Читать книгу UM ZWÖLF BEI ZEUS - Hans Reteid - Страница 11

Kapitel 5

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„Da können Sie jetzt nicht rein! Herr Austin ist in einer wichtigen Besprechung!“

Die Sekretärin sprang von ihrem Platz auf und stellte sich in den Weg. Samantha schob sie wortlos zur Seite und öffnete resolut die lederbespannte Tür zum Zimmer des Chefredakteurs. Mit wenigen Schritten erreichte sie seinen Schreibtisch und knallte schwungvoll den aktuellen BRENNPUNKT mit dem Titelblatt nach oben auf die Glasplatte.

„Ist dir bewusst, welche Wirkung dieser Aufmacher hat?“, tobte sie los.

„Samantha! Was soll das? Merkst du nicht, dass du störst?“

Erst jetzt sah sie den fremden Mann am Fenster stehen: ein Managertyp, schlank, scharfkantiges Gesicht, kurze schwarze Haare, italienische Designergarderobe. Nur die Art, wie er sein Zigarillo rauchte und in der Hand hielt und wie er sie mit seinen dunklen stechenden Augen fixierte, passte nicht dazu.

„Bitte, Samantha. Lass uns das später ...“.

„Es geht um das Image unseres Blattes, Marc!“ Sie ließ nicht locker. „Und es geht ums Prinzip. Um sauberen, anständigen Journalismus!“

„Ganz schön schwungevoll, diese Dame“, mischte sich der Fremde mit italienischem Akzent ein. „Signor Austin, wollen Sie uns nichte miteinander bekannte machen?“

Austin räusperte sich, stand etwas umständlich auf, bewegte seinen rechten Arm fahrig hin und her und sagte dabei: „Signor Francesco Brunelli, Samantha Smits.“ Dann setzte er sich wieder und fuhr Samantha zugewandt fort: „Signor Brunelli ist Repräsentant einer großen italienischen Zeitschriftengruppe. Wir überlegen gerade, vorausgesetzt du hältst uns nicht noch länger davon ab, Möglichkeiten einer zukünftigen redaktionellen Zusammenarbeit.“

„Bei ihrem Temperamente, Signora, könnte ich das gut mir vorstellen.“

„Ach ja?“ Samantha hob ihre Augenbrauen.

„Sagt ihnen der Name Berlusconi etwas?“ Der Italiener kam dabei näher auf sie zu.

„Und ob.“ Sie wich mit zwei Schritten zur Seite und bemerkte im selben Augenblick, dass diese Antwort eine Spur zu verräterisch ausgefallen war. Aber vielleicht ließ sich ja auf diese Weise schon im Vorfeld eine unselige Allianz verhindern, eine Allianz, die möglicherweise zu noch schlimmeren Überschriften führen würde.

„Bitte, Samantha!“ Austins Stimme klang lauter, ungeduldiger. Er stand auf und schob sie mit sanftem Druck in Richtung Tür. „Vergiss’ bitte nicht“, zischte er ihr ins Ohr, „ich bin der Chefredakteur und ich habe das Recht, Titelvorschläge in noch treffendere Titel zu verbessern. Das gilt auch für Beiträge von Samantha Smits!“ Dann öffnete er die Tür und drängte sie aus dem Zimmer.

Samantha ließ nicht locker, hielt sich an seinen breiten roten Hosenträgern fest.

„Hast du die Grundsätze vergessen, mit denen wir angetreten sind, Marc?“

„Samantha, bitte!“

„Das soll dein Gast ruhig hören. Gerade, weil wir nie eine Bildpostille für Möchtegern-Intellektuelle sein wollten. Unser Anspruch lautete: Fakten und Hintergründe sauber recherchieren, grafisch aufbereiten, und wie in einem Brennglas auf den Punkt bringen - realistisch, zeitnah, europäisch und mit kritischem Tiefgang! Tiefer als der FOKUS, und nicht so polemisch wie der SPIEGEL. Hast du das vergessen?“

Austin riss ihre Hände von seinen Hosenträgern los, schritt schnaubend zur Tür zurück und sagte verärgert: „Wir sprechen uns noch.“

„Worauf du dich verlassen kannst!“

*

„Ist Professor Ackermann ansprechbar? Kann ich zu ihm? Nur kurz?“

„Muss das sein?“ Die Krankenschwester fragte es mit abwehrendem Tonfall, öffnete die Tür nur einen Spalt, hielt aber die Klinke fest umklammert.

„Ja. Bitte.“

„Lassen Sie den Hauptkommissar ruhig herein, Schwester.“ Berthold hatte den kleinen Disput mitgehört.

„Na gut. Wenn Sie meinen, Herr Professor. Aber nicht zu lange.“ Und sie fügte noch hinzu: „Wenn´s Ihnen zu viel wird, dann klingeln Sie einfach.“

Hauptkommissar Brockschmidt bedankte sich, setzte sich neben das Krankenbett und leitete schon nach wenigen Worten zum eigentlichen Problem über:

„Bei diesem Overhead-Projektor treten wir auf der Stelle. Ein grauer Liesegang Favorit. Sie erinnern sich? Da konnte mir bisher keiner erklären, wer das Ding auf die Bühne geschoben hat, nach dem zuvor alles routinemäßig und gründlich untersucht worden war.“

„Der Overhead-Projektor?“

„Das muss doch jemand angeordnet haben“, fuhr Brockschmidt fort.

Berthold versuchte sich zu erinnern. Verschwommene Bilder tauchten auf: die Bühne. Rote, gelbe, grüne Blumen. Dieselben Farben wie das Logo der Hochschule mit der großen 25 in der Mitte. Er sah das wuchtige Rednerpult und dicht daneben den Projektor. Der störte, stand da wie ein Fremdkörper. Aber, wie er auf die Bühne gekommen war, fiel ihm nicht ein.

