dem Ersuchen des früheren Königs verweigern? Persönlich hatte ich ihn bereits kennengelernt, allerdings immer nur in Begleitung des Kronprinzen, der wie ich seine pointierten Bemerkungen – oft genug war hier auch sein Sohn König Max Ziel von Kritik und Spott – und vor allem seinen treffsicheren Witz schätzte. Also machte ich mich auf zum Wittelsbacher Palais, wo er sich übrigens nicht oft aufhielt. Er weilte vielmehr auf seinen Besitzen in Berchtesgaden und Aschaffenburg oder auf der Ludwigshöhe in der Pfalz. Monate verbrachte er auch in Leopoldskron in der Nähe von Salzburg und natürlich in seiner Villa Malta in Rom.
Dies hing auch damit zusammen, dass Ludwig I. das Wittelsbacher Palais, obwohl Prachtbau, nicht sehr liebte. Es war an der Brienner- und Türkenstraße eigentlich für seinen Sohn, den späteren König Maximilian II., gebaut worden. Und der bevorzugte im Gegensatz zu seinem Vater den gotischen Stil mit Spitzbogenfenstern. Ludwig I. verkniff es sich nicht, den Satz des Architekten Friedrich von Gärtner immer wieder zu zitieren, nach dem dieses Palais »der zuwiderste Bau, den ich geführt habe« gewesen sei. Wie auch immer, nach seiner Abdankung hatte er aus der Residenz ausziehen müssen und seither das eigentlich für seinen Sohn gedachte Gebäude bewohnt.
Ludwig I. stand mit verschränkten Armen im Erker seines mit Büsten und Baumodellen gefüllten großen Arbeitszimmers und wandte sich mir freundlich zu. »Danke, dass Ihr gekommen seid, Weißenstein. Ihr habt euch sicher gefragt, warum ich Euch sprechen will und wohl vermutet, dass es um meinen Enkel geht. Natürlich habe ich bemerkt, dass Ihr mit ihm einen vertrauten Umgang pflegt. Deshalb wäre mir Eure Meinung über die ersten Wochen seiner Regierungszeit wichtig.« Er sah mich lächelnd an, hob abwehrend die Hände und fügte hinzu: »Ich sehe es Euch an. Ihr befürchtet, ich wollte Euch zu Indiskretionen verleiten. Darum geht es mir nicht, sondern um eine zweite, vielleicht andere Sichtweise. Es ist Euch sicher nicht entgangen, dass ich mich immer wieder mit Pfistermeister treffe, der mir von Ludwigs Tätigkeit, aber auch seinen Problemen berichtet. Aber Pfistermeister ist ein alter Kärrner, ein konservativer Oberpfälzer mit sehr festen Meinungen und Wertvorstellungen, die ich meistens durchaus teile. Ihr dagegen seid ein junger Mann im Alter meines Enkels, mit dem er über seine Pläne und mögliche Veränderungen diskutiert. Also sprecht bitte frei heraus bis zu dem Punkt, wo Ihr glaubt, dass Ihr eure Loyalität zum König verletzt.« In solchen Momenten schweigt man am besten. Ludwig I. nahm das als selbstverständliche Zustimmung und kam gleich zur Sache: »Er hat sich also diesen Wagner geholt. Warum nicht, wenn ihm das ein Herzensanliegen ist und er sonst seine Sache ordentlich macht. Mir tut Ludwig leid. Seine Jugend ist hin, mit achtzehn Jahren kommt er schon auf den Thron, in einem Alter, wo er noch keine Erfahrung haben kann, keine Geschäftskenntnis, und das in einer so schwierigen Zeit.«
»Ein wenig kann ich da Eure Majestät schon beruhigen. Der König nimmt seine Aufgabe sehr ernst, ist gut vorbereitet und informiert, oft zur großen Verwunderung seiner Umgebung.« Ludwigs Großvater sah mich sehr skeptisch an, also fuhr ich fort: »Ich will seine schwere Last nicht schönreden. Er sieht alle Tage einen oder mehrere Minister, was sie nicht erwartet haben und sie doch beeindruckt. Übrigens: Das ist einigen Ministern gar nicht recht. Sie mögen es nicht, dass der junge König in ihre Bereiche ›hineinregiert‹.«
»Als ob sie unser königliches Recht nicht schon genügend eingeschränkt hätten. Jedes Gesetz – und sei es noch so gering – bedarf nach der neuen Verfassung der Gegenzeichnung durch einen dem Parlament verantwortlichen Minister. Solche ›Aufpasser‹ finde ich schlichtweg entwürdigend.«
Ich nickte zustimmend. »Ludwig spricht inzwischen von der ›bürokratischen Meuterei‹, die er schnell beenden müsse. Der Freiherr von Schrenk muss sich vorsehen …«
Der frühere König lachte amüsiert und meinte: »Der Schrenk ist ein von sich zu sehr überzeugter Hofdiplomat. Er kann anerkannt brillante Tischreden vom Stapel lassen, ein auf lange Erfahrung gegründetes Urteil über die Vorzüge einer Weinsorte, einer Auster oder einer Trüffel abgeben, sieht aber nicht, dass seine ökonomischen und politischen Kenntnisse beschränkt sind und er vielleicht selbst guten Rat nötig hätte.«
Ludwig I. konnte, wenn er wollte, sehr treffend und ironisch formulieren und ich gab ihm, was den Außenminister betraf, recht. »Es gab schon einige typische Auseinandersetzungen. Schrenk redete über die schleswig-holsteinische Frage und war bass erstaunt, dass ihn der König unterbrach und eine höchst detaillierte Analyse lieferte. Als Schrenk fragte, woher er diese profunde Kenntnis habe, erklärte ihm Ludwig, er habe sich während seiner Krankheit im Winter intensiv damit beschäftigt und er gedenke, sich bei allen wichtigen Fragen auf dem Laufenden zu halten, und erwarte dazu regelmäßig mündliche und schriftliche Berichte seiner Minister.«
»Mit Leuten wie Schrenk wird es mein Enkel nicht leicht haben, vor allem, wenn er selbst etwas bewegen will und nicht zu allem Ja und Amen sagt!«
»Der Konflikt wird ausbrechen«, prophezeite ich. »Erst neulich hat Ludwig Schrenk erbost geschrieben – es ging um den neuen Zollvereinsvertrag: ›Wie werde ich im Stande sein, in so wichtigen Fragen, wo es nötig ist, Schlussentscheide zu fassen, wenn ich in denselben nicht immer auf dem Laufenden bin?‹«
Ludwig I. schüttelte den Kopf und seufzte: »Er will selbst entscheiden und notfalls auch gegen seine Minister. Da hat er sich ja einiges vorgenommen.«
»Dafür arbeitet er auch viel und intensiv. Morgens kommen die Sekretäre um halb neun bis halb zehn oder zehn Uhr …«
»… ein bisschen spät, aber mein Herr Enkel verwendet viel Zeit auf die Morgentoilette. Allein die Frisur soll eine Stunde dauern«, warf er ironisch ein, worauf ich fast heftig erwiderte: »Spottet nicht, Majestät. Ludwigs Tag ist lang. Zweimal in der Woche kommt Hofsekretär Hofmann von zehn bis elf; um elf Uhr jeden Tag ein Minister, dann nimmt Ludwig ein zweites Frühstück ein. Gewöhnlich um zwölf Uhr erteilt er Audienzen, dann fährt er aus, reitet oder geht spazieren, oft mit einem Vertrauten oder ausgewählten Beamten, der ihn über ein Thema informiert; um vier Uhr ist die Tafel, um sechs Uhr kommt abwechselnd je einer von den Sekretären und liest dann die Zeitungen vor, was bis gegen neun Uhr dauert; dann nimmt er einen Tee ein.«
»Da bringt er Minister und Kabinettssekretariat ja ganz schön auf Trab. Aber wie, wenn er – was nicht selten ist – auswärts ist?«
»Er ist ja meistens auf Schloss Berg, aber das ist hervorragend organisiert«, beruhigte ich ihn. »Zweimal täglich werden Briefe und Schreiben dorthin gebracht, zudem gibt es einen Dienst für außerordentliche Fälle. Und Telegramme, die beim Depeschendienst in Starnberg ankommen, werden sofort per Pferd nach Berg gebracht.«
»Respekt, Respekt. Da hat mein Enkel in seinen ersten Tagen schon viel bewegt. Ob das die Hofbeamten so willig mitmachen werden?«
»Oh, er hat die Besoldung aller Hofbediensteten erhöht und verkündet: ›Es ist mein Wille, dass jegliche übertriebene Sparsamkeit und Knauserei ende.‹«
Ludwig I. nickte zustimmend. »Na ja, mein Sohn Max hat hier wirklich zu viel gespart. Aber Ludwig muss aufpassen, sonst hat er nicht genug für seine größeren Projekte. Erst neulich hat er angedeutet, dass er ein neues Schloss bauen will.«
»Ja, er plant offenbar etwas im Graswangtal. Er gibt ihm den Decknamen ›Meicost Ettal‹, das ist ein Anagramm für ›L’etat, c’est moi’‹.
