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1. Hinführung

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Der christliche Glaube wird zunehmend zu einem „Auslaufmodell“, sowohl was seine gesellschaftliche Relevanz im „christlichen Abendland“ als auch seinen Stellenwert im Leben des Einzelnen betrifft: Den Kirchen laufen zusehends die Mitglieder davon, Wirtschaft und Politik haben sich schon längst von christlichen Grundwerten verabschiedet. Und dies obwohl doch auch heute noch eine Mehrzahl unserer Zeitgenossen in Kindheit und Jugend eine mehr oder weniger intensive christliche Sozialisation erlebt hat.

Sicher sind für diese Entwicklung verschiedene Faktoren verantwortlich.1 Meines Erachtens dürfte aber der wichtigste das Fundament des christlichen Glaubens selbst betreffen, nämlich den Glauben an Gott. Die bis heute tradierten und im Kirchenvolk verankerten Gottesbilder, also die vorwiegend anthropomorphen2 Vorstellungen von Gott als einem Deus ex Machina, einer Art von absolutem Weltenherrscher, welche die meisten von uns in unserer Kindheit mitbekommen und später kaum je ernsthaft in Frage gestellt haben, stammen aus längst vergangenen Zeiten und sind mit unserem heutigen Weltbild einfach nicht mehr vereinbar. Im christlichen Glauben haben sich die Vorstellungen von Gott in den 2000 Jahren seit Jesus kaum mehr verändert und deshalb nicht mit der Entwicklung unseres Weltbilds Schritt halten können, was meines Erachtens ein wesentlicher Grund für die heutige Irrelevanz Gottes und in der Folge auch für die allgemeine Entfremdung vom christlichen Glauben sein dürfte. Gott ist so in den Köpfen der meisten Zeitgenossen zu einem „Märchenbuch-Liebergott“ verkommen, der nichts mit der realen Welt und den Fragen ihrer Menschen zu tun haben kann und damit für ihr Leben bedeutungslos geworden ist. Wer fürchtet sich denn heute noch vor ewiger Verdammnis? Wer bangt noch um sein Seelenheil? Für wen ist denn noch die Frage Luthers „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ von Bedeutung?

Was uns also vor allem fehlt, ist ein zeitgemäßes, heutige Menschen ansprechendes Gottesbild. Da Gottesbilder schon immer zeit- und weltbildbedingt gewesen sind, wie sich schon am Alten Testament ohne weiteres aufzeigen lässt, ist die Suche nach einem mit unserer Weltsicht zu vereinbarenden Gottesbild auch im Rahmen des christlichen Glaubens durchaus legitim.

Ich meine darum: Gott muss für unsere Zeit neu erfahren und „definiert“ werden, wie dies ja auch schon früher, d.h. vor der Erklärung der Bibel zur einzigen Richtschnur für den Glauben und vor der Dogmatisierung von Glaubensinhalten immer wieder geschehen ist. Dieses neue, zeitgemäßere Gottesbild ist dann auch mit den Grundlagen unseres christlichen Glaubens zu konfrontieren, wozu natürlich auch biblische Texte zu berücksichtigen und gegebenenfalls im Lichte unseres Weltbildes neu zu interpretieren sind. Es wird sich dabei die Frage aufdrängen, ob einige der traditionellen christlichen Begriffe und Glaubensinhalte (Trinität, Heiliger Geist, Reich Gottes, Ewiges Leben usw.) allenfalls neu interpretiert, beibehalten werden können oder ob sie als heute nicht mehr verständlich und im Widerspruch zu unserem Weltbild stehend fallen zu lassen sind.

Ähnliches gilt sodann für die Interpretation Jesu: Vieles im traditionellen Verständnis Jesu als Christus, Erlöser, Gottessohn, Sühnopfer, „wahrer Gott“ in der Trinität etc. ist ja für einen heutigen Menschen kaum mehr nachvollziehbar und damit bedeutungslos geworden. Auch Jesus ist darum im Lichte unseres Weltbilds unter Berücksichtigung historischer Erkenntnisse und biblischer Aussagen neu zu „definieren“. Daraus dürfte auch eine Neubegründung und Erweiterung der traditionellen christlichen Ethik der Nächstenliebe erwachsen.

