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2. Die Situation der christlichen Kirche zu Beginn des dritten Jahrtausends

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Der Weise richtet sein Verhalten sowohl nach den Theorien der Religion als auch der Naturwissenschaft aus.

J. B. S. Haldane

Die großen christlichen Kirchen müssen je länger, desto schmerzlicher zur Kenntnis nehmen, dass sie in weiten Kreisen unserer Bevölkerung nicht mehr „ankommen“. Die wachsende Zahl von Kirchenaustritten spricht da eine sehr deutliche Sprache. Die Gründe für die Unzufriedenheit mit den Kirchen, die in den weitaus meisten Fällen für diesen Schritt angeführt werden – die Kirchensteuer, die Flüchtlingspolitik der Kirche, ihre Einstellung gegenüber den Randständigen unserer Gesellschaft, ihre Stellungnahmen zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen, insbesondere zu den Folgen einer globalisierten Wirtschaft, ihr Engagement in Umweltfragen, in der Entwicklungshilfe oder für den Frieden –, betreffen ja nicht nur die Kirche in ihrer Funktion als öffentlich-rechtliche Institution, die Steuern eintreibt und die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder mehr oder weniger erfolgreich unter einen Hut zu bringen versucht, sondern vor allem auch die Wertvorstellungen, die sie in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen vertritt. Dies legt die Vermutung nahe, dass der christliche Glaube an sich, aus dem ja diese Werthaltungen erwachsen, für viele nicht mehr nachvollziehbar ist oder von ihnen zumindest als für ihren alltäglichen Lebensvollzug in der heutigen Welt nicht mehr maßgebend und hilfreich und damit eben als überflüssig empfunden wird.

Vordergründig könnte man für diese Entwicklung verantwortlich machen, dass es heute in weiten Kreisen ganz einfach an einem elementaren Wissen über die Grundlagen unseres Glaubens fehlt; mit anderen Worten: dass uns eine christliche Sozialisierung in Familie, Schule und Gesellschaft mehr oder minder abhanden gekommen ist. Sicher spielt auch dieser in unserer Gesellschaft beobachtbare Trend mit, fällt aber meines Erachtens nicht allzu sehr ins Gewicht. Häufig wird von Seiten der Kirchen auch argumentiert, der moderne Mensch sei halt „weniger religiös veranlagt“ als frühere Generationen. Gegen diese Behauptung spricht jedoch die Beobachtung, dass die Menschen von heute nachweislich in stärkerem Maße als früher zu ihren religiösen Bedürfnissen stehen und bewusst auf der Suche nach einem tragenden Glauben sind. Der große Zustrom zu evangelikalen Gemeinschaften, zu fernöstlichen Religionen und ihren spirituellen Praktiken oder zum so genannten „New Age“ macht dies deutlich. Ich bleibe demnach bei der Vermutung, dass der eigentliche Grund für die Kirchenferne der meisten unserer Mitmenschen weder in ihrem fehlenden religiösen Bedürfnis noch im sozialen oder politischen Engagement der Kirchen zu suchen ist, sondern in einem heute als nicht mehr einsichtig und hilfreich empfundenen christlichen Glauben und damit letzten Endes im eigentlichen „Kerngeschäft“ der Kirchen, einer zeitgemäßen Verkündigung christlicher Glaubensinhalte. Offensichtlich wird diese als für heutige Ohren zu wenig glaubwürdig und in Wort und Inhalt als hoffnungslos „veraltet“ empfunden, so dass der heutige Mensch zum Schluss kommt, er werde mitsamt seiner Lebenswelt nicht ernst genommen. Und dies, obwohl die Kirchen vorgeben, sich in ihrer Verkündigung an einer zeitgemäßen Theologie zu orientieren, wie sie auf den theologischen Hochschulen während der letzten 150 Jahre erforscht und auch gelehrt wird.