Ludwigs erste Monate als König waren eine aufregende Zeit. Er genoss seine Popularität und wollte vieles anders machen als sein Vater. Dessen Ministern begegnete er misstrauisch, auch wenn er sie zunächst im Amt beließ. Bezeichnend war auch, dass er ein Lieblingsprojekt seines Vaters sofort stoppen ließ, nämlich den Bau eines imposanten Schlosses bei Feldafing. Die bereits errichteten Fundamente wurden zerstört und die Keller zugeschüttet. Zurück blieb ein Park, in dem nichts mehr an Max II. erinnerte.
Anders als sein Vater war Ludwig auch freigebig im doppelten Sinne: Möglichst jeder sollte bei ihm zur Audienz vorgelassen werden und er prüfte nicht nur jedes Gesuch an ihn, sondern versuchte, möglichst viele Bitten zu gewähren. Schon nach wenigen Tagen wurde klar, dass das nicht ging. Die Zahl der Audienzteilnehmer vervielfachte sich, mit dem Ergebnis, dass nun wieder jeder Besuch beim König vom Sekretariat geprüft und genehmigt wurde. Und bald konnte der König keinen Schritt außerhalb der Residenz tun, ohne dass Scharen von Gesuchstellern ihn umringten. Ich kann mich noch gut erinnern, dass die Zeitungen rührende Geschichten schrieben, wie Ludwig einen Knaben oder eine ältere Frau, die ihm in den ersten Tagen nach seiner Krönung Blumen schenkten, reich belohnt habe. In den Tagen darauf sah man immer mehr Personen mit Blumensträußen in der Hand in der Nähe der Residenz oder im Hofgarten, wo er, wenn er in München war, täglich beim Ausreiten zu sehen war.
Ludwig bemerkte auch, dass der strenge Tagesablauf in der Residenz ihm kaum Spielraum für andere Interessen ließ. Die Folge war, dass er sich Freiraum außerhalb Münchens suchte, vor allem in Berg und Hohenschwangau. Dorthin kamen dann nur ein oder höchstens zwei Minister zum Vortrag. Ansonsten erledigte er seine Aufgaben zwar pflichtgemäß, konnte die Lektüre von Vorlagen und seine Signaturen dazu aber zeitlich selbst planen, etwa in die späten Abendstunden verschieben und dadurch tagsüber Stunden für Ausritte oder den Besuch von Architekten und Künstlern, die für die Umgestaltung seiner Räume verantwortlich waren, gewinnen. Und er nahm sich – natürlich – auch viel Zeit für Richard Wagner.
Dazu kam, dass er über seine politischen Möglichkeiten und seinen Einfluss zunehmend enttäuscht war. Das zeigte sich exemplarisch für ihn an der Schleswig-Holstein-Frage. Nicht in der Sache, da war die Lage klar. Preußen und Österreich hatten das Heft selbst in die Hand genommen und den Krieg gegen Dänemark eingeleitet. Und die Mittelmächte im Deutschen Bund, an ihrer Spitze Bayern, waren bei diesem Geschehen nur ohnmächtige Zuschauer gewesen. Ludwig hatte dies bedauert und in Gesprächen mit seiner Familie, aber auch Freunden wie mir über eine Lösung nachgedacht, wie die Rolle seines Landes im Deutschen Bund wichtiger werden könnte. Ihm schwebte eine Mittlerrolle Bayerns zwischen Wien und Berlin vor – die nicht ganz neue Trias-Idee. Und er hatte auch einige Vorschläge, wie man in der Frage eines deutschen Zollvereins vorgehen sollte.
Er musste aber erleben, dass die Minister sich für seine Meinung wenig interessierten, weil sie ihn schlichtweg für inkompetent hielten. Sie freuten sich zwar über sein Interesse an ihren Vorträgen, die sie in meist professoralem Ton hielten, und erwarteten dann seine Zustimmung und Unterschrift zu ihren Vorlagen. Ludwig lernte schnell, wollte aber meist nicht wissen, welche Rolle die Beamtenschaft in Bayern spielte. Das Land war vom Grafen Montgelas, dem König Max I. freie Hand gelassen hatte, und nach dem Sturz des allmächtigen Ministers von dessen Nachfolgern, ebenfalls reformerischen Staatsdienern, zu einer konstitutionellen Monarchie geformt worden, die dem König wenig Spielraum ließ. Schon Ludwig I. war mit seinem durchaus ernst gemeinten Satz und Vorsatz »In Bayern herrscht und regiert der König« an dieser Wirklichkeit gescheitert. Ein preußischer Geschichtsprofessor hat mir augenzwinkernd einmal gesagt, in Bayern gäbe es keine aufgeklärte Monarchie, sondern eine aufgeklärte Bürokratie. Konkret hieß das, Ludwig konnte und musste gemeinsam mit den Beamten regieren, aber nicht gegen sie. Wer die Spitzen der Beamtenschaft vor die Frage stellte, König oder Staat?, musste davon ausgehen, dass sie sich für letzteren entscheiden würden.
Ohne es ursprünglich gewollt zu haben, wurde ich langsam in die Politik hineingezogen und natürlich auch in die Intrigen, wie sie offenbar an jedem Hof vorkommen, vor allem, wenn es einen Regierungswechsel gegeben hat. Die einen Beamten wollten sich besser positionieren, die anderen kämpften teils verzweifelt um Posten und Einfluss. Und alle glaubten, den jungen König beeinflussen zu können. Bald bemerkten sie, dass ich mich relativ oft mit Ludwig traf, auch ohne Erlaubnis des Kabinettssekretariats, über das sonst aller Zugang zu laufen hatte. Schon bald begegneten mir einige der Hofbeamten rein »zufällig« in den Gängen der Residenz, im Hofgarten oder sogar im Café Tambosi. Dreistere steckten mir einige Bittgesuche zu oder luden mich zu Soireen in ihre Häuser ein. Natürlich ging ich nicht darauf ein, denn ich wusste, dass Ludwig ziemlich sauer reagieren würde, wenn ich auch nur in den Verdacht geriet, mit einem seiner Höflinge gegen ihn zu paktieren oder gar bestechlich zu sein.
Weil ich erkannte, dass ich mich bisher zu wenig mit der Politik auseinandergesetzt hatte, suchte ich das Gespräch mit Leuten, die sich darin auskannten und mir den Eindruck vermittelten, dass sie darüber unabhängig und kritisch diskutieren konnten und auch bereit waren, mir zuzuhören und auf meine Fragen und Argumente einzugehen. Ich wollte und erwartete, dass sie mich als Person schätzten, nicht nur als potenziellen Kanal zum König.