„Eine Regieanweisung vielleicht?“, bohrte Brockschmidt weiter. „Ein Hinweis, wann das Ding im Laufe des Programms ein- und wieder ausgeschaltet werden sollte.“

Berthold runzelte die Stirn, versuchte noch einmal, sich an den Ablauf zu erinnern. Es waren immer nur kleine Bruchstücke, die sich nicht einordnen ließen: Frau Lautenschläger mit einem Blumenstrauß, Anke Gödeler mit der Gästeliste, Kollege Derscheid mit - „Warten Sie“, sagte er plötzlich. „Da war auch ein Student. Er sah zumindest so aus. Der schob etwas auf die Bühne.“

„Den Projektor?“

„Etwas Graues. Ja.“

„Und? Wie sah der aus, der Student. Was hatte der an?“

„Ganz normal. Wie ein Student eben. Eine Jeans mit Pullover, oder einem Sweatshirt.“

„Können sie sich an die Farben erinnern, einzelne Details? Was hatte er für Schuhe an?“

„Ich hatte anderes im Kopf, als mich in die Kleidung der Leute zu vertiefen, Herr Brockschmidt.“

„Trotzdem. Versuchen Sie es. Es ist wichtig.“

„Warten sie, ich glaube er trug Lederstiefel. Die waren vorne ziemlich spitz. Ja, hellbraune Lederstiefel mit Messingschnallen an den Seiten. Die waren mir aufgefallen, weil die Bühne so in etwa Augenhöhe hat.“

„Und sein Gesicht? Die Haare?“

„Weiß ich nicht mehr.“ Berthold schloss für einen Moment die Augen. „Doch, da fällt mir ein: Er trug eine Brille, eine Hornbrille, ein völlig altmodisches Ding. So ähnlich wie der Honecker früher, wenn Ihnen das etwas sagt.“

„Das ist mehr, als ich erwartet habe.“ Brockschmidt war begeistert. „Meistens ist nämlich die Zeit unmittelbar vor so einem traumatischen Ereignis nicht im Langzeitgedächtnis der Betroffenen gespeichert.“ Er lehnte sich etwas zurück und schlug die Beine übereinander. „Vielleicht ist das ja bei Professoren anders.“ Er lachte und fuhr dann fort. „Sagen sie, Professor, haben sie den Studenten zu irgendeinem anderen Zeitpunkt schon einmal in der Hochschule gesehen?“

„Nicht, dass ich im Augenblick wüsste.“

„Oder solche Stiefel oder jemanden mit einer ähnlichen Brille oder Figur?“

Berthold überlegte erneut. Es strengte ihn an, er spürte es am Zittern seiner Augenlider.

„Ich bin mir nicht sicher“, sagte er nach längerer Pause. „Aber vor vier, fünf Monaten hatten wir mal einen Studenten, der mitten in einer mündlichen Prüfung durchgedreht ist. Das war im Fachbereich Elektrotechnik. Die Kollegen hatten mich dazu geholt, weil der Präsident an dem Tag nicht im Hause war. Und ich meine, dieser junge Mann hätte zumindest so ähnliche Lederstiefel getragen. Wir mussten ihn mit Gewalt auf einem Tisch festhalten, bis der Krankenwagen ihn abtransportierte.“

„Wissen sie wohin?“

„Ins hiesige Landeskrankenhaus, psychiatrische Abteilung, so hieß es jedenfalls. Darüber gibt es sicher Unterlagen. Wahrscheinlich hat Frau Lautenschläger, die Sekretärin des Präsidenten, sogar seinen Namen.“

Brockschmidt stand auf. „Danke, Professor“, sagte er und verabschiedete sich höflich. „Sie haben uns, glaube ich, ein ganzes Stück weitergeholfen. Und noch mal: Gute Besserung.“

*

Wütend drückte Samantha auf die Hupe, schimpfte, fluchte - es half nicht. Der Lastwagen scherte nach links aus, schnitt ihr den Weg auf der Überholspur ab. Sie trat kräftig in die Bremse und bemühte sich gleichzeitig in der Spur zu bleiben, damit sie mit ihrem Auto nicht zwischen die Leitplanken und das stabile Hinterteil des dreiachsigen Aufliegers geriet.

„Anzeigen sollte man den!“, schrie sie. „Rücksichtsloses Arschloch!“ Instinktiv tastete sie mit der rechten Hand über den Beifahrersitz. Das Diktiergerät! Gewöhnlich lag es dort. Oder war es in der Handtasche? Sie musste sich auf die Fahrbahn konzentrieren, auf den LKW vor ihr und auch auf den etwas langsameren Lastwagen rechts neben ihr. Nicht, dass der auch noch ausschert. Mit nervösen Fingern wühlte sie in einem Chaos von Utensilien.

Endlich! Da war es. Sie drückte die Aufnahmetaste, und sprach langsam und mit zittriger Stimme: „Dienstag, 5. März 1996, acht Uhr vierunddreißig. Autobahn Bremen, Richtung Süden, Höhe Wildeshausen. Vollbremsung wegen LKW mit dem Nummernschild ...“ Sie schaute genauer hin. „Ja gibt’s denn sowas? Der hat gar kein Nummernschild! Da ist nur eine schwarze Platte. Der fährt ohne Nummernschild mitten durch Deutschland!“

Sie prägte sich die Farbe des Aufliegers und den polnischen Schriftzug auf der Plane ein. „Szczecin“ stand da und daneben waren Gänse aufgemalt. Von der Telefonnummer fehlte die zweite und dritte Ziffer. Absichtlich?

„Eigentlich müsste man sofort die Polizei anrufen. Sofort!“

Sie beruhigte sich wieder. „Tief Luft holen, Scheiße schreien, auf das Lenkrad trommeln und bis zum nächsten Parkplatz warten.“ Der Schock vom letzten Jahr saß noch zu tief. Es war eine ähnlich kritische Situation gewesen. Sie hatte mit Austin telefoniert und war nur mit Glück an einem Unfall vorbeigeschrammt. Seitdem war Telefonieren während der Fahrt tabu. Das Diktiergerät nutzen, das war aufregend genug, obwohl es mit automatischer Sprachsteuerung funktionierte.

Der Pole blinkte nach rechts und gab die Überholspur wieder frei. Samantha fuhr an ihm vorbei und drosselte das Tempo, nach dem sie auf die rechte Spur gewechselt war. Sie bemühte sich, im Rückspiegel das stark verschmutzte Nummernschild zu entziffern. Nur ein „H“, eine Drei und weiter hinten eine Fünf konnte sie entziffern. Hatte der was zu verbergen?

Sie ließ den Lastwagen aufschließen und drehte sich um. Das half auch nicht. Der Pole blinkte mit der Lichthupe und setzte erneut zum Überholen an.

„Das könnte dir so passen!“, schimpfte sie und drückte kräftig auf das Gaspedal ihres Golf-GTI.