Ich behaupte nun: Die entscheidende tiefere Ursache dafür, dass Christsein in unserer Gesellschaft ganz allgemein als rückwärtsgerichtet und weltfremd gilt und damit auch Anlass für die persönliche Entscheidung vieler Mitmenschen ist, dem christlichen Glauben, wie ihn die großen Kirchen vertreten, den Rücken zu kehren, liegt in der Unvereinbarkeit unserer heutigen von Technik und Naturwissenschaft geprägten Weltsicht mit der die christliche Verkündigung nach wie vor prägenden, im allgemeinen Bewusstsein aber schon längst obsoleten traditionell biblischen Weltsicht. Viele unserer aufgeklärten Zeitgenossen empfinden es zu Recht als Zumutung, mit dem christlichen Glauben implizit auch auf ein längst überholtes Weltbild verpflichtet zu werden. Christlicher Glaube, wie er in der kirchlichen Verkündigung noch meist dargestellt wird, gilt gerade darum bei denkenden Menschen schlicht als weltfremd, antiquiert, als ein Fossil aus vergangener Zeit, weil er mit unserer heutigen Weltsicht nicht mehr zu vereinbaren ist.4 Ein Blick auf die heutige „liberale“ Hochschultheologie könnte diesen Einwand zwar zumindest teilweise entkräften, aber offensichtlich haben es die christlichen Verkündiger und Katecheten in ihrem Bemühen, nicht auch noch das kleine, kirchentreue konservative „Häufchen“ aus den Kirchen zu vertreiben, bis heute verpasst, die neuere Theologie ins Volk zu tragen und so auch die Kirchenfremden von der bleibenden Aktualität christlichen Glaubens und christlicher Werte zu überzeugen. Der Spagat zwischen Tradition und Moderne ist den Kirchen also gründlich misslungen, nicht weil er nicht möglich gewesen wäre, sondern einzig darum, weil sie es nicht wagten, ihn auch außerhalb der universitären Elfenbeintürme unmissverständlich zu kommunizieren. Die altehrwürdige christliche Tradition mit ihren überkommenen Glaubenssätzen auf dem Hintergrund eines verflossenen dualistisch-gnostischen Weltbildes schwebt darum noch immer wie ein Gespenst über unseren Köpfen und vernebelt uns so den Zugang zu den jüngeren Entwicklungen in der Theologie und damit zu zeitgemäßeren Formulierungen und Ausdrucksweisen christlichen Glaubens.

Meines Erachtens spricht auch der Übertritt ehemaliger Kirchenglieder zu evangelikalen Gemeinschaften nicht gegen die These, dass ein wesentlicher Teil der Kirchenflucht aufs Konto einer verkrusteten, weltfremden, längst nicht mehr aktuellen Theologie in der Verkündigung geht. Nur einer Minderheit der den Kirchen ablehnend oder gleichgültig Gegenüberstehenden ist die Kirche ja zu wenig „fromm“, einer Mehrheit ist sie im Gegenteil zu wenig „liberal“, zu wenig aufgeschlossen gegenüber unserem heutigen Weltverständnis. Und die evangelikale Glaubensrichtung gründet ja in einer noch wesentlich weltfremderen Theologie, nämlich einer unkritischen, wortwörtlichen Auslegung der Bibel als „Gottes Wort“ im eigentlichen Sinne und im Fürwahrhalten alter Mythen und Glaubenssätze, ohne dass man ihre ursprüngliche Intention zu erfragen und sie im heutigen Kontext zu interpretieren versucht. Dabei handelt es sich ganz einfach – und das ist ja wohl auch das Bestechende an dieser Glaubensrichtung – um eine bedingungslose Rückkehr zu einer Art von „Kinderglauben“, also einen eigentlichen Akt der Regression, der zwar ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln vermag, aber den fundamentalistisch Glaubenden unweigerlich in einen Konflikt mit der heutigen Welt stürzt, in der er ja tagtäglich sein Leben bestehen muss (sofern er diese Unvereinbarkeit seines Glaubens mit seiner Lebenswelt überhaupt wahrzunehmen und sich einzugestehen vermag): Die Welt, in der man lebt, und die Welt des Glaubens fallen auseinander, man hat sich ja entschlossen, Glauben und Denken radikal voneinander zu scheiden. Dass ein solcher Glaube die Welt nur als fremd, vom „Bösen“ beherrscht und nicht als unser gottgegebenes Wirkungsfeld wahrnehmen kann, liegt auf der Hand. Eine Rückkehr zum Fundamentalismus etwa der protestantischen Orthodoxie wäre darum kontraproduktiv und mit Sicherheit der falsche Weg, um unsere großen Kirchen und den christlichen Glauben überhaupt aus der grundsätzlichen Krise zu führen, deren Ursache meines Erachtens ja gerade in der Unvereinbarkeit antiker christlicher Weltbilder mit der heutigen Weltsicht liegt.