Der Erste dieser Menschen war Josef Edmund Jörg. Ihn lernte ich im Mai 1864 in der Wohnung des Stiftprobsts Ignaz von Döllinger kennen und war beeindruckt. Wache Augen unter buschigen Augenbrauen, sorgfältig gescheiteltes Haar, Fliege über der Weste und gepflegte Lodenjacke. Vor allem aber war er streitlustig und hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, auch gegenüber seinem Gönner. Kaum dass ich das Zimmer betreten hatte, hörte ich ihn, offenbar auf Döllingers Predigt anspielend, sagen: »Es ist nicht richtig, alles zu vergessen, was König Max versäumt hat.«
»Nil nisi bene de mortuis«, erwiderte Döllinger mit einem feinen Lächeln.
Jörg schüttelte mit gespielter Verzweiflung den Kopf, aber in seiner Stimme war auch ein Anflug von bitterem Hohn zu hören: »Über die Toten nichts Schlechtes, ja, verehrter Sitftsprobst! Aber dürfen wir schönreden, was seine Schwächen waren? Der alte König starb in dem Moment, wo er hätte beweisen müssen, dass ihm zu jedem weiteren Schritt, nach vorwärts wie nach rückwärts, sowohl der Mut als jede Einsicht fehlte.«
»Ihr seid so bitter, weil Euch König Max bitteres Unrecht antat, als er Euch in die tiefste Provinz versetzte«, meinte der Stiftsprobst begütigend. »Bedenkt aber: Es war nicht der König, sondern seine Beamten, vor allem der Innenminister, und Ihr habt Euch ja auch nicht gerade geschickt …« Er unterbrach sich, weil er mich bemerkte. »Herr von Weißenstein, darf ich Euch meinen Schützling und Kampfesfreund vorstellen, den Herausgeber der Historisch-politischen Blätter und bayrischen Patrioten, Herrn Archivar Josef Edmund Jörg aus Neuburg an der Donau.«
»Dorthin strafversetzt …«, murmelte Jörg.
»… dessen geistreiche Analysen ich Euch und natürlich auch dem König wärmstens empfehlen kann. Überhaupt sollte ein solcher Mann seinen Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden und nicht als subalterner Schreiber sein kärgliches Dasein fristen.«
Mir war diese Bemerkung unangenehm, weil ich ja von allen möglichen Seiten ständig gebeten wurde, meinen Einfluss auf Ludwig – den man überschätzte – für eine Sache oder Person geltend zu machen. So antwortete ich zurückhaltend: »Macht eine Eingabe, der König wird sie prüfen. Aber Ihr könnt Euch vorstellen, dass er mit Bitten und Gesuchen zurzeit nur so überschwemmt wird.«
Als ich die Verlegenheit von Jörg sah, sprach ich ihn freundlich an. »Natürlich habe ich schon von Euch gehört. Und Euch auch gelesen, auch wenn mir Eure Argumente genauso oft sauer aufstoßen wie mir Eure spitze Feder gefällt. Sagt frei heraus, was Ihr von dem neuen König haltet und erhofft.«
Schnell ließ der Schreiber alle Zurückhaltung fallen: »Es ist nicht meine Sache, der allgemeinen Verlogenheit zu huldigen. Der alte König war rein eine Puppe derer, die seine immense Eitelkeit kitzelten. Den jungen Fürsten halte ich für gutwillig und talentiert. Aber bei seiner Jugend kommt alles darauf an, wer den Einfluss auf ihn gewinnt. Dass es die Camarilla des Vaters sein wird, glaube ich nicht; denn der junge Herr kennt diese Leute nur allzu gut und wird sie nach der üblichen Frist – in allen Ehren, versteht sich – entlassen.« Er lachte. »Zudem ist es im kurpfälzischen Hause herkömmlich, dass der Sohn den Pflug des Vaters verwirft. Gut finde ich, dass der König jetzt persönlich mit den Ministern konferiert. Das hat sein Vater nie getan, alles wurde über den Kabinettssekretär erledigt. Ich denke, das Wort des Königs muss wieder mehr Gewicht haben und über dem Parteiengezänk stehen …«
»Scharfzüngig, aber inhaltsarm geredet, Herr Jörg. Wohin soll Ludwig den Pflug – ob neu oder alt, sei dahingestellt – denn lenken? Richtung Preußen, Richtung Österreich? Wollt Ihr noch immer einen Kaiser als gemeinsames Oberhaupt des Deutschen Bundes?«
»Nicht sofort, nicht gleich und vor allem nicht zu jeden Bedingungen«, erwiderte Jörg ruhig. »Nur ein einiges Deutschland kann sich in Europa behaupten, deswegen bedarf es eines möglichst großen und einheitlichen Deutschen Bundes. Der aber wird zunehmend von der Rivalität der beiden Großen – Österreich und Preußen – geprägt. Wird eine der Mächte hinausgedrängt, gemeint ist Österreich, entsteht ein kleines Deutschland mit preußischer Dominanz. Das kann ich als Bayer und Katholik nicht wollen. Also müssen wir mit dem Dualismus leben, und als gemäßigter Bajuvarier strebe ich einen möglichst konvenablen Modus des Dualismus an. Da wäre ein ›großdeutscher Kaiser‹ nicht schlecht – als Galionsfigur eines Bundes –, der mehr als bisher zusammenhält, in dem aber die Einzelstaaten dennoch möglichst viel Selbstständigkeit erhalten.«
Ich lenkte das Gespräch auf die mir damals vorschwebende Idee eines dritten Deutschlands, in dem ja Bayern eine wichtige Rolle spielen könnte. Jörg zeigte sich da eher skeptisch: »Gerade jetzt in der SchleswigHolstein-Krise haben wir erfahren müssen, dass die Trias-Idee versagt hat. Leere Worte vergeuden, auf die lange Bank schieben, zur Not sich durchwinden ist immer die Politik des Dritten Deutschlands gewesen. Die Mittelstaaten, allen voran Bayern, haben gezögert und gezaudert, während Österreich und Preußen am 14. Januar die schleswig-holsteinische Frage in ihre bewaffnete Hand genommen haben. Ohne ihr entschlossenes Handeln wären die deutschen Interessen verloren gewesen.«
»Und haben damit die meisten europäischen Staaten gegen sich aufgebracht …«, gab Döllinger zu bedenken.
Wie auch bei vielen Gesprächen später behielt Jörg das letzte Wort: »Aber sie haben sich durchgesetzt, auch durch den genialen preußischen Minister, über den ich sonst nicht viel Gutes geschrieben habe. Die Eroberung und der siegreiche Feldzug gegen Dänemark war nichts Großes, aber es war etwas Großes, die Eroberung zu halten gegen halb Europa, den Neid Englands, die Missgunst Frankreichs und die Intrigen Russlands!«
Ich kann nicht sagen, dass dieser Josef Edmund Jörg bei unserer ersten Begegnung großen Eindruck auf mich gemacht hätte. Immerhin fand ich ihn so interessant, dass ich mich über seinen Werdegang erkundigte und ein Dossier über ihn anlegte: Sohn eines Glasermeisters und Gerichtsschreibers aus dem Allgäu, hervorragende Leistungen im Gymnasium, 1838 Studium der Philosophie und Theologie in München. Priester war er aber nicht geworden, weil er sich in eine – seine spätere – Frau verliebt und die Ehe den höheren Weihen vorgezogen hatte. Sicher ein Entschluss gegen die Karriere! Kontakt zur wohl aktivsten und bekanntesten Gruppe des deutschen Katholizismus um Joseph Görres, 1848 Gründungsmitglied des »Vereins für konstitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit«, seit 1852 hatte er die Redaktion der Historisch-politischen Blätter, der wohl bedeutendsten Zeitschrift des deutschen Katholizismus, übernommen. Von 1852 an Kanzlist im Königlichen Reichsarchiv, schon wegen seiner großen Familie hatte er Wert auf die sichere Stellung als Beamter gelegt – aber nicht um jeden Preis! In einem Artikel hatte er die Bürokratie kritisiert, weil sie die freiheitliche Selbstverwaltung untergraben würde. Innenminister Reigersberg hatte ihm mit der Entlassung gedroht, doch Jörg sich nicht einschüchtern lassen und den Brief des Ministers und seine ebenso scharfe wie ironische Antwort in den Historisch-politischen Blättern veröffentlicht. Die Antwort des Ministers hatte in einer Strafversetzung in die Provinz bestanden, ins kleine Archiv nach Neuburg an der Donau. Vergebliche Versuche seiner Freunde, vor allem von Döllinger, ihn wieder auf einen gehobenen Posten zurückversetzen zu lassen, waren beim Ministerrat und König Max allesamt abgeblitzt. Jetzt mit Ludwig auf dem Thron sah er wieder eine Chance auf eine bessere Stellung. Noch ahnte ich nicht, wie recht er damit haben sollte …
Fast jeden zweiten Tag wurde ich zum König gerufen, nachdem ihm zwei oder mehr Stunden lang Beamte seines Hofsekretariats aus Zeitungen und wichtigen Dossiers vorgelesen hatten. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen blickte er von seinem Arbeitszimmer in der Residenz auf das abendliche München, sinnierte vor sich hin, um dann, ohne sich umzudrehen, zu sagen: »Schenk dir doch einen Tee ein, Odilo!«
Ich schaute auf die hagere, lange Gestalt. »Du siehst müde aus und solltest dich mehr schonen, du bist ja nicht der Gesündeste!«, meinte ich stirnrunzelnd und erregte damit sichtlich seinen Unwillen.