*

Sie verließ die Autobahn nicht beim nächsten, sondern erst beim übernächsten Parkplatz. Etwas Vorsprung haben, alles in Ruhe überdenken und dann einen Entschluss fassen, sagte sie sich. Das ist in emotionsgeladenen Situationen die bessere Strategie. Sie parkte so, dass sie die Autobahn gut überblicken konnte. Den Fotoapparat legte sie griffbereit.

Der LKW aus Polen kam nicht. Auch nicht nach zwanzig Minuten. Sie schaute ungeduldig auf die Uhr.

„Wer weiß. Ist vielleicht besser so.“ Die Zeit raubende Prozedur bei der letzten Anzeige fiel ihr wieder ein. Diese vielen Fragen. Der Ärger. Und der kommt spätestens, wenn dieser Pole dann alles abstreitet. „Da konzentriere ich mich doch lieber auf den eigentlichen Grund meiner Fahrt.“

Anstatt die Polizei anzurufen, tippte sie die Telefonnummer der Fachhochschule Osnabrück ins Handy.

„Bitte Herrn Professor Trotta“, sagte sie.

Samantha wunderte sich, dass die Verbindung so schnell zustande kam. Trotta war sehr freundlich, erinnerte sich sofort an sie und erzählte ohne große Umschweife von seinem letzten Besuch im Krankenhaus: Ackermann mache zwar langsame, aber doch erkennbare Fortschritte, und die Polizei sei inzwischen auch dem ominösen Briefeschreiber, diesem selbst ernannten Beschützer der Menschheit, auf der Spur. „Ein ehemaliger Student der Hochschule! Der würde zurzeit in der psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Osnabrück liegen.“

„Kennen Sie den Namen?“

„Bölkow oder so ähnlich“, sagte Trotta. „Im Sekretariat, da müsste man es genau wissen.“

„Würden Sie mich denn freundlicherweise dorthin verbinden?“, bohrte sie weiter. Mit dem richtigen Namen, dachte sie, komme ich vielleicht meinem Ziel näher. Ich könnte gleich ins Landeskrankenhaus fahren, vor Ort recherchieren, eventuell sogar Fotos schießen.

Sie verabschiedete sich besonders freundlich, und kurze Zeit danach meldete sich aus dem Sekretariat des Präsidenten eine Frau Lautenschläger:

„Wozu brauchen Sie den Namen denn?“

Eine abweisende Stimme hat sie, dachte Samantha. Bei der Frau muss ich auf der Hut sein.

„Die benötige ich für ein Treffen mit Hauptkommissar Brockschmidt vom Bundeskriminalamt.“

„Sind Sie eine Mitarbeiterin von ihm?“

„Ich bin mit ihm heute Vormittag im Landeskrankenhaus verabredet“, log sie, „habe aber dummerweise soeben einen Teil der Informationen gelöscht, die er mir auf den Anrufbeantworter gesprochen hat. Ausgerechnet den Teil mit dem Namen und der Zimmernummer. Und jetzt ist Herr Brockschmidt irgendwo unterwegs. Ich kann ihn nicht erreichen.“

„So, so“, bemerkte Frau Lautenschläger mit ironischem Unterton. „Ich dachte, das Bundeskriminalamt sei so eine perfekte Behörde.“

Samantha schwieg und wartete.

„Na ja“, fuhr Frau Lautenschläger fort. „Dann will ich die Ermittlungen nicht unnötig behindern. Warten sie bitte.“ Samantha hörte Papier rascheln und den Bügel eines Aktenordners klicken. „Hier habe ich’s: Sven Bollnow heißt der junge Mann. Die Zimmernummer steht hier nicht. Nur, dass er auf Station D, wie Dora, Patient von Herrn Dr. Gerber ist.“

Am liebsten hätte Samantha einen Luftsprung gemacht. Sie bedankte sich und startete sofort ihren Wagen.

*

Berthold erschrak. Es klopfte und gleichzeitig öffnete sich die Tür. Gewöhnlich verging etwas Zeit oder es wurde wenigstens das „Herein“ abgewartet. Aber jetzt? Wo die Sicherheitsbeamten nicht mehr vor der Tür saßen?

Etwas unbeholfen humpelte Professor Mühlenhofen mit Unterarmkrücken ins Zimmer. Er keuchte und seine Miene entspannte sich erst, als er auf dem Stuhl neben Bertholds Krankenbett saß.

„Ich hoffe, ich störe nicht, Herr Kollege“, sagte er. Sein Kopf war rot angelaufen.

„Nein, nein.“ Berthold richtete sich ein wenig auf. „Es freut mich, dass Sie schon wieder auf den Beinen sind.“ Im Stillen dachte er: typisch Mühlenhofen. Erst setzt er sich, und dann fragt er.

„Ach wissen Sie“, fuhr Mühlenhofen fort. „Diese Krankenhausbetten, die sind eine Katastrophe. Ich kann einfach nicht mehr liegen. Und da dachte ich ...“, er unterbrach, schnappte nach Luft und redete weiter, „vielleicht können Sie ja ein wenig Aufmunterung gebrauchen.“

Berthold lächelte, lehnte sich zurück und musterte Mühlenhofen schweigend. Muss schlimm sein für ihn, dachte er. Diese Rolle als ausgebremster Hans Dampf mit Gipsbein und Krücken, die macht ihm sicher arg zu schaffen. Dann fiel ihm der gelb gestreifte Schlafanzug auf, das aufgeschnittene Hosenbein über dem Verband und der etwas zu kurz geratene weinrote Frottee-Bademantel. Am liebsten hätte er laut losgelacht.