Warum aber finden auch neugnostische Glaubensformen wie die Theosophie und mit ihr die unzähligen Schattierungen des „New Age“, die sich ja ebenfalls auf ein längst widerlegtes und überwunden geglaubtes dualistisches Weltbild stützen, leichter Anhänger als die mit unserer heutigen Weltsicht doch eher verträgliche liberale Theologie, und zwar nicht zuletzt gerade auch in den Reihen unserer kritischeren Zeitgenossen? Auch diese Glaubensformen beruhen ja letzten Endes auf einem zweitausendjährigen Erlösungsmythos, der Gnosis, dem ein archaisches dualistisches Weltbild zugrunde liegt, und zwar genau dasselbe Weltbild, in dem auch der urchristliche Erlösermythos und die christlichen Dogmen ausformuliert wurden! Ich meine, dass auch ihr Erfolg meine Ansicht stützt: Anders als im christlichen Glauben ist der gnostische Mythos in jenen Glaubensformen nämlich nie in einem Kanon „heiliger Schriften“ und verbindlicher Glaubenssätze abschließend und bis in Einzelheiten festgelegt worden, so dass er – zumindest in einigen seiner Ausprägungen – den Veränderungen des Weltbildes einigermaßen angepasst werden und so seine Aktualität bewahren konnte. Ein illustratives Beispiel dazu geben die bekannten Bücher „Das Tao der Physik“ und „Wendezeit“ des Physikers Fritjof Capra ab, die es vermochten, eine große Schar von naturwissenschaftlich und philosophisch Gebildeten, also von „typischen“ Kirchenfremden, in den Bann eines neugnostischen Selbsterlösungsmythos zu ziehen. Dies, weil es Capra offensichtlich gelungen ist, sowohl die Ergebnisse der heutigen Naturwissenschaften und die daraus ableitbaren philosophischen und weltanschaulichen Konsequenzen als auch fernöstliche Religionen (Taoismus) zu einer umfassenden, wenn auch im Grunde genommen immer noch klassisch gnostischen Philosophie oder besser gesagt: „Glaubensrichtung“ oder gar: „Weltreligion“ zu vereinen, die mit unserem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild durchaus kompatibel zu sein scheint.

Überdies wird am Beispiel der in ihrer Ausprägung zwar recht unterschiedlichen und auch widersprüchlichen Strömungen des „New Age“ auch deutlich, dass der heutige mündig gewordene Mensch besonders nach Glaubensformen sucht, in denen eigene religiöse Erfahrungen Platz haben. Man will sich nicht mehr mit einem Glauben aus „zweiter Hand“ begnügen, der durch irgendeine religiöse Autorität vermittelt wird. Der Glaube sollte also mit den eigenen Erfahrungen zumindest nicht im Widerspruch stehen, sondern auch diese ernst nehmen. Nicht ein Lehramt oder sonst eine theologische Autorität soll abschließend darüber bestimmen, was wahr ist und was nicht, sondern mündige Menschen wollen in ihrem Glauben auch ihre persönlichen Erfahrungen mit Gott wiederfinden.

Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Theologie und damit zu einer vermehrten Akzeptanz des christlichen Glaubens bei unseren aufgeklärten kritischen Zeitgenossen, also gerade bei jenen, die mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität stehen, ist demnach auch die nach wie vor mit großem Autoritätsanspruch behaftete christliche Tradition, die sich nicht nur in den meisten Theologenköpfen, sondern vor allem auch im Volksglauben beharrlich zu halten vermag. Mit diesem Autoritätsanspruch sehen sich nicht nur all die vielen, die einen zeitgemäßen Glauben suchen, konfrontiert, sondern auch die wenigen wirklich „liberalen“ Theologen. Mit der Folge, dass sie es kaum wagen, unkonventionelle theologische Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu tragen: Verklausuliert und mit vielen Wenn und Aber gespickt sind ihre Predigten (ich gebe es zu: oft auch die meinen), ein unterschwelliges schlechtes Gewissen ist ihr ständiger Begleiter. Wer lässt sich denn schon gerne nachsagen, er sei ein „Ungläubiger“?

Die Aufgabe der Theologie wurde und wird ja auch noch heute weitgehend so verstanden, dass sie die in den Schriften der christlichen Tradition enthaltene Wahrheit herauslösen und sie für unsere Zeit und Situation fruchtbar machen soll. Theologie ist also Darstellung und Auslegung der christlichen Lehre, wie sie in der Bibel und allenfalls noch im altkirchlichen Dogma festgelegt ist. Wichtige Fragen gerade auch im Hinblick auf die Auslegung in unsere Zeit hinein bleiben bei dieser Methode aber auf der Strecke, wenn die Bibel als „Gottes Wort“ in jedem Fall als alleinige Grundlage und Autorität zur Entscheidung theologischer Fragen das letzte Wort behält. Auch dem bei der theologischen Arbeit immer wieder bemühten „Heiligen Geist“ bleibt da bloß ein enger Spielraum: Auch er „darf“ nur innerhalb biblischer Grenzen „wirken“; wirklich „Neues schaffen“ ist so nicht angesagt. Mit anderen Worten: Die traditionelle, bloß auf die Bibel als alleinige Richtschnur ausgerichtete Theologie kann da gar nicht anders, als sich weiterhin im Kreise zu drehen und Altbekanntes in endlosen Varianten wiederzukäuen. Damit bleibt sie im großen Ganzen – mit wenigen löblichen Ausnahmen – hoffnungslos in bestenfalls in etwas zeitgemäßere Worte gekleideten traditionellen Glaubensaussagen stecken. Viele Glaubensfragen, die sich im Blick auf unsere heutige Welt stellen, bleiben dabei offen oder werden mit Aussagen beantwortet, die im Kontext des heutigen Weltbildes nicht haltbar sind, z.B. Fragen wie: Hat Gott in unserem Weltbild überhaupt noch Platz? Was ist mit einem „allmächtigen“ Gott gemeint? Was soll die Dreieinigkeit? oder: Was heißt „Jesus starb für unsere Sünden“?, und überhaupt: Wie steht es mit der „Göttlichkeit“ Jesu?

Die Theologie lässt somit grundsätzlich die Kreativität vermissen, die sonst in unserer von der Evolution bestimmten Welt so elementar am Werk ist. Für unseren Glauben soll offenbar nicht gelten, was allen anderen Vorgängen in unserer Welt zugrunde liegt. Glaubenserfahrungen, die heutige Menschen im Kontext des heutigen Weltbilds machen, sind noch immer grundsätzlich häresieverdächtig und bleiben unbeachtet, wie wenn sich Gott seit den Zeiten Jesu nicht mehr bemerkbar gemacht hätte. Was Wunder, dass der christliche Glaube in den Augen gerade der an Sinnfragen interessierten, einen Lebenssinn, einen vernünftigen Glauben suchenden, geistig wachen Zeitgenossen zu einem Fossil aus längst vergangener Zeit, zu einem Museumsstück verkommen ist.

Viele der theologischen Fragen, denen wir uns heute im Blick auf die Welt, in der wir leben, stellen müssten und die für den Glauben mündiger Menschen von größter Wichtigkeit sind, gelten also bedauerlicherweise für die traditionelle Theologie und auch im „Volksglauben“ durch den Hinweis auf den Autoritätsanspruch der Bibel als „Gottes Wort“ als ein für alle Mal geklärt. Und ganz besonders gilt das auch für die Grundlage eines jeden Glaubens, für unsere Vorstellung von Gott.