Um es hier gleich vorwegzunehmen: Ich als Physiker und Theologe gehe bei alledem davon aus, dass der christliche Glaube auch im Lichte der neueren Welterkenntnisse Wesentliches über das Verhältnis dieser Welt und ihrer Menschen zu Gott auszusagen vermag, sofern man nur gewisse dogmatische und exegetische Engführungen der Vergangenheit als im damaligen Zeitgeist begründete menschliche Konstrukte fallen lässt und endlich einsieht, dass die mythologischen Bilder, auf die sie sich stützen, nicht wortwörtlich für wahr genommen werden wollen.

Also: Ausgehend von grundsätzlichen Betrachtungen zum heutigen Weltverständnis und daraus folgenden allgemeinen Aussagen über Gott soll in dieser Schrift gezeigt werden, dass die traditionellen christlichen Aussagen über Gott, Christus, Geist, Mensch und Ethik – allerdings im Kontext unseres Weltbildes neu ausgelegt! – in ihren Grundanliegen auch heute noch sinnvoll und Grundlagen eines verantwortbaren Glaubens sein können. Allerdings sind sie eben neu zu interpretieren und in heute verständlichen Sprachbildern zu formulieren.

Natürlich stehen hinter diesem Unterfangen zwei Voraussetzungen, nämlich:

1. Dass Gott überhaupt „ist“3, und

2. Dass die ganze Wirklichkeit, die ganze für uns erkennbare Welt vom mikroskopisch Kleinen bis in äußerste kosmische Weiten ein Ganzes ist. Will sagen: Dass alles mit allem verbunden ist, weil es letztlich auf einem gemeinsamen Ursprung beruht. Insbesondere heißt das, dass z.B. überall dieselben physikalischen Grundgesetze und geistigen Prinzipien gelten und dass darum jegliche Form menschlicher Erkenntnis (naturwissenschaftliche, philosophische, theologische, psychologische und allenfalls auch offenbarte) dieselbe Wirklichkeit zum Gegenstand hat. Somit: Falls verschiedene Erkenntniswege anstatt zu komplementären zu widersprüchlichen Aussagen führen, muss die eine oder andere Aussage über die Wirklichkeit falsch sein, oder aber alle beide verfehlen die Wahrheit.

Übrigens: Dass ich den Begriff „Gott“ zunächst in seiner allgemeinsten Bedeutung verwende, möglichst unbelastet von traditionellen biblischen Vorstellungen und insbesondere von anthropomorphen Engführungen, dürfte sich von selbst verstehen. Und: Da „Gott“ im Deutschen nun mal ein männlicher Begriff ist, gebrauche ich durchwegs die männliche Form, wohl wissend, dass Gott weder männlich noch weiblich vorzustellen ist. Leserinnen mögen es mir nachsehen.

Und noch ein Letztes: Nicht nur die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern insbesondere auch die theologischen, auf die ich mich hier stütze, um daraus weiter gehende Schlussfolgerungen ziehen zu können, sind keineswegs neu. Die sehr zahlreichen Zitate und die Liste weiterführender Literatur, in der ich übrigens auch Autoren aufgeführt habe, mit deren Schlussfolgerungen bezüglich der Gottesfrage ich bloß teilweise oder auch gar nicht einverstanden bin, belegen dies. Damit sind aber auch meine eigenen Ausführungen zu den Themenkreisen „Gott“ und „christlicher Glaube“ im Grunde genommen alles andere als neu. Während aber naturwissenschaftliche Erkenntnisse in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stoßen und auch ohne weiteres rezipiert werden, haben die neueren theologischen Entwicklungen den Weg ins allgemeine Bewusstsein leider nicht gefunden und sind deshalb für den christlichen Glauben wirkungslos geblieben, weshalb er in aufgeklärten Kreisen nach wie vor als im Geist der Antike verblieben und damit als weltfremd und hoffnungslos „veraltet“ gilt. Vielleicht kann diese Schrift auch etwas dazu beitragen, wichtige theologische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in die Öffentlichkeit zu tragen und so zu zeigen, dass die Annahme eines Gottes, ein Gottesglaube also, keineswegs im Widerspruch zu unserem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild steht. Darum: Sollten meine Gedanken nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Ablehnung stoßen und so eine Diskussion auslösen – es könnte ihnen nichts Besseres passieren!

Für mich als Theologen und Physiker stellt diese Schrift natürlich auch so etwas wie eine theologische Standortbestimmung dar, eine selbstverständlich auch nur vorläufige Antwort auf die Frage, die wie ein roter Faden mein Leben durchzieht: Warum ist diese Welt? Hat sie einen Sinn, ein Ziel? Und: Was ist meine Aufgabe in meiner kurzen Lebensspanne, was ist der Sinn meines Lebens?

Im Herzen der Materie

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