„Was ich sagen wollte, Herr Kollege“, begann Professor Mühlenhofen umständlich und mit dienstlichem Unterton. „Ich überlege die ganze Zeit, wer uns übermorgen im Ministerium vertreten könnte, bei den Haushaltsberatungen. Schlagkräftig, meine ich. Die Ärzte wollen mich partout noch nicht entlassen.“

„Trauen Sie Frau Professor Niendieker das denn nicht zu?“, fragte Berthold. „Sie ist immerhin auch Vizepräsidentin?“

„Sie kennen den Finanzminister nicht, und was der von Frauen als Verhandlungspartner hält.“

„Herr Mühlenhofen, ich bitte Sie!“, entrüstete sich Berthold. „Sie könnte den Kanzler mitnehmen. Außerdem ist Frau Niendieker eine erfahrene und anerkannte Wissenschaftlerin.“

„In ihrem Fach, den Bodenwissenschaften, ja, ohne Zweifel. Aber hier geht’s ums Geld und nicht um irgendwelche Erdkrümel. - Können Sie nicht ihren Kollegen Derscheid? Ich meine, der ist ...“

„Ein Mann, wollen Sie sagen? - Davon halte ich gar nichts.“ Berthold richtete sich wieder auf. „Sie wissen, wie ich Derscheid schätze. Aber wenn Sie Frau Niendieker bei dieser Sache übergehen, riskieren Sie einen Aufstand in der Hochschule.“

Der ist sonst so modern in seinen Ansichten, dachte er. Aber wenn es um Frauen in Führungspositionen geht, gebärdet er sich manchmal seltsam. „Und im Übrigen“, fuhr er fort, „ich traue der Kollegin Niendieker durchaus eine erfolgreiche Verhandlungsführung zu. Vorausgesetzt, Sie statten sie vorher mit allen notwendigen Informationen aus.“

„Meinen Sie wirklich?“, Mühlenhofen runzelte die Stirn. „Es geht schließlich um existentielle Fragen, die Ausstattung, den Hochschulentwicklungsplan. Es geht um die Weichen ins nächste Jahrtausend!“

„Und was ist, wenn Sie den Minister um Terminverschiebung bitten? Der weiß doch, was hier passiert ist.“

Mühlenhofen sagte nach kurzer Denkpause: „Sie kennen mich doch. Ich will als Erster ins Rennen. Vor all den anderen Hochschulen. Die lassen uns am Ende sonst nur die Krümel übrig.“

Er ist und bleibt ein Ehrgeizling, dachte Berthold. Für die wissenschaftliche Reputation ist das ja nicht schlecht. Damit hat er schon viel erreicht, sogar den Sprung zu einer Fachhochschule mit eigener Budgetierung und Präsidialverfassung. Aber manchmal geht er einfach zu weit. Er beobachtete ihn einen Augenblick schweigend und war dann selbst überrascht, als ihm die Frage herausrutschte: „Und was wäre mit den Verhandlungen, wenn es uns beide erwischt hätte? Am Freitag, bei dem Anschlag?“

„Gott bewahre! Herr Ackermann!“

„Ich frage mich schon die ganze Zeit, wem der Anschlag wirklich gegolten hat. Mir? Ihnen? Überhaupt jemand Bestimmtem?“

„Sie wollen sagen, eigentlich hätte ich auf der Bühne stehen müssen. Nicht wahr?.“

Berthold schwieg. Seine Rippen schmerzten.

„Wissen Sie, Herr Kollege“, fuhr Mühlenhofen fort, „die Polizei ist sich sicher: Mich wollte man nicht umbringen. Nur aus dem Verkehr ziehen, mich vorübergehend kampfunfähig machen, sozusagen, und zwar durch eine schmierseifenähnliche kaum sichtbare Masse, genau auf den Stellen des Bürgersteiges, von denen aus ich gewöhnlich in den Dienstwagen einsteige. Das muss einer genau ausgekundschaftet haben.“

„Sie meinen, da hat jemand absichtlich dafür gesorgt, dass Sie sich bloß, wenn ich das so sagen darf, ein Bein brechen, damit ich dann bei dem Festakt für Sie einspringe?“ Berthold spürte die Erregung in seiner Stimme und wie seine Mundwinkel zuckten.

„Sieht so aus“, antwortete Mühlenhofen. „Vermutlich wollten die oder der Täter verhindern, dass ich vor dem Festakt in der Hochschule erscheine und zum Beispiel“, er machte eine Pause, holte Luft, „diesen Overheadprojektor auf der Bühne entdecke und entfernen lasse.“

„Die Idee mit dem Logo stammte nicht von Ihnen?“

„Ich bitte Sie! Erstens hätte ich das mit Ihnen und mit Frau Gödeler abgesprochen. Und zweitens: Da nehme ich doch nicht so altmodische Plastikfolien. Die sind doch längst out. Wenn schon, dann hätten wir da eine farbenprächtige Lasershow von gemacht, Herr Ackermann. Aber unsere Elektroniker sind ja wieder mal nicht rechtzeitig in die Puschen gekommen.“

Berthold schob sein Kissen in eine andere Lage. Sein Herz klopfte. Der Atem ging unregelmäßig. Der Gedanke, irgendjemand trachtet dir gezielt nach dem Leben, begann in seinem Kopf zu wuchern. Warum?, fragte er sich. Wer könnte ein Interesse daran haben? Und was hat dieser Student damit zu tun?

„Ist ihnen nicht gut?“ Mühlenhofens Stimme klang besorgt. „Herr Ackermann, Sie sind ja ganz bleich im Gesicht.“

Als Berthold nicht antwortete, drückte Mühlenhofen mit seinem Krückstock auf die Alarmklingel.

*

Samantha schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach zehn, als sie an die Glasscheibe der Rezeption klopfte und die kleine Obsttüte auf das schmale Brett legte. Hinter der Scheibe saß ein älterer Mann in einem engen Pullover mit rostbraunen und gelben Querstreifen. Sein Kinnbart sah ungepflegt aus, aber in seinen Augen und um die schmalen Lippen herum war ein warmes freundliches Lächeln.

„Ich möchte zu Herrn Bollnow“, sagte Samantha. „Sven Bollnow. Er ist Patient von Dr. Gerber.“ Wenn ich das so formuliere, dachte sie, hält er mich vielleicht für eine Verwandte und gibt bereitwilliger Auskunft.

„Bollnow, sagten Sie? Be - o - el ...“, er hämmerte mit unbeholfenen Fingern den Namen in die Tastatur seines Computers, wartete gespannt und kratzte sich an seinen abstehenden gelbgrauen Haaren. „Bollnow. Da ist er. Auf Station D wie Dora. Zimmer 324. Da müssen Sie hier die Treppe hinauf, bis in den dritten ...“

Er blickte erstaunt hinter Samantha her. Die hatte bereits die ersten Stufen genommen.