Aber:

• Dürfen wir denn behaupten, die einzig richtige Methode der Auslegung von Schrift und Tradition zu kennen?

• Können wir denn allen Ernstes davon ausgehen, dass wir schon vor unserer theologischen Arbeit genau „wissen“, wer oder was Gott ist, kommt er uns doch schon in der Bibel in unzähligen verschiedenen Bildern und Vorstellungen entgegen? Oder wäre nicht gerade vor allen anderen die Frage nach Gott im heutigen Kontext vordringlich neu zu stellen?

• Können wir denn weiterhin einfach voraussetzen, dass Gott eine Art von „dreifaltiger Person“ ist?

• Dürfen wir einfach davon ausgehen, dass Gott sich uns vollständig und abschließend in der Bibel und in „seinem Sohn“ offenbart hat und damit alle Gotteserlebnisse in den vergangenen zweitausend Jahren disqualifizieren? Oder bedarf gerade auch diese Behauptung dringend einer Überprüfung, nicht zuletzt auch im Blick auf die großen nichtchristlichen Religionen, denen wir ja heute kaum mehr einfach Gottlosigkeit oder „Heidentum“ vorwerfen können?

• Können wir als gegeben annehmen, dass Gott als der „ganz Andere“ im Kosmos und in der Natur nicht zu erkennen ist, also ausschließlich „außerhalb“ der Welt steht?

Die Liste stillschweigender Annahmen und Voraussetzungen in der Theologie ließe sich wohl noch verlängern. Ich möchte mich jedoch im Folgenden auf die auch für den christlichen Glauben fundamentale Frage nach Gott beschränken und mich auf die Suche nach einem in der heutigen Zeit sinnvollen und sich auf unser Leben auswirkendes Gottesbild machen. Hat doch schon Luther gesagt: „Worauf du nun, sage ich, dein Herz hängst und verlässt, das ist eigentlich dein Gott“, und in unserer Zeit hat der Psychologe Peter Schellenbaum5 festgestellt: „Das Wort Gott ist kein Sachwort, sondern ein Wirkwort.“ Beide meinen damit, dass ein Gottesbild und der daraus hervorgehende Gottesglaube nur dann für uns relevant ist, wenn er auch Auswirkungen auf unsere Weltsicht und insbesondere auch auf unsere Lebensgestaltung in dieser Welt zeitigt, z.B. also eine Ethik hervorbringt, die eine Antwort auf die Probleme unserer Zeit zu geben vermag. Und nicht zuletzt meint Schellenbaum mit seiner Feststellung im Anschluss an C. G. Jung auch, dass, weil ja „Gotteserkenntnis immer auch Selbsterkenntnis ist“, sich unsere Gottesbilder und unsere Persönlichkeit gegenseitig bedingen. Die meisten Gottesbilder aus vergangenen Zeiten, insbesondere auch einige biblische, die auch heute noch hartnäckig mit dem christlichen Glauben in Verbindung gebracht werden, können dies aber nicht mehr leisten, da ihnen der grundlegende Bezug zu unserer heutigen Welt fehlt.