»Nicht auch noch du! Mir reicht es schon, wenn meine Mutter mich ständig ermahnt, doch ja nicht zu viel zu tun. Für meine Arbeit selbst interessiert sie sich überhaupt nicht.«
»Das ist bei mir anders«, antwortete ich schnell. »Also, wie war der Tag?«
»Stell dir vor, ich musste zum ersten Mal über ein Todesurteil entscheiden. Ich bin heilfroh, dass ich Gnade walten lassen konnte«, erzählte er.
Ich nickte. »Das war doch dieser Mörder …«
»Und ich habe mir die Akten kommen lassen«, sagte er nicht ohne Stolz, »und dabei stellte ich fest, dass er die Tat nicht plante und die Absicht zu morden nicht unzweifelhaft war. Das änderte die Lage in meinen Augen, er wird am Leben bleiben.«
»Aber es wird auch andere Fälle geben …«, gab ich zu bedenken.
»Darauf bin ich gefasst. In solchen, freilich sehr traurigen Fällen muss ich der Gerechtigkeit Genüge tun und werde mich weder von der Presse noch einer Partei beirren lassen. Aber es gibt wichtigere Fragen, auch wenn mich dieser Gnadenerlass – Ja oder Nein, Leben oder Tod – sehr beschäftigt hat.«
»Schleswig-Holstein oder Zollverein?«
Ludwig nickte und seufzte: »Die Schleswig-Holstein-Frage ist vorbei. Da haben sich Österreich und Preußen durchgesetzt und unseren Antrag, den Augustenburger als legitimen Herrn der Herzogtümer anzuerkennen, im Deutschen Bund abgeschmettert. Übrigens war das die erste diplomatische Note, die ich unterschrieben habe, auch wenn sie noch ganz die Handschrift Schrenks und meines Vaters trägt. Nein, eine blutige Nase genügt mir …«
Ich nickte zustimmend. »Und die willst du dir beim Zollvereinsvertrag nicht holen!«
»Mir ist schon klar, was Preußen und sein Herr von Bismarck – ein hochintelligenter Mann, der aber keine Skrupel kennt – wollen: möglichst viele Staaten des Deutschen Bundes von sich abhängig machen und sie über kurz oder lang dominieren und ihrer Selbstständigkeit berauben.«
»… und Österreich aus dem Deutschen Bund hinausdrängen«, ergänzte ich.
»So ganz klar ist das für mich nicht«, erwiderte er: »In der Schleswig-Holstein-Frage haben sich Wien und Berlin doch hervorragend verstanden.«
»Aber nicht bei der Zollvereins-Frage. Bismarck weiß, dass es in Österreich keine Mehrheit für mehr Freihandel gibt. Es sind die Großgrundbesitzer, die für die Landwirtschaft Schutzzölle fordern, und die böhmischen Industriellen, die ihre Produkte schützen wollen. Deshalb wird Wien einem freihändlerischen Vertrag nicht zustimmen und notfalls den Zollverein verlassen.«
»Was Österreichs Position im Deutschen Bund nachhaltig schwächen würde. Bismarck würde sich die Hände reiben«, stellte Ludwig fest und ich gab zu bedenken: »Vergiss nicht, dass wir in Bayern ähnlich gespalten sind. Die Landwirtschaft, also auch der Adel, ist für Schutzzölle, aber auch die Salzbergewerkbesitzer, die Brauer und die Tabakproduzenten fürchten sich vor mehr Freihandel, das übrige Gewerbe sowie Handel und Banken treten dafür ein.«
»Ach, wie mir diese Krämerfragen auf den Geist gehen!«, seufzte Ludwig, um dann leise zu lachen. »Aber als König muss ich mich auch darum kümmern.«
»Das Schlimmste für uns wäre, wenn die Verhandlungen scheitern und wir dann ohne Ergebnis dastehen«, gab ich zu bedenken.
Ludwig wiegte den Kopf. »Und wie steht es mit einem Süddeutschen Zollverein als Alternative, den Schrenk immer wieder ins Spiel bringt?«
Ich zuckte die Achseln. »Bismarck wird sich von einem ›Zollvereinchen‹ kaum beeindrucken lassen. Hannover, Oldenburg, Kurhessen, Frankfurt und die Thüringschen Staaten sind längst auf den preußischen Kurs eingeschwenkt. Ihre Wirtschaft braucht den Freihandel mit dem mächtigen Nachbarn. Von den süddeutschen Staaten hat sich Baden für freihändlerisch und großdeutsch entschieden. Verbleiben vor allem Württemberg und Hessen-Darmstadt, aber die sind uns gegenüber fast so misstrauisch wie gegenüber Berlin.«
»Du bist mir zu pessimistisch!«, sagte Ludwig mit leichtem Tadel in der Stimme. »Ich will nicht gleich aufgeben. Wir sollten zumindest die Verhandlungen über einen Süddeutschen Zollverein weiterführen. Dann könnten wir Preußen vor die Wahl stellen, uns entweder in einigen Punkten nachzugeben oder sich einem Zollverein aus Bayern, Württemberg, Kurhessen, dem Großherzogtum Hessen, Nassau und Frankfurt gegenüberzusehen. Freilich müssten die Regierungen all dieser Staaten verbindlich erklären, bei einer unnachgiebigen Haltung Preußens einen Separat-Zollverein zu gründen.«
Es fiel mir schwer, aber ich musste ihm widersprechen: »Das ist – mit Verlaub gesagt – Wunschdenken, auch wenn du das nicht hören willst.«
»Von dir will ich deine ungeschminkte Meinung hören, ich habe genug Speichellecker um mich.«
Eine Aussage, die mir schmeichelte, aber sicher ehrlich gemeint war. »Und was willst du machen, wenn der Süddeutsche Zollverein nicht zustande kommt, was meines Erachtens ziemlich sicher ist?«
»In den sauren Apfel beißen, den Zollvereinsvertrag abschließen und …«, er lächelte süffisant, »… Schrenk entlassen. Und einen Neuanfang mit von der Pfordten wagen! Der hat auf meine geheime Anfrage übrigens prinzipiell zugesagt, das Ministerium zu übernehmen. Allerdings rät er mir von einer sofortigen Entlassung Schrenks ab, dessen Rücktritt werde und müsse sich aus der Zollfrage ergeben.«
Im Alter, während ich diese Memoiren schreibe, rasen die Jahre vorbei. Aber es gab Jahre, die so vollgepackt von Ereignissen waren, dass sie in der Erinnerung endlos erscheinen. Als ich am 25. August 1864 am frühen Morgen in Hohenschwangau eingetroffen war, so erinnerte ich mich, hatten wir nur ein Jahr zuvor freudig und sorglos Ludwigs Mündigkeit am gleichen Ort gefeiert. Was war inzwischen nicht alles passiert!