„Keiner hat mehr Zeit“, murmelte er fassungslos und schüttelte den Kopf. „Dabei tickt die Uhr für jeden gleich. Immer mit derselben Geschwindigkeit. Tick tack. Tick tack.“

Er schaute andächtig auf die Uhr mit den großen schwarzen Ziffern über dem Treppenaufgang und folgte dem gleichmäßig vorwärtsstrebenden Sekundenzeiger. „Tick tack. Tick tack“, sagte er. „Du bist wahrscheinlich die Einzige hier im Hause, die noch richtig tickt.“

*

Als sie in der dritten Etage in den langen Flur einbog, sah sie am Ende zwei Männer stehen. Sie unterhielten sich lebhaft, gestikulierten mit den Armen. Samantha schätzte kurz die Zimmernummern ab. Das müsste ungefähr vor 324 sein.

Der kleinere trug einen weißen Kittel. War das vielleicht Dr. Gerber? Die Konturen des anderen kamen ihr bekannt vor. Aber sein Gesicht war im Gegenlicht der Sonne, die durch das Fenster am Ende des Ganges hereinschien, nicht klar zu erkennen. Erst als sie die beiden fast erreicht hatte, sah sie es und erschrak: Der Größere war Hauptkommissar Brockschmidt.

Wie komme ich bloß an dem vorbei in Bollnows Zimmer?, fragte sie sich. Der hat mich sicher längst erkannt. - In solchen Situationen gibt´s nur eins. Wie hatte Großvater immer gesagt? - Attacke!

Forsch steuerte sie die Tür zum Zimmer 324 an, klopfte und wollte gerade die Klinke herunterdrücken, da hörte sie Brockschmidts Stimme im Rücken:

„Dort dürfen sie jetzt nicht rein.“

Sie drehte sich um. „Und wieso nicht?“

„Weil es Gründe dafür gibt.“ Brockschmidt klang gereizt.

Samantha zögerte einen Augenblick, dann schwenkte sie mit erhobenem Kopf und ausgestreckter Hand, ohne Brockschmidt weiter zu beachten, auf den Mann im weißen Kittel zu.

„Guten Tag“, sagte sie selbstbewusst. „Ich bin Samantha Smits und würde gern meinen Neffen besuchen. Weshalb darf ich das nicht?“

Der Mann im Kittel schielte Hilfe suchend zu Brockschmidt hoch, fing sich aber schnell und erwiderte ihren Händedruck.

„Dr. Gerber, ich bin der behandelnde Arzt. Leider ist ...“

Brockschmidt ließ ihn nicht ausreden.

„Sie? Eine Tante? Von Bollnow?“, fuhr er dazwischen. „Wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie bestenfalls eine ... eine Pressetante.“

„Na und?“, konterte Samantha. „Meinen Sie, Journalisten hätten keine Verwandte?“

Dr. Gerber war der Streit auf dem Flur unangenehm. Das sah sie ihm an. Er bemühte sich zu schlichten und fragte Samantha überaus höflich: „Warum wollen Sie denn zu Herrn Bollnow? Warum heute?“ Und, nach dem Samantha nicht gleich antwortete, ergänzte er: „Ich kenne Herrn Bollnow schon seit geraumer Zeit. Er hat mir immer wieder gesagt, es gäbe gar keine Verwandten mehr. Er lebe sozusagen mutterseelenallein hier in Osnabrück. Seine Mutter, das müssten Sie ja wissen, ist bereits gestorben, als er 19 war.“

Samantha fühlte sich entwaffnet. Was soll ich darauf antworten? Ich habe mich zu weit vorgewagt. Rückzug? Jetzt?

„Frau Smits“, mischte sich Brockschmidt wieder ein. „Machen Sie uns doch nichts vor. Sie sind Journalistin und hier auf der Suche nach Ihrer Story. Ich sehe die Titelseite schon vor mir: Exklusiv aus der Heilanstalt - Was uns der geistesgestörte Attentäter sagen will.“

„Ach ja?“ Samantha hatte sich erstaunlich schnell wieder in der Gewalt. „Ist er denn der Attentäter, Herr Brockschmidt? Haben Sie ihn überführt? Haben Sie sein Geständnis?“

Mit flinken Fingern holte sie ihr Diktiergerät aus der Tasche, hielt es ihm eingeschaltet vor den Mund und hakte nach:

„Und wenn er´s war, Herr Brockschmidt, kennen Sie die Motive? Warum hat er es getan? Erklären sie es unseren Lesern.“

Auf dieses Feuerwerk war er nicht gefasst. Er drückte das Gerät mit der Hand beiseite.

Dr. Gerber bemühte sich, die Situation zu entkrampfen:

„Bitte, meine Herrschaften. Wäre es nicht wesentlich klüger, wenn Sie, anstatt sich zu zanken, angesichts der gegenwärtigen Sachlage vielleicht ... zusammenarbeiten würden?“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Samantha, während Brockschmidt missmutig etwas Unverständliches vor sich hin brummte.

„Schalten Sie Ihren Apparat ab. Ich werde es Ihnen erläutern.“

Samantha zuckte mit den Schultern und steckte das Diktiergerät widerwillig in die Tasche.

„Seit Freitag“, fuhr er fort, „genauer gesagt, seit Freitagmittag, hat sich sein Gesundheitszustand verändert - dramatisch, könnte man sogar sagen. Und völlig überraschend. Die Prognose war bis dahin günstig, sehr günstig, müssen Sie wissen. Wir wollten ihn entlassen, endgültig. Seine Freigänge waren komplikationslos verlaufen. Ambulante Betreuung hätte gereicht. So weit war er schon. Aber ...“, Dr. Gerber kratzte sich am Kopf und sprach dann nervös weiter, „irgendetwas ist da vorgefallen. Ein traumatisches Erlebnis vielleicht. Er reagiert seit Freitag völlig verändert. Konkret: Er verweigert die Mahlzeiten und spricht nicht mehr mit mir. Er lässt keinen an sich heran. Einzig unserer Psychologin ist es gestern für einen kurzen Moment gelungen, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Aber die ist, wie ich schon sagte, Herr Brockschmidt, für die nächsten Tage auf einem Kongress.“

„Sie meinen“, Brockschmidt schüttelte seinen Kopf, „deshalb sollte ich stattdessen mit dieser Dame hier ...?“

Sie haben es eilig!“, sagte Dr. Gerber. „Sie wollen keine Zeit verlieren! - Weshalb sollten wir da den Umstand nicht nutzen, dass Frau Smits der Kollegin Brüning auffallend gut ähnelt?“

„Nee, Doktor!“ Brockschmidt wehrte ab.