Ein zeitgemäßeres Gottesbild tut also Not: „Wollen wir heute weiterhin verantwortlich von Gott reden, muss er etwas mit dieser unserer erfahrbaren Wirklichkeit zu tun haben. Die Wirklichkeit: Das ist in erster Linie die Welt und alles, was Welt in Raum und Zeit ausmacht, Makrokosmos und Mikrokosmos mit ihren Abgründen. Die Welt in ihrer Geschichte, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Welt mit Materie und Energie, mit Natur und Kultur, mit all ihren Wundern und Schrecken. Keine heile Welt jedenfalls, sondern die reale Welt in ihrer ganzen Fraglichkeit: mit all ihren konkreten Bedingungen und natürlichen Katastrophen, mit ihrem realen Elend und all dem Leid. Tiere und Menschen in ihrem Kampf ums Dasein: dem Entstehen und Vergehen, Fressen und Gefressenwerden“, schreibt Hans Küng.6 Biblische Gottesbilder sollen dabei durchaus in die Suche einbezogen werden, sind doch auch sie zu Bildern geronnene Gotteserfahrungen suchender Menschen aus früheren Zeiten. Falsch wäre es aber, aufgrund des traditionell geltend gemachten biblischen Autoritätsanspruchs ein biblisches, heutigen Menschen fremdes Gottesbild weiterhin zur christlichen Norm zu erklären. Im Blick auf die sich häufenden Kirchenaustritte hat es Xaver Pfister-Schölch so auf den Punkt gebracht: „Sie haben bloß realisiert, dass sie mit der Kirche und ihren Aktivitäten, seien sie nun konservativ oder progressiv eingefärbt, nichts mehr anfangen können. Sie ziehen bloß die Konsequenz aus ihrer Erfahrung, dass sie mit dem Glauben an einen persönlichen Gott, der sich in die Geschichte des Einzelnen und der Welt im Ganzen einmischt, nichts mehr anfangen können.“7

Die Konsequenzen aus diesen Feststellungen liegen eigentlich auf der Hand. Dies haben leider erst einige wenige US-amerikanische theologische Hochschulen erkannt, indem sie spezielle Lehrstühle für eine auch im Kontext des heutigen naturwissenschaftlichen Weltbilds relevante Theologie geschaffen haben. Dr. Ronald Cole-Turner umriss 1996 in seiner Antrittsvorlesung auf den „H. Parker Sharpe Chair of Theology and Ethics“ in Pittsburgh die vordringliche Aufgabe der heutigen Theologie wie folgt:

„Wir leben in einem Zeitalter, in dem sowohl unser Denken als auch unser Handeln maßgebend durch Wissenschaft und Technik bestimmt sind. Zweifellos sehen Kirchenfremde die Welt durch die Brille der Wissenschaft; vor allem junge Leute – diese typischen Vertreter der heutigen säkularen wissenschaftlichen Kultur – stehen verdutzt einer Kirche gegenüber, die nichts von Wissenschaft und Technik weiss, die ihre Welt nicht versteht und trotzdem noch meint, sie habe ihnen etwas zu sagen. Allein schon wegen ihres Predigtamts müsste die Kirche darum die Sprache und Denkmuster dieser neuen Kultur, in der wir leben, lernen. Aber unsere Aufgabe geht tiefer und ist weit schwieriger als einfach in einer neuen Sprache vom Glauben zu reden. Wir sind nicht bloß dazu aufgerufen, die Theologie zu kommunizieren, sondern sie grundlegend neu aufzubauen. Es darf uns nicht genügen, einfach die Theologie des ersten Jahrhunderts oder des fünften, des sechzehnten oder sogar des zwanzigsten zu nehmen, einige wenige Begriffe auszuwechseln, das Paket neu zu schnüren, einige wenige Illustrationen aus der neuesten Wissenschaft beizufügen, das Ganze per Internet zu verschicken und zu meinen, wir hätten so unserer Berufung Genüge getan. Die Theologien dieser vergangenen Jahrhunderte wurden ja in den Denkmustern ihrer Zeit erarbeitet und formuliert. Unsere Aufgabe ist es, heute das zu tun, was die Theologen früherer Jahrhunderte damals taten, nämlich die Kernstücke des Glaubens der Kirche Jesu Christi neu zu artikulieren. Unsere Aufgabe ist es, die Theologie von Grund auf zu erneuern, das Evangelium für unsere Zeit zu erläutern … Die Theologie darf die Natur nicht mehr länger ausblenden (und so tun), als ob Gott eine andere Schöpfung neben unserer natürlichen Welt hätte. Die Theologie darf die Wissenschaft nicht mehr länger ausblenden (und so tun), als ob Gott eine andere Welt hätte, von der die Wissenschaft nichts weiß, in der er sich offenbart und uns erlöst. Es gibt nur eine Welt, die Gott geschaffen hat, und das ist unsere physikalische, natürliche Welt … in der uns Gott begegnet und erlöst.“8

Im Herzen der Materie

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