Diener führten mich zum Ritterlebenzimmer, wo mich Prinz Otto erwartete. Er war damals ein liebenswerter junger Mann, der seinen Bruder bewunderte, manchmal aber auch wegen seiner Wutausbrüche fürchtete. Er selbst – obwohl man damals noch nichts von seiner Geisteskrankheit ahnte – unterlag heftigen Stimmungsschwankungen. Mal war er überschäumend fröhlich, mal nachdenklich und zurückgezogen, mal traurig und schwermütig. Immer aber war er freundlich.
»Mein Vater hat diesen Raum geliebt, es war sein Arbeitszimmer.« Otto zeigte auf die Fresken an den Wänden. »Turnier, Ritterschlag, Falkenjagd, Kreuzzug, mit diesen Bildern hat er sich umgeben. Und war doch ein so nüchterner Mann …«
»Ganz anders als dein Bruder. Der zieht sich ja oft in vergangene Traumwelten zurück«, sagte ich nachdenklich und korrigierte mich gleich: »Aber er steht ja auch im Hier und Heute seinen König. Wie war es in Kissingen?«
»Es war eine Jubelfahrt mit Zwischenstationen in Bamberg und Schweinfurt. Ludwig, der ja solche Menschenaufläufe sonst nicht liebt, hat es sichtlich genossen«, erzählte Otto und fuhr amüsiert fort: »Bis auf den unvermeidlichen Friedrich Bodenstedt …«
»Den Haus- und Hofdichter Eures Vaters?«
»… der uns in Kissingen mit einem Begrüßungsgedicht empfing!« Der Prinz nahm ein Büttenpapier vom Schreibtisch und begann übertrieben pathetisch zu lesen:
»Aus Herz und Munde heißen jubeltönig,
Wir Dich willkommen, junger Bayernkönig!
An diesem Ort, wo Heilsquellen springen,
Soll Deine Ankunft neues Heil uns bringen …
Und noch mehr des holprigen Versmaßes. Ludwig hat sichtlich gelitten. Aber das ging auch vorbei, Ludwig fühlte sich als Gastgeber einer illustren Schar von Fürstlichkeiten: das österreichische Kaiserpaar war da, der Zar mit Familie und der württembergische Kronprinz mit Frau.«
»Und alle sind irgendwie verwandt. Der Zar und die württembergische Kronprinzessin sind Geschwister, Kaiserin Elisabeth ist eure Cousine aus dem Haus des Herzogs in Bayern und die Zarin eine Tochter des hessischen Großherzogs, eine eurer Tanten.«
»Wenn auch um zwei Ecken. Jeden Tag ein festliches Diner, Gespräche auf der Promenade des Kurgartens, Konzerte. Ludwig stolzierte, er schien zu schweben, machte geistreiche Bonmots …«
»Kurzum, er fühlte sich sauwohl!«, sagte ich respektlos. »Und von den Frauen umschwärmt hat er wohl einen Schwarm gefunden. Die Zarentochter soll es ihm angetan haben. Keine schlechte Partie, zumindest in politischer Hinsicht.«
Otto schüttelte vehement den Kopf. »Das ist purer Unsinn! Die Zeitungen lieben eben solche Spekulationen. Inzwischen meldet ja das französische Blatt Patrie die angebliche Verlobung Ludwigs mit der spanischen Infantin. Nein, wenn überhaupt verehrt Ludwig die reiferen Frauen, mit Zarin Maria Alexandrowna hat er immer wieder über Literatur und Kunst geredet …«
»… anstatt mit Franz-Joseph und Alexander über europäische Politik«, murmelte ich vor mich hin, während Otto weiter berichtete: »Er ist ihr sogar nachgefahren, als sie eine Nachkur in Bad Schwalbach machte. Für sie schwärmte er, nicht für ihre blutjunge Tochter.«
Das Gespräch wurde durch einen Diener unterbrochen. »Seine Majestät erwartet Euch im Hohenstaufenzimmer!«
Also gingen Otto und ich zu dem Gemach, das Ludwig als Ankleidezimmer diente: ein imposanter Raum mit riesigen, zwischen den graublauen Wänden gemalten Wandbildern, die vom Aufstieg und Fall der Staufer berichteten, darüber eine weiße Decke mit vergoldeten Stuckrippen. Und am Klavier ein sichtlich missmutiger Ludwig, der verbissen auf den Tasten klimperte.
»Gestern hat hier noch der Meister gespielt! Er ist abgereist. Und alles nur wegen dieser blöden Kuh!«
»Beruhige dich doch!«, versuchte Otto ihn zu besänftigen. »Sie ist ja immer noch unsere Mutter.«
Aber Ludwig ließ sich nicht beruhigen. »Du kannst dir das nicht vorstellen, Odilo! Alles war vorbereitet. Wagner hatte extra einen Huldigungsmarsch zu meinem Geburtstag komponiert. Die Kapellen von drei Münchner Infanterieregimentern waren hierherbeordert, um ihn aufzuführen, der Meister wollte selbst dirigieren. Da fällt plötzlich meiner Mutter ein, dass sich eine …«, er zitierte übertrieben, »… derart laute Feierlichkeit in Anbetracht der Trauer um den erst vor wenigen Monaten verstorbenen König nicht zieme. Außerdem sei sie krank und müsse das Bett hüten. Das Ergebnis: Die Serenade wird abgesagt, die Kapellen marschieren zurück und Wagner rauscht beleidigt ab, was ich ihm nicht einmal verdenken kann. Und wenn übermorgen König Wilhelm von Preußen hier eintrifft, dann ist Mutter wieder auf wundersame Weise genesen …«
»Er kommt von der Kur aus Ischl«, erklärte Otto, »und wird sicher noch einmal auf den Beitritt Bayerns zum neu konstituierten Zollverein drängen.«
»Da haben wir keine Wahl, ich habe es schon immer gesagt.« Der König lachte kurz. »Aber das gibt so einen Aufruhr, dass Schrenk seinen Rücktritt anbieten wird und ich werde ihn natürlich annehmen. Aber du kommst ja gerade aus Schleswig-Holstein zurück …« Ludwig blickte mich fragend an.
»Nun ja, die Herzogtümer sind nun unter offizieller Verwaltung der Siegermächte. Preußen hat jetzt die Hoheit über Schleswig und SachsenLauenburg, Österreich hat Holstein erhalten, weit weg vom Schuss. Wie lange die Eintracht zwischen Wien und Berlin aber anhält, ist fraglich. Weit wichtiger erscheinen mir die militärischen Erkenntnisse aus dem Krieg gegen Dänemark. Die preußischen Truppen sind mit der Eisenbahn zur Front gefahren worden und konnten so die Gegner überraschen. Ein Fußmarsch von Berlin her hätte Wochen gedauert.«
Der König nickte nachdenklich. »Wir müssen auch bei uns das Eisenbahnnetz ausbauen, allerdings nicht wegen eines möglichen Kriegs, hoffe ich zumindest …«
»Aber unsere Generäle müssen diese Möglichkeit einbeziehen«, fuhr ich fort. »Noch wichtiger sind die neuen Waffen, die eingesetzt wurden. Geschütze von der Firma Krupp, dabei auch Hinterlader-Kanonen, die schnell und weit schießen und die dänischen Schanzen geradezu zerfetzt haben. Die Militärs haben dafür den Begriff ›Trommelfeuer‹ kreiert. Und manche Preußen schossen mit Hinterlader-Gewehren, ich konnte einige herausschmuggeln lassen, das müssen sich unsere Waffenfabrikanten ansehen und vielleicht nachbauen. Denn damit kannst du mindestens dreimal so schnell schießen wie mit unseren Vorderladern.«
Ludwig unterbrach mich: »Du weißt, wie sehr mich technische Neuerungen faszinieren! Aber du weißt auch, wie sehr ich den Krieg hasse! Also gib deine Erkenntnisse dem Generalstab weiter und lass uns nicht weiter darüber reden. Ich will das Ansehen meiner Untertanen durch andere Dinge erhalten. So habe ich alle, die wegen der Unruhen der Jahre 1848 und 1849 verurteilt waren, amnestiert.«
»Das hat den Liberalen sicher gefallen! Und den Konservativen natürlich nicht«, kommentierte ich.
Der König zuckte die Achseln. »Die machen mir auch anderswo Schwierigkeiten. Beispielsweise beim neuen Schulgesetz! Da schreibt mir Erzbischof von Scherr im Namen der bayerischen Bischöfe – nach den üblichen formellen Ergebenheitsversicherungen –, dass die Schulen in Bayern im Sinn der Kirche geleitet werden müssten. Das königliche und das priesterliche Regiment müssten übereinstimmen, so als ob meine Regierung und die Kirche gleichwertige Souveräne wären.«
»Das hätte seine Scheinheiligkeit gerne«, warf ich ein.
Ludwig lachte, ging zum Schreibtisch und zeigte auf einen Brief. »Oh, ich habe ihm ebenso geschmeidig wie deutlich zurückgeschrieben, dass ich mich über die mir zugesicherte treue Hingebung meiner Bischöfe an den Thron sehr, sehr freue. Und dann – hör zu, Odilo –, dass ich aus ihrem Brief erkannt habe, ›dass ihre Ziele, Mittel und Wege die schon von meinem Vater gepflegten, höchst glücklichen konfessionellen Zustände des Landes nicht verlassen‹. Hoffentlich wird ihnen so deutlich, dass der Einfluss der Kirche auch in Bayern beschränkt ist.«
»Wichtig ist, dass auch der Religionsfriede zwischen Katholiken und Protestanten erhalten bleibt! Und vor allem Rom mit seinen mittelalterlichen Brimborien und seinem Alleinvertretungsanspruch in allen religiösen Fragen aufhört«, warf ich ein.
Ludwig schüttelte nachdenklich den Kopf. »Döllinger hat natürlich recht, wenn er sich gegen das Diktat des Papstes stemmt. Aber als König kann ich damit leben, dass meine Bayern ihrem guten katholischen Glauben treu bleiben mit den wohltuenden Tröstungen auf ein Jenseits, seinen Wundern und Sakramenten. Ich persönlich gehe mit dir einig: Den Gebildeten können diese veralteten Anschauungen unmöglich genügen.« Der König hatte sich beruhigt und wechselte – wie so oft – das Thema. »Aber lassen wir uns für eine Weile von der Politik und auch von meiner Mutter nicht völlig die Laune verderben. Es ist herrlich hier. Übrigens habe ich, als ich hierherkam, ein kleines Gedicht verfasst.«
Ich wusste, Ludwig wäre äußerst beleidigt gelesen, wenn ich nicht gesagt hätte: »Lass hören!«
Der König nahm ein beschriebenes Papier vom Schreibtisch, ging zum Fenster und begann zu lesen:
»Wie freu’ ich mich, dich wieder zu begrüßen,
Du stilles Haus nach langer, langer Zeit! –
Vergnügt begrüß’ ich dieses Baches friedlich Fließen,
euch Bäume und Euch Berge weit und breit.
Ich atme hier der Berge frische Lüfte,
Erfreu’ mich an des Himmels klarem Blau,
Es grüßen mich der Blumen süße Düfte,
Auf ihren Blättern liegt des Himmels frischer Tau.
So sag’ ich dieser Gegend nun, der hehren,
Mein Aufenthalt wird lange noch hier währen.«
Ja, Ludwigs Aufenthalte außerhalb Münchens in Berg oder in Hohenschwangau verbunden, mit oft tagelangen Ausritten, wurden sicherlich zum Problem. Wie alle in seiner Umgebung wussten, erledigte er seine Aufgaben nach wie vor pflichteifrig, aber die Bayern wollten ihren König auch zu Gesicht bekommen. Mitte September endete – endlich – die Hof- und Landestrauer, was bedeutete, dass der junge Monarch sich mehr in der Öffentlichkeit zeigen konnte und musste. Schon wenige Tage danach nahm er auf dem Marsfeld die Parade der Garnison ab, Tausende von Münchner Bürgern sahen dabei zu.
Mehr als hunderttausend waren es – will man dem Bericht des Polizeipräsidenten von Pfeufer glauben –, die am 2. Oktober die Straßen säumten, um die Fahrt des Königs zum Oktoberfest zu sehen. Schon die Ausfahrt aus der Residenz gestaltete sich zum Jubelfest. Zunächst sah man nur die Soldaten der Wache, die zu den Klängen des Fahnenmarsches Gewehr präsentierten. Die Spannung stieg, als berittene Gendarmen eine Gasse durch die Menge zu bahnen versuchten. Dann ertönten Fanfaren und aus dem Tor des Hofgartens kam eine Eskorte von Kürassieren in blitzenden Brustharnischen, gefolgt von einem sechsspännigen Prunkwagen, darin Ludwig in Generalsuniform und neben ihm sein Bruder Otto. Die Menge durchbrach schnell das Spalier der Soldaten und Polizisten, umringte den Wagen, Hüte wurden geschwenkt und die Jubelrufe übertönten die Musik der Hofkapelle.
Mehr als eine Stunde später kam der König auf der Theresienwiese an und ließ sich im Königszelt die Mitglieder des diplomatischen Korps vorstellen, wobei ich sah, dass er auch mehrere Krüge Bier trank. Dann ging er gemeinsam mit Otto und seinem Onkel Adalbert zur Tierschau des benachbarten Landwirtschaftsfestes und sah sich auch die Versuche seines Professors Liebig an, die zu einem ertragreicheren Kartoffelanbau führen sollten. Besonders interessierten ihn die neuen Dampfmaschinen für den Einsatz in der Landwirtschaft. Danach begab er sich zur Tribüne, um dem Pferderennen zuzusehen, dessen Sieger von ihm den Ehrenpreis erhielt.
Er genoss das Bad in der Menge sichtlich. Hatte es sich am Tage vor allem um das einfache Volk gehandelt, jubelte ihm am Abend die Münchner Gesellschaft im festlich erleuchteten Hoftheater zu. Seit seiner Thronbesteigung betrat er zum ersten Mal die Königsloge und wurde mit einer viertelstündigen Ovation empfangen. An diesem Tag hatte er sich als höchst populärer König gezeigt, der den Erwartungen seiner Münchner voll entsprach – was nicht immer so war und vor allem bleiben sollte!
1864 war ein turbulentes, teilweise chaotisches Jahr und ich hoffte, dass die Politik im kommenden Jahr wieder in ruhigeres Fahrwasser geraten würde. Systematisch hatte Ludwig all die alten Minister seines Vaters entlassen und durch Männer seines Vertrauens ersetzt. Aber wirklich kennen konnte er seine neuen Minister natürlich nicht, ihm waren von verschiedenen Seiten Vorschläge gemacht worden. Er versuchte, sich neben den Vorlagen seiner Beamten zusätzliche Informationen zu beschaffen. Hier wurde ich ein wichtiger Helfer für ihn: Ich knüpfte Kontakte nach allen Seiten – auch ungeachtet der jeweiligen Weltanschauung meiner Quellen. Dabei ahnte ich noch nicht, dass sich mein Leben immer mehr in diese Richtung entwickeln würde. Aber ungeachtet all dieser Informationen ließ sich Ludwig auch sehr von seinem persönlichen Gefühl leiten: Ist mir dieser Beamte, Gesprächspartner oder auch Minister sympathisch? Will er mich nicht bevormunden? Werde ich gut mit ihm auskommen und harmonieren?
Die meisten der Amtswechsel geschahen relativ geräuschlos, nur beim Außenministerium, in der damaligen Zeit besonders wichtig, machte der König gravierende Fehler. Er entließ den mächtigsten Mann des Kabinetts: den für auswärtige Angelegenheiten zuständigen Karl Freiherr von Schrenk von Notzing. Sicher waren die inhaltlichen Differenzen groß: Schrenk hielt nicht viel von der Vorstellung Bayerns als dritte Kraft zwischen Österreich und Preußen. Vielmehr müsste es sich an eine der beiden Mächte anlehnen, wobei er die Habsburger favorisierte. Dann hatte er Ludwig sehr verärgert, weil er sich noch dazu in der Öffentlichkeit gegen die Ernennung Pfistermeisters zum Staatsrat gewehrt hatte, also den Mann, in dem der König seinen wichtigsten Verbündeten in der Bürokratie sah. Vor allem aber hielt Schrenk dem König lange Vorträge über Außenpolitik und ließ ihn deutlich spüren, dass er ihn für unreif und inkompetent hielt. Er hörte sich Ludwigs Meinung nicht an, auch wenn dieser die Akten sorgfältig studiert und einen klaren Standpunkt hatte.
Deshalb entließ der König Schrenk schon Anfang Oktober, ohne die Zusage des von ihm gewünschten Ludwig von der Pfordten zu haben. Der zeigte zunächst keine Lust, sein Amt als bayrischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt aufzugeben. Darüber hinaus ließ er dem König ausrichten, er solle Schrenk nicht entlassen, wenn dieser nicht selbst gehen wolle. Oder es müsse eine auch nach außen hin klar ersichtliche Meinungsverschiedenheit sein. Ludwig beherzigte diesen Rat nicht und stand dann im Oktober ohne Außenminister da. Erst im Dezember ließ sich von der Pfordten breitschlagen, nun doch das Amt zu übernehmen.
Er war sicher eine gute Wahl, was die Kompetenz, die diplomatische Erfahrung und auch seine Beziehungen in den verschiedenen Hauptstädten der deutschen Staaten anging. Wie sich sein persönliches Verhältnis zu Ludwig entwickeln würde, da war ich eher skeptisch. Von der Pfordten hatte sich lange geziert und einige Privilegien errungen, bis er dem drängenden Wunsch des Königs nachgegeben hatte, den Vorsitz des Ministerrats und das Außenministerium zu übernehmen. So hatte Ludwig ihm versprechen müssen, ihn jederzeit zu empfangen, und zwar ohne die Vermittlung Pfistermeisters. Auf einigen Soireen in München gab er auch zu verstehen, welch großes Opfer er gebracht habe, indem er seinen geliebten Posten als Gesandter Bayerns beim Bundestag in Frankfurt aufgegeben habe. Nun aber sei er angetreten, den König in die Staatsgeschäfte einzuführen, wobei er ihn zum Studium und zur Selbsttätigkeit anleiten werde. All diese Äußerungen wurden dem König von Neidern und Gegnern von der Pfordtens hinterbracht und taten mit der Zeit auch ihre Wirkung.
Wenige Tage vor Weihnachten wartete ich vor dem Zimmer Ludwigs zusammen mit dessen Kabinettssekretär. Jeder von uns war dem anderen gegenüber etwas misstrauisch. Franz Seraph von Pfistermeister war es höchst unangenehm, dass ich Zutritt zum König ohne Zustimmung des Sekretariats hatte, und er konnte meinen potenziellen Einfluss auf Ludwig nicht einschätzen. Umgekehrt hielt ich Pfistermeister für einen aalglatten Beamten, hinter dessen betonter Loyalität auch sehr viel Eigennutz und ein Hang zur Intrige zu vermuten war. Andererseits konnten wir bei allen Aversionen doch immer wieder vorsichtig zusammenarbeiten.
Der Kabinettssekretär bat mich, auf dem Sofa neben ihm Platz zu nehmen, und wollte einen Rat, natürlich mit dem Hintergedanken, mich bei seinem Plan gleich mit ins Boot zu nehmen!
»Ich habe den Eindruck, dass der König mit sich und seiner Arbeit immer unzufriedener wird. Er wirkt unglücklich und neulich hat er sogar zu mir gesagt: ›Die Geschäfte ekeln mich an.‹ Wir sind ihm einfach zu nüchtern und zu prosaisch. Er braucht eine andere Ansprache, sonst vergräbt er sich immer mehr in seine Bücher und die Wagnersche Musik.«
In gewisser Weise teilte ich diese Ansicht. Ludwig wirkte ob der Anstrengung der Regierungstätigkeit müde, ja manchmal mutlos. Ich nickte zustimmend, hörte aber weiter zu.
»Er will studieren, er will philosophieren, er will sich mit den Problemen unserer Zeit auseinandersetzen. Und da ist mir der Einfall gekommen, ob nicht sein alter Professor Johann Nepomuk Huber diese Lücke ausfüllen könnte. Der König hat zugestimmt und gesagt: ›Den Professor Huber kenne ich, zu ihm habe ich Vertrauen, holen Sie ihn mir.‹«
»Das halte ich wirklich für eine gute Idee«, pflichtete ich ihm bei. »Ich glaube, dass ihm dies in dieser schwierigen Phase helfen kann.« Bei mir dachte ich, auf diese Möglichkeit hätte ich auch kommen können. Denn unsere Diskussionen verliefen spontan, unkoordiniert und wenig systematisch, zudem mit großen Gedankensprüngen. Huber, so hoffte ich, würde mehr Struktur in seine Gedanken bringen und die auf Ludwig hereinstürzenden Tagesprobleme in einen größeren Zusammenhang stellen und bewerten können. Obwohl mir Feuerbach lieber gewesen wäre!
Einen Tag vor Weihnachten traf ich dann den Philosophieprofessor, als er gerade vom König kam. Ich ging auf ihn zu: »Seine Majestät hat sich sehr erfreut über Eure Besuche gezeigt und die Unterhaltung als sehr anregend und auch lehrreich empfunden.«
»Es war und ist mir eine große Ehre, der König ist ein scharf denkender Geist.«
Schmeichler, dachte ich und versuchte ihn aus der Reserve zu locken: »Sicher, er ist tiefgründig, obwohl ich manchmal nicht weiß, ob meine Worte oder die anderer bei ihm auf Resonanz stoßen. Und er fragt immer wieder nach dem Wie und Warum. Er kann einen dadurch richtig in Verlegenheit bringen …«
Huber lächelte höflich und belehrte mich: »Genau das spricht für ihn, vor allem bei einem so jungen Menschen. Sein Vater, König Max, den ich ebenfalls die Ehre hatte kennenzulernen, wollte immer nur fertige Ansichten.«
»Aber sind manche Meinungen und Aussagen Ludwigs nicht – sagen wir einmal so – etwas befremdend und widersprüchlich, gerade für einen Monarchen?«, provozierte ich weiter.
»Sie als sein Vertrauter müssten das doch verstehen. Ihre und seine Weisheit stammt vor allem aus Büchern. Und so bringt Seine Majestät trotz aller Belesenheit, trotz aller Gedankentiefe vieles nicht zusammen …«
»Wie meint Ihr das genau?« Jetzt hatte ich in da, wo ich ihn haben wollte, denn ich wollte wissen, worum es in den Gesprächen konkret ging und wie sie abliefen.
»Ein exemplum: Wir sprachen über Staatsformen«, berichtete der Professor. »Da sagte er unvermittelt: ›Im Grunde bin ich republikanisch gestimmt, denn die Republik wäre die Verfassung für vollkommene Menschen!‹«
»Und wie meint er das?«
Huber wiegte seinen Kopf. »Ganz klar ist mir das nicht. So wie ich ihn verstanden habe, möchte er immer mehr Bürgern Rechte geben, vorausgesetzt, dass sie diese auch weise und bescheiden nutzen. Andererseits hat er vor allem, was nur von Ferne nach Revolution riecht, ziemlich Angst.«
»Wagners Vergangenheit blendet er da völlig aus«, warf ich ein. »Die interessiert ihn in diesem Kontext auch nicht. Wichtiger ist, dass er sich als König von Gottes Gnaden sieht und sich jeden Eingriff in das, was er als seine königlichen Rechte ansieht, verbittet. Dabei nimmt er seine Pflichten als Monarch, seine Verpflichtung gegenüber jedem seiner Bürger sehr, sehr ernst. Er will auf keinen Fall ein Despot sein.«
»Ja, das sagt er immer wieder. Er sehnt sich nach der Liebe seines Volkes und leidet an jedem noch so dummen Zeitungsartikel.« Der Professor sah mich verständnisvoll an. »Ich habe ihm dazu gesagt, dass er nur dann wirklich geliebt werde, wenn er lerne, die Menschen zu achten. Menschenverachtung führt zur Despotie. Ein König hat allerdings so wenig Gelegenheit, Menschen achten zu lernen, deshalb müsse er dies bei allen öffentlichen Auftritten auch zeigen. Nach einigem Nachdenken meinte er, das wolle er tun, auch wenn es ihm manchmal schwerfalle. Gerade gegenüber seinen Soldaten müsse er zeigen, dass er sie achte und schätze, auch wenn er das Kriegshandwerk selbst nicht sehr mag und es als notwendiges Übel betrachte. Am schwersten falle ihm das wohl bei den Adeligen, die möge er nicht!«
»Das beruht leider auf Gegenseitigkeit. Sie wollen einen König, der große Feste feiert und Hof hält, und nicht einen, der solche Anlässe meidet«, bemerkte ich bitter.
»Ludwigs Unglück ist«, dozierte der Professor, »dass den idealen Bedürfnissen seines Gemüts bisher kein Verständnis bei seiner Umgebung entgegenkommt. Und die Schmeichler, die ihn bei allen öffentlichen Auftritten umschwärmen, sind nicht dazu angetan, ihm Achtung vor den Menschen beizubringen.«
»Mit dem Resultat, dass er oft unbedachte, ja schroffe Äußerungen macht, die kränken und bei den Betroffenen tief sitzen. Königliche Worte merkt man sich lang …«, sagte ich gedankenverloren und der Wissenschaftler nahm meine Nachdenklichkeit auf: »Es ist ohne Zweifel etwas Unheimliches in ihm bei aller Offenherzigkeit und Liebenswürdigkeit. Plötzlich unterbricht er ein Gespräch, sinniert, wechselt abrupt das Thema und dann sprudelt irgendeine ganz neue Idee aus ihm heraus. Wenn man seinen Gedankensprüngen nicht folgen will oder kann, dann erntet man Kopfschütteln oder einen bitterbösen Blick.«
»Das Problem habe ich auch gelegentlich. Der König hat eine maßlose Fantasie. Dann entwickelt er kühne Ideen und Visionen. Beim nächsten Gespräch ist er zutiefst traurig, er denkt über Tod und Sterben nach. Sollten wir ihn dann nicht – wie Stiftsprobst Döllinger anregt – vermehrt auf unseren Glauben und die Religion ansprechen?«
Huber zeigte sich skeptisch. »Seine Majestät ist auf seine Weise religiös, glaubt an das Wirken eines göttlichen Wesens, aber er ist kein naiver Bibelgläubiger. Mit Geschichten, dass die Welt in sechs Tagen erschaffen worden sei, kann ihm niemand kommen. Der König ist viel zu entwickelt und geistig aufgeweckt, als dass man ihm dies vormachen könnte. Er hat schon manches gedacht, wovon unsere allzu frommen Katholiken sich nicht träumen lassen. Denn er ist ein ebenso kühner Denker wie Reiter und er scheut vor keiner skeptischen Betrachtung zurück!« Ein wenig eitel ergötzte sich Johann Huber an seinen eigenen Worten und verabschiedete sich.
Auch wenn der Kontakt Ludwigs zu ihm im Laufe der kommenden Jahre immer mehr abbrach, zusammen mit Döllinger hat er den König sicher in seiner Abneigung gegen den Dogmatismus des Vatikans, insbesondere den Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes, bestärkt.
Ich habe mir damals das Gespräch in Stichworten aufgeschrieben und lange darüber nachgedacht. Eine Konsequenz ergab sich für mich: Ludwig brauchte weiter solche Gespräche, aber nicht nur mit Huber. Vielleicht, so dachte ich wieder einmal, könnte man den nahe Nürnberg lebenden Ludwig Feuerbach dazu gewinnen, immerhin einer der größten Philosophen unserer Zeit.
Als ich Ludwig diesen Gedanken nahezubringen versuchte, war er zunächst durchaus angetan. »Als Kronprinz habe ich seine Schriften mit einem wahren geistigen Heißhunger verschlungen! Da habe ich mir vorgenommen – wenn ich einst zur Regierung komme –, die Idee Ludwig Feuerbachs über den Staat womöglich auszuführen.«
»Aber seine Ideen gehen hier in die Richtung für mehr Rechte der Bürger. Er war für die Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung«, warf ich ein.
Der König lächelte fast wehmütig. »Feuerbach ist eben ein Philosoph. Seine Gedanken würden sich als richtig erweisen, wenn die Menschen vollkommen wären. Aber die Menschen sind eben nicht vollkommen!«
Er habe auch Feuerbachs Schrift Wesen des Christentums gelesen und einige Gedanken interessant und anregend gefunden. Aber der reine Materialismus sei nicht genug, um die Menschen zu befriedigen und über das irdische Dasein zu erheben. Auch wenn der Philosoph viel Richtiges über das Verhältnis des Menschen zur Religion geschrieben habe, decke sich das nicht mit seinen Vorstellungen. Manche Glaubensvorstellungen seien sicherlich nur höchst menschliche Projektionen und Wünsche, aber es gebe auch etwas darüber hinaus, etwas Transzendentales, was den Menschen mit dem Göttlichen verbinde. Ein Gespräch mit Feuerbach wäre sicher interessant, auch wenn er den meisten Beamten und natürlich Priestern suspekt sei, weil er – wenn auch politisch nicht aktiv – 1848 für die Ideale der Revolutionäre eingetreten war. Und heute habe er auch Verbindungen zu sozialdemokratischen Kreisen. Er bedaure, aber ihn kurz nach seinem Regierungsantritt zu Gesprächen nach München zu holen, wäre sicher ein falsches Signal. Es reize ihn aber, mit Feuerbach in brieflichen Kontakt zu treten, ein Gedankenaustausch mit einem so großen Philosophen sei sicherlich fruchtbar. Zu gegebener Zeit werde er auch versuchen, ihn zu treffen und ihn nach Berg oder sogar nach Hohenschwangau kommen lassen, um sich mit ihm zu unterhalten. Außerdem wolle er dem Philosophen eine kleine Pension gewähren, da er erfahren habe, dass dieser in Rechenbach bei Nürnberg in großer Armut lebe. Darüber hinaus habe er den Hoffotografen angewiesen, ein Bild von Ludwig Feuerbach zu machen und es ihm zu bringen.
Damit war für Ludwig das Thema vorerst erledigt und er sprach begeistert von einem neuen Projekt. Er hatte den Architekten Gottfried Semper holen lassen – dessen Teilnahme an der Revolution von 1848 stellte für Ludwig wie bei Wagner kein Problem dar – und ihm den Auftrag erteilt, einen Plan für einen gewaltigen Theaterbau in München zu entwerfen.
»Ich will ein großes steinernes Theater erbauen lassen, damit die Aufführung des Ringes der Nibelungen eine vollkommene werde«, sagte er zu mir. »Dieses unvergleichliche Werk muss einen würdigen Raum für seine Darstellung erhalten. Kurz: Der Satz, welchen sie in der Vorrede zum Gedichte Der Ring des Nibelungen anführen, soll in das Leben treten auf den Isarhöhen.«