„Wieso sperren Sie sich?“, fragte Samantha. Sie erfasste die winzige Chance blitzschnell. „Verfolgen wir nicht letztendlich die gleichen Aufgaben? Die Wahrheit herausfinden?“ Sie spürte, dass sie ihrem Ziel jetzt näher kam. Nur noch ein kleiner Schubs, dachte sie, dann ist er reif.

Die Tür öffnete sich plötzlich. Ein magerer junger Mann mit einer altmodischen Hornbrille und einer Baskenmütze kam heraus. Er hatte sich einen Wollschal um den Hals gebunden, trug einen grob gestrickten grauen Pullover und eine Jeans mit reichlich abgewetzten Stellen über den Knien.

Als er Samantha sah, stutzte er. Die Augen weiteten sich hinter den dicken Gläsern. Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln. Es schien, als würde er sich über eine Bekannte freuen - aber nur kurz. Dann erstarrte sein Gesicht zu einer Grimasse. Er sprang auf Samantha zu, griff nach ihren Handgelenken, riss sie an sich, legte den anderen Arm um ihren Hals, drückte ihren Kopf nach unten und zerrte sie in sein Zimmer. Samantha wehrte sich, schrie um Hilfe. Die Obsttüte fiel herunter, platzte auf. Dr. Gerber, der näher an der Tür stand als Brockschmidt, versuchte Samantha festzuhalten, rutschte aber auf den Weintrauben aus, lag plötzlich quer vor der Tür. Er schrie: „Sven! Machen Sie keinen Unsinn! Lassen Sie das?“

Brockschmidt konnte rechtzeitig seinen Fuß zwischen Türrahmen und Tür schieben. Samantha hörte, wie er sich mit aller Gewalt gegen die Tür stemmte. Er keuchte, fluchte. Inzwischen musste Dr. Gerber wieder aufgestanden sein. Sie polterten und drückten zu zweit gegen die Tür. „Bollnow! Machen Sie auf!“

Samanthas Hals und Schulter schmerzten. Bollnow schien ungeheure Kräfte mobilisieren zu können, trotz Hungerstreik. Sie strampelte und schrie verzweifelt. Dann sprang die Tür endlich auf. Sie schlug mit lautem Knall gegen die Innenwand. Brockschmidt hastete ins Zimmer, packte Bollnow, überwältigte ihn mit wenigen Handgriffen. Samantha richtete sich langsam auf.

*

„Merkwürdige Atmosphäre hier drin. Finden Sie nicht?“ Brockschmidt rührte nervös in seiner Kaffeetasse.

„Irgendwie schon“, antwortete Samantha. Das seltsame Verhalten einiger Gäste war ihr auch aufgefallen. Schließlich saßen sie schon eine Zeitlang in dem kleinen Krankenhaus-Café. Es war gar nicht so leicht, Brockschmidt Einzelheiten über Bollnows Beteiligung an dem Anschlag und die möglichen Hintergründe zu entlocken. Sie musste ihn bei Laune halten. „Ich denke mal“, setzte sie deshalb das Gespräch fort, „für die Patienten dieser Klinik ist es sicher wichtig, dass sie so ein Café haben, einen Ort, an den sie sich zurückziehen können, ganz normal.“

„Normal?“

„Na, zum Beispiel, wenn sie Besuch bekommen.“ Samantha schlürfte an ihrer heißen Schokolade und beobachtete währenddessen den älteren Mann am Nebentisch. Er hatte zwei Portionen Kaffee bestellt, obwohl er allein war. Und er fing jetzt mit weit ausladenden Armbewegungen ein Gespräch mit jemandem an, der in seiner Vorstellung mit am Tisch saß. Er wirkte glücklich, entspannt, zufrieden. „Was ist schon normal?“, sinnierte sie, und nach einer kurzen Zeit des Schweigens fügte sie hinzu: „Wenn man über das nachdenkt, was Bollnow so alles gesagt hat, nachdem ihn die Spritze von Dr. Gerber beruhigt hatte.“

„Sie meinen die Bedrohung der Menschheit durch den technischen Fortschritt?“

„Ja. So verrückt klingt das doch gar nicht. Oder?“

„Aber dieser völlig verdrehte Wahnsinnssatz: Von der Mafia beherrschte Wissenschaftler, Politiker und Wirtschaftsbosse würden uns - wie hat er gesagt? - ein Dasein aufzwingen, das abseits aller natürlichen Muster menschlichen Verhaltens liege und unseren sicheren Untergang bedeute, wenn wir uns nicht dagegen wehren.“

„Vielleicht würden wir das nur anders formulieren.“ Samantha hielt kurz inne, trank erneut einen Schluck. „Schauen Sie sich doch um, Herr Brockschmidt. Was sind denn unsere täglichen Schlagzeilen? - Mord, Totschlag, Bürgerkrieg, Korruption, Massenarbeitslosigkeit, Verelendung der Dritten Welt und so weiter, und so weiter. - Alles natürliche Muster menschlichen Verhaltens?“

Brockschmidt räusperte sich verlegen und rutschte mit dem Stuhl ein Stück von Samantha ab.

„Und ihre Probleme bei der Polizei? Terror, organisierte Kriminalität, Drogen-, Waffen-, Menschenhandel im internationalen Maßstab; und wenn wir nicht aufpassen, Geldwäsche bis zum Ruin ganzer Staaten.“

„Schlimm genug, Frau Smits. Doch vergessen Sie nicht: Bollnow ist krank. Paranoide Schizophrenie. Der redet nur normal, wenn er ausreichend Neuroleptika im Blut hat.“

Sie haben von der merkwürdigen Atmosphäre hier gesprochen.“ Samantha trank noch mal an ihrer Schokolade. „Aber ist das hier nicht geradezu ein idealer Ort, um sich klar zu werden, wie nahe oft Vernunft und Wahnsinn, oder sagen wir Intelligenz und Schizophrenie, beieinander sind?“

Brockschmidt beugte sich über seinen Kaffee. „Der Verrückte, der uns die Wahrheit verkündet? - Meinen Sie das?“ Samantha sah sein mitleidiges Lächeln.

„Sagen wir besser: Der Narr, der uns den Spiegel vor die Augen zwingt. Er hatte übrigens Bücher von Robert Jungk auf dem Nachttisch: Der Atomstaat, Heller als tausend Sonnen.“

„Hier geht es um Sprengstoff, Frau Smits! Vergessen Sie das nicht. Sprengstoff in einem Overheadprojektor. Es gab Verletzte und einen Toten.“

„Richtig“, entgegnete Samantha. „Aber haben Overheadprojektoren nicht auch so eine Art Spiegel? Von Wissenschaftlern liebend gern genutzt, um ihre eitlen Weisheiten möglichst einprägsam zu verbreiten? Manchmal glaube ich, die Leinwand kann ihnen dabei nicht groß genug sein.“

„Und mit solchen Gedanken im Kopf wollen Sie jetzt Ihre Story ...?“

Brockschmidt brach die Frage ab. Sein Handy piepte in der Jackentasche. „Entschuldigung“, sagte er und stand auf.

Samantha hörte, wie er auf dem Weg zum Ausgang sagte: „Verdachtsmomente? Ja. Zahlreiche. Aber der kann es unmöglich allein gewesen sein. ... vorsichtshalber, in die forensische Abteilung, damit er nicht ...“ Dann konnte sie nichts mehr verstehen. Die Tür fiel hinter ihm zu.

Sie trank den Rest ihrer Schokolade, stand auf und schritt zur Kasse. Schließlich habe ich ihn ja eingeladen, dachte sie. Als Dank für die Rettung, gewissermaßen. Erst jetzt fühlte sie den Schmerz am rechten Handgelenk und in der Schulter wieder. War ein harter Einsatz. Aber so ist das, wenn man seinen Job ernst nimmt. Sie verließ das Café, um sich draußen von Brockschmidt zu verabschieden.

*

Ellen erschrak, als sie die Klingel hörte. An diesen schrillen Ton hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt. Sie schaute auf die Armbanduhr.

„Halb drei? So früh am Nachmittag?“

Es klingelte zum zweiten Mal und kurz danach wieder.

„Unverschämt hartnäckig“, murmelte sie und erhob sich gemächlich von dem Sofa; sie hatte sich dort mit einer Wolldecke und einem Buch von Remarque bequem hingelegt: Arc de Triomphe, - Paris am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, wie es der emigrierte Arzt Ravic erlebte. Sie wollte es rückblickend vergleichen mit den noch frischen Erinnerungen an das Paris der letzten Monate. Ihre Stimme klang ungehalten, als sie ihr „Ja, bitte?“ durch das Türtelefon fragte.

„Hauptkommissar Brockschmidt. Guten Tag. Darf ich?“

„Moment“, sagte Ellen, hängte den Hörer ein, betrachtete sich kurz in dem großen Garderobenspiegel, zupfte die gekräuselten Haarsträhnen zurecht, schob den Pullover ordentlich über die Jeans und drückte auf den Türöffner.

Brockschmidt war schnell. Er musste auf der Treppe zwei Stufen auf einmal genommen haben, denn er stand vor der Korridortür in der ersten Etage, als sie sie öffnete.

„Entschuldigung, wenn ich bei Ihnen so unangemeldet hereinplatze“, sagte er. „Aber, da ich heute noch zurück nach Wiesbaden muss, wollte ich mir vorher wenigstens einen kleinen Eindruck von ...“

„Suchen Sie den Attentäter hier?“, unterbrach sie.

„Sollte ich?“ Brockschmidts Stimme klang nicht weniger provozierend, und Ellen fiel auf, wie aufmerksam er sie mit seinen Blicken abtastete. Obwohl sie es sonst genoss, wenn sich fremde Männeraugen länger als üblich auf ihre Beine, den Busen und die Lippen richteten - diesmal spürte sie eher ein diffuses Unwohlsein.

„Kommen Sie erst einmal herein“, sagte sie deshalb, ohne auf seine Frage einzugehen. Sie nahm ihm den Mantel ab, hängte ihn auf einen Bügel und zeigte dann mit der Hand in Richtung Wohnzimmer. "Oder möchten Sie die Hausbesichtigung lieber woanders beginnen?"

„Nein, nein“, wehrte Brockschmidt lachend ab. „Ich richte mich da ganz nach Ihnen.“ Und als sie im Wohnzimmer standen, einen Augenblick unsicher, wie es weiter gehen soll, fügte er hinzu: „Wenn es Sie beruhigt, ihr Name befindet sich nicht auf meiner Liste der Verdächtigen, Frau Ackermann. Im Gegenteil: Ich möchte Sie für eine Zusammenarbeit gewinnen.“

„So, möchten Sie.“

„Ich denke, es ist auch in Ihrem Interesse.“

„Und wie stellen Sie sich das vor?“

„Nun, Sie zeigen mir, wie ihr Vater so lebt, sein Arbeitszimmer zum Beispiel. Er hat doch eins? - Und Sie erzählen mir etwas über ihn: Was Ihnen dazu einfällt, oder was Sie in der jetzigen Situation für wichtig halten.“

„Gehen wir ins Arbeitszimmer.“

Sie beobachtete, dass Brockschmidt sehr genau die moderne, etwas futuristisch anmutende Einrichtung aus Glas, Metall und Holz registrierte.

„Vermutet man gar nicht in so einem Haus aus der Jahrhundertwende“, sagte er erstaunt. „Und schon gar nicht, wenn man zuvor die alten Gründerzeit-Möbel im Wohnzimmer gesehen hat, die Gardinen, Teppiche und die verspielte Garderobe im Flur.“

„Aber so ist mein Vater: Widersprüche, Gegensätze, das auf den ersten Blick Unvereinbare oder Unmögliche zieht ihn an, betrachtet er als Herausforderung, versucht er irgendwie in einer neuen Lösung zusammenzubringen.“

„Harmoniesüchtig?“

„Keineswegs. Eine Kämpfernatur, wenn es seine Ziele und den wissenschaftlichen Fortschritt betrifft.“

„Und privat? Als Vater?“

„Hätten Sie mich das vor zehn Jahren gefragt: Ein Tyrann, ein Besserwisser, ein - ach, alles in dieser Art! Aber bloß keiner, der auf Harmonie oder Familienfrieden bedacht war.“ Ellen lachte dabei zum ersten Mal.

„Und jetzt?“

„Seit ich aus dem Hause bin, seit meinem Studienbeginn, verstehen wir uns besser. Er ist im Grunde feinfühlig und ...“

„Entschuldigung, ich unterbreche Sie nur ungern.“ Kommissar Brockschmidt zeigte auf ein Bild, das an der einzigen nicht mit Bücherregalen bedeckten Wand hing. „Ist das ein Hopper?“

„Sie meinen den einsamen Mann an der Tankstelle? - Ja, das Bild ist von Edward Hopper. Aber kein Original.“ Ellen lachte wieder. „So viel verdient er als Professor auch wieder nicht.“

„Eine hervorragende Reproduktion.“

„Woher dieses Kunstverständnis, Herr Brockschmidt? Das Bild stammt immerhin aus den vierziger Jahren.“

„Meine Schwester lebt in Boston. Durch sie bin ich auf Hopper aufmerksam geworden. Ich habe sie oft besucht, bin mit ihr und ihrem Mann kreuz und quer durch Neuengland gestreift: New Hampshire, Connecticut, Massachusetts, Rhode Island, und, und, und.“

„Vater hat einige Jahre in Hartford gelebt und bei Pratt & Whitney gearbeitet. Forschungsabteilung für Flugzeugtriebwerke. Das Bild ist ein Abschiedsgeschenk der Kollegen. Ist ihm sehr wichtig.“

„Hat er mal erklärt, warum?“

„Ja. Hopper hat, so sagte er öfter, die Einsamkeit des Menschen in der modernen Industriegesellschaft, die Entfremdung, so einfühlsam in Bildsprache umgesetzt, so eindrucksvoll wie kaum ein anderer moderner Maler.“

„Ist ihr Vater ein einsamer Mensch?“

„Sicher nicht. Aber damals vielleicht. Er ging kurz nach dem Tod meiner Mutter, sie starb durch einen tragischen Verkehrsunfall, in die Staaten. - Eine Zeit, über die er nicht gerne spricht.“

„Und Sie? Wo waren Sie?“

„Ich bin in Freiburg aufgewachsen, bei seinen Eltern - bis zum Tod meiner Großmutter. 1984 ist sie gestorben. Da ist er zurückgekommen, hat hier die Professur angenommen und mich nach Osnabrück geholt.“

„Glauben Sie,“ Brockschmidt drehte sich um und bewegte sich auf die Tür zu, „glauben Sie, ihr Vater hat Feinde?“

Ellen ging hinter ihm her, blickte nachdenklich auf den Fußboden und antwortete: „Ich kann es mir nicht vorstellen. Er hat nie eine Andeutung gemacht.“ Sie blieb stehen, strich mit den Händen durch ihre Haare und fuhr dann fort: „Andererseits bin ich zu selten in Osnabrück, um diese Frage hinreichend beantworten zu können. Vielleicht sollten Sie besser seine Kollegen in der Hochschule fragen.“

„Sie meinen Professor Derscheid und Trotta?“ Brockschmidt stützte sich am Türrahmen ab. „Die können mir auch nicht weiterhelfen. Selbst Frau Gödeler habe ich danach gefragt und einige seiner Studenten. Überall die ähnlichen Worte: Beliebt, immer gut drauf, offen für die Sorgen seiner Leute, experimentierfreudig, engagiert in Forschung und Lehre - bis auf gelegentliche Wortgefechte, die er sich mit dem Präsidenten in den Hochschulgremien liefert, wenn die Gelder nicht gerecht aufgeteilt und die Prioritäten seiner Meinung nach falsch gesetzt werden.“

„Ja, mit Herrn Mühlenhofen streitet er sich manchmal. Aber Feinde? Verfeindet sind die beiden deshalb nicht.“

„Und Frauen?“

„Wie meinen Sie das?“

„Hatte er nach dem Tod Ihrer Mutter wieder ...?“

„Geheiratet? - Nein.“

„Oder eine festere Beziehung?“

„Nicht dass ich wüsste. Bestenfalls ein paar flüchtige Bekanntschaften.“

Brockschmidt löste sich vom Türrahmen. „Okay“, sagte er, reichte Ellen die Hand zum Abschied und fügte mit freundlichem Lächeln hinzu: „Danke für Ihre Offenheit. Ich denke, das genügt für heute.“

„Wollen Sie denn schon gehen?“ Ellen war überrascht, hielt kurz inne. „Darf ich Ihnen wenigstens etwas anbieten? Einen Tee vielleicht?“

„Nein danke. Ich muss noch schnell zur Polizeiinspektion, meine Sachen ...“

„Orangensaft?“ Ellen ließ nicht locker. „Ich hätte da nämlich auch ein paar Fragen, Herr Brockschmidt. - Gibt es inzwischen eine heiße Spur?“

Brockschmidt wechselte nervös das Standbein. „Nur soviel kann man im Augenblick sagen: Ein terroristischer Hintergrund für den Anschlag erscheint immer wahrscheinlicher.“

„Die IRA?“

„Sieht so aus.“

„Und der Student, den mein Vater erwähnte? Dieser Student, den man ins Landeskrankenhaus eingeliefert hat?“

„Bollnow? - Der hat die Bombe auf die Bühne gebracht und den Zündmechanismus in Gang gesetzt. Das ist sicher. Aber er kann es unmöglich allein gewesen sein. Er hatte Helfer, Hintermänner.“

„Und die vermuten Sie bei der IRA?“

„Wir haben frühere Kommilitonen von ihm befragt. Er hat Anfang 95 in Dublin bei einer Computerfirma ein Praxissemester abgeleistet und soll von dort aus mehrfach nach Portadown und Belfast in Nordirland gefahren sein. Unsere britischen Kollegen prüfen das.“ Brockschmidt hielt inne. Sein Handy meldete sich. „Entschuldigung“, sagte er, zog es aus der Jackentasche.

„Waaas?“, hörte Ellen ihn aufgeregt fragen. „Diese Journalistin? Diese Smits sitzt schon wieder in dem Zimmer von Bollnow? Können Sie die festhalten, Doktor Gerber? Ein bisschen beschäftigen? - Ich bin in zehn Minuten da.“

„Samantha Smits?“, fragte Ellen.

„Kennen Sie die etwa auch schon?“ Brockschmidt schob wütend sein Handy zurück in die Tasche. „Ich muss los. Tut mir leid“, sagte er und hastete die Treppe herunter. „Ich melde mich noch mal.“

„Am besten, Sie lassen diese Frau einsperren!“, rief Ellen hinter ihm her.

UM ZWÖLF BEI ZEUS

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