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»