Читать книгу Das Ende des Römischen Reiches! - Hans-Peter von Peschke - Страница 17
+++ Ein Wendepunkt, den keiner merkt +++
ОглавлениеEs gibt keinen Kaiser mehr! Eigentlich hätte eine Welle der Erschütterung durch das Weströmische Reich gehen müssen. Aber es gab ja noch einen Kaiser in Ostrom! Und Heermeister wie Odoaker hatten die eigentliche Macht schon zuvor ausgeübt! Erstaunlich nur, dass der abgesetzte Kaiser noch am Leben war! Im Übrigen hatte man ganz andere Sorgen. Erst Jahrzehnte später begannen einige Historiker zu begreifen, dass der 4. September 476 eine Zäsur darstellte.
Imperien sterben langsam. Wenn sie von Feinden überrannt werden und stürzen, müssen die Säulen, auf denen sie jahrhundertelang standen, brüchig geworden sein. Wer die Gründe für das Ende eines großen Reiches erkennen will, muss das komplexe Zusammenspiel innerer und äußerer Ursachen analysieren und darf auch den Zufall – den für Historiker unbeliebtesten, da unberechenbarsten Faktor – nicht außer Acht lassen. Und manchmal ist es ausgerechnet ein eher marginales Ereignis, das die Wendemarke einer Epoche oder das historische Datum für den Untergang eines Reiches setzt.
Die Absetzung des Romulus Augustulus ist ein solches Datum, ein Wendepunkt. Die Institution, das Amt, mit dem das mächtigste Reich der Welt untrennbar verbunden schien, existiert nicht mehr. Es gibt keinen Kaiser von Westrom mehr, und damit hat auch Westrom zu existieren aufgehört. Für die Zeitgenossen war es vielleicht ein eher nebensächliches Ereignis in einer als bedrückend und bedrohlich empfundenen Entwicklung. Je weiter zurück das Geschehen jenes 4. September 476 aber lag, umso mehr empfand es die Nachwelt als Markstein im lang andauernden Prozess des Niedergangs eines glorreichen Imperiums, und es erhielt so einen überhöhten symbolischen Wert.
Vermutlich als erster hat 511 der sizilianische Abt Eugippius in seiner Lebensbeschreibung des hl. Severin in einem Nebensatz die Absetzung des Romulus Augustulus – der als gut dotierter Pensionär in einer benachbarten Villa lebte – als eine Zeitenwende charakterisiert. In diesem Sinne notiert der Historiker Marcellinus Comes gut vierzig Jahre später in seinem »Chronicon« für das Jahr 476: Odoaker machte den Orestes sofort nieder; den Sohn des Orestes, Augustulus, verurteilte er zum Exil auf dem Landgut Lucullanum in Kampanien. Das Westreich des römischen Volkes, das im Jahr 709 nach Gründung Roms Augustus Octavian als erster beherrschte, ging mit diesem Augustulus unter – nach 522 Jahren aufeinanderfolgender Herrscher. Von da an machten sich die Könige der Goten Rom zu eigen.
Freilich waren solche Aussagen durchaus tendenziös – zumindest zu Zeiten Kaiser Justinians waren solche Meinungen in Ostrom höchst willkommen, stützten sie doch dessen Ansicht, dass die Reste des Hesperium Imperium, des Westreichs, nun direkt dem Herrscher in Konstantinopel unterstellt seien, da es im Westen kein Kaisertum mehr gebe. Deshalb vermuten einige heutige Historiker, dass hinter solchen Meinungen der römische Kaiser Justinian als »Chefideologe« steckt, um sein alle Reichsteile übergreifendes Kaisertum zu legitimieren. Jedenfalls verankerte sich die Absetzung des Romulus Augustulus in den Köpfen der Annalisten und Geschichtsschreiber bis ins 20. Jahrhundert als Wendepunkt.