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3. Die Bibel – Autorität oder Hindernis auf dem Weg zu einem zeitgemäßen Gottesglauben?
ОглавлениеDenn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.
Paulus, 2 Kor 3,6
Eine Gemeindeveranstaltung zum Thema „Gott und unsere Gottesbilder“ hat es an den Tag gebracht: Die traditionell biblischen, anthropomorph-theistischen9 Gottesbilder beherrschen nach wie vor die Gottesvorstellungen „guter Christen“, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Alltagserfahrungen häufig in krassem Widerspruch zu diesen Bildern stehen: Gott als allmächtiges, außerweltliches personales Gegenüber mit sehr menschlich gedachten Eigenschaften und Gefühlen wie Liebe und Erbarmen, aber auch Zorn, Rache und Parteilichkeit, das frei und willkürlich in den Lauf der Welt oder ins persönliche Schicksal von Menschen eingreifen kann, Nothelfer, moralische Instanz, Richter, mächtiges Über-Ich …, kurzum: Gott, wie er uns in biblischen Gottesbildern entgegenkommt als Schöpfer, König, Richter, Rächer, Herr, Hirte, Fels und Hort, Vater usw. Unnötig zu erwähnen, dass die an der Veranstaltung teilnehmenden Gemeindeglieder allesamt zu den treuen Kirchgängern gehörten. Sind all die Ferngebliebenen nur darum nicht erschienen, weil sie von einer solchen Veranstaltung nichts Neues erwarteten, weil sie, die wir eigentlich ansprechen und mit ihnen zusammen zeitgemäßere Gottesbilder erarbeiten wollten, annehmen mussten, von der Kirche ohnehin wie gehabt nur Altbekannt-Traditionelles – allein begründet mit dem Hinweis auf die Autorität der Bibel – zu hören zu bekommen? Traditionelle Gottesbilder, die vor der Realität unserer heutigen Welt ohnehin nicht mehr bestehen können? Haben sie befürchtet, dass ihre berechtigten Anfragen an traditionelle Gottesbilder einmal mehr mit Hinweisen auf die Autorität der Bibel und mit Bibelzitaten wie „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege“ (Jes 55,8) vom Tisch gefegt würden?
Was ist denn nun aber wirklich von der während Jahrhunderten von den Kirchen in Anspruch genommenen biblischen Autorität zu halten? Ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte der „Heiligen Schrift“ könnte da manches ins rechte Licht rücken:
Die Bibel ist, wie man übrigens schon längstens weiß, alles andere als eine einheitliche Schrift: Genau besehen, stellt sie eine ganze Bibliothek mit nicht weniger als sechsundsechzig einzelnen Schriften von unterschiedlichem Umfang dar, von denen neununddreißig zur Jüdischen Bibel („Altes Testament“) und siebenundzwanzig zur Christlichen Bibel („Neues Testament“) gehören. Schon dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass die Entstehungsgeschichte des biblischen Schrifttums äußerst kompliziert ist: Die meisten dieser Schriften hatten bereits eine Periode mündlicher Überlieferung hinter sich, bevor sie dann durch einen oder mehrere Verfasser, die zu den verschiedensten Zeiten lebten, und durch spätere redaktionelle Überarbeitungen in ihre heute vorliegende Form gebracht wurden. Außerdem entstanden die verschiedenen biblischen Schriften während einer außerordentlich weiten Zeitspanne von mehr als 1000 Jahren: die alttestamentlichen nach einer langen mündlichen Überlieferungsperiode zwischen etwa 900 und der Mitte des zweiten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, die neutestamentlichen zwischen den Jahren 50 und etwa 140 unserer Zeitrechnung. Und auch die endgültige Zusammensetzung der Bibel war Menschenwerk: Der Kanon10 neutestamentlicher Schriften war bis ins vierte Jahrhundert nach Christus nicht offiziell festgelegt. Erst durch einen Erlass des Athanasius im Jahre 367, der langen Streitereien ein Ende setzte, wurde der heutige Umfang von siebenundzwanzig neutestamentlichen Schriften für verbindlich erklärt, wobei eine größere Anzahl weiterer christlicher Schriften verworfen wurde. Die Grenzen des für den christlichen Glauben maßgeblichen alttestamentlichen Kanons waren hingegen immer etwas fließend; in der Reformationszeit erkannten die Reformierten nur die Jüdische Bibel (Tanach) an, wobei für sie entscheidend war, welche Schriften als Hilfe zum Glauben an den Gott Israels und an Jesus als seinen Messias interpretiert werden konnten. Luther fügte außerdem noch einen Teil der so genannten Apokryphen als „nützliche Schriften“ hinzu.11
Es dürfte somit nicht verwundern, dass die uns als „verbindlich“ vorliegenden biblischen Schriften mit einem Werdegang von über tausend Jahren alles andere als eine Einheit sind, sondern sich uns als ein Konglomerat unterschiedlichster Traditionen und literarischer Formen in bildreicher Sprache präsentieren: Unter anderem finden wir im Alten Testament Sagen verschiedener Art (Stammessagen, Lokalsagen, Ätiologien und Kultlegenden), die nach langen mündlichen Überlieferungswegen in die israelitische Geschichtserfahrung eingegangen sind, Lieder, Sprüche und Orakel, kosmologische und anthropologische Mythen, die meist von sumerischem oder babylonischem Einfluss zeugen, Märchenmotive, Novellen und vielfach überarbeitete und religiös interpretierte geschichtliche Stoffe, juristische Stoffe und nicht zuletzt auch prophetische Schriften mit Resten alter Prophetenlegenden. Und nicht viel anders präsentiert sich das Neue Testament: Religiös interpretierte Geschichtsschreibung, Legenden, Wundergeschichten, Dämonenglauben, Logien, antike Mysterienfrömmigkeit, apokalyptische Naherwartung, hellenistische Philosophie und noch vieles mehr wechseln sich ab.
Das heißt auch, dass die eigentlichen Glaubensaussagen in diesen unterschiedlichen literarischen Erscheinungsformen immer in Bilder und Mythen gekleidet sind. Dies ist einerseits notwendigerweise so, weil Erfahrungen des Göttlichen gar nicht anders als in Bildersprache ausgedrückt werden können, da dieses ja unsere Welt transzendiert und darum nicht in sachlogische Sprache zu fassen ist. Bilder und Mythen sind aber andererseits als literarische Formen immer kultur- und zeitbedingt, also vom jeweils herrschenden Welt- und Menschenbild geprägt. Ihre Aussagen können deshalb im heutigen Kontext nicht so ohne weiteres verstanden werden; sie müssen erst „übersetzt“, d.h., ihr Sinngehalt muss in Bilder und allenfalls Mythen übertragen werden, die Bezug auf unsere heutige Weltsicht nehmen, damit sie heutige Menschen ansprechen können.
Sowohl die weite Zeitspanne der Entstehung der biblischen Schriften als auch die meisten ihrer vielfältigen literarischen Formen verbieten es also grundsätzlich, einzelne biblische Aussagen herauszugreifen und sie uninterpretiert als Glaubenssätze, also als wortwörtlich zu glaubende Wahrheiten aus ihrem Kontext herauszulösen. Biblische Texte können deshalb nur im Blick auf ihr historisches, kulturelles und geistiges Umfeld verstanden und müssen auf uns und unsere Gegenwart bezogen werden.
Dies alles bestätigt, was wir eigentlich schon längstens wissen: Die Bibel ist weder vom Himmel gefallen noch von Gott oder irgendeinem Engel ihren Autoren diktiert worden (Verbalinspiration), sie ist von Menschen in menschlichen Worten geschrieben worden. Menschen haben in den verschiedenen biblischen Büchern festgehalten, wie sie in der Geschichte oder in ihrem eigenen Leben Göttliches erlebt haben. Biblische Berichte widerspiegeln also menschliche Erfahrungen im Licht ihres Glaubens an Gott bzw. an Jesus als den Christus. Die Bibel will somit auch nicht persönliche oder kollektive geschichtliche Erfahrungen im Sinne der heutigen Geschichtsschreibung oder eines „Reports“ als objektive Tatsachen darstellen, sondern sie gibt solche Erfahrungen immer interpretiert durch den Glauben ihrer Autoren oder Redaktoren wieder.
Kurzum: Die Bibel ist nicht „Gottes Wort“ im eigentlichen Sinne, sondern nur insofern, als die biblischen Autoren Gottes Wirken in ihrem Leben oder in der Geschichte zu erfahren glaubten und dies in einer für sie und ihre Weltsicht gemäßen Form zu Papier brachten. „Gottes Wort“ also in situations- und zeitbedingte Menschenworte gefasst. Ein wortwörtliches Verständnis der biblischen Schriften oder auch nur einzelner ihrer Aussagen verbietet sich deshalb grundsätzlich, nicht zuletzt auch darum, weil ein solches Verständnis die eigentlichen Aussagen ihrer Autoren, die ja immer in einer konkreten menschlichen und historischen Situation wurzelten, verstellen würde. Biblische Texte sind also immer in historischer, menschlicher und weltanschaulicher Sicht übersetzungsbedürftig. Denn unser heutiges Weltbild ist grundlegend anders, unsere gesellschaftlichen und persönlichen Probleme liegen anderswo, andere Gefahren bedrohen unsere Existenz. Die Bibel als „Rezeptbuch“ für die heutigen Lebensprobleme zu betrachten ist deshalb schlicht absurd. Dies gilt nun insbesondere auch für die meisten biblischen Gottesbilder, die ja gleichermaßen auf vergangenen kulturellen und weltanschaulichen Prämissen beruhen. Antike Mythen dürfen also nicht wortwörtlich für wahr gehalten werden; die ihnen eigene Wahrheit liegt „hinter“ ihren Sprachbildern. Für uns gilt es also herauszufinden, was der Geist biblischer Texte uns eigentlich sagen will. Übrigens ist dies genau das, was uns Jesus in der Bergpredigt mit seiner Auslegung alttestamentlicher Gesetzestexte vorgezeigt hat.
Leider hat gerade das in ihrer Zeit sehr berechtigte Anliegen der Reformatoren, wieder an den Ursprüngen des christlichen Glaubens anzuknüpfen, Luthers „sola scriptura“ also, später wesentlich zum Missverständnis der Bibel als „Gottes Wort“ im engeren Sinne beigetragen. Und auch die apodiktische Aussage Karl Barths im 20. Jahrhundert, dass sich Gott „senkrecht von oben“ ausschließlich und abschließend in der Heiligen Schrift und in Jesus Christus offenbart habe und dass später keine Offenbarungen oder Gotteserfahrungen von gleicher Bedeutung mehr erfolgt und überhaupt möglich seien, hat unsere Sicht auf die eigentliche Bedeutung der Bibel verstellt und so dem traditionellen Festhalten an wortwörtlich verstandenen Glaubenssätzen und heute nichtssagenden antiken Gottesbildern Vorschub geleistet. Oder wie Martin Koestler einmal festgestellt hat: „Der ‚Glaube an das Buch’ verdrängte den ‚Glauben an den lebendigen Gott’.“12 Die Meinung, Gott habe sich den Menschen nur in biblischer Zeit offenbart, vorher und nachher habe er beharrlich geschwiegen, dürfen wir ruhig als abwegig bezeichnen. Glaube hat immer etwas zu tun mit unserer Weltsicht, mit unseren Erlebnissen, Erfahrungen und unserem Schicksal. Und: Christlicher Glaube war in seinem tiefsten Wesen auch nie eine Art von Lehrstoff, den man auswendig lernen und abfragen kann.
Der Basler Theologe F. Overbeck hat darum wohl nicht ganz zu Unrecht festgestellt: „Der Kanon des Neuen Testaments ist der Totenschein des Christentums.“ Und übrigens: Hat nicht auch schon Paulus vor einem buchstabentreuen Glauben mit den Worten „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2 Kor 3,6) eindringlich gewarnt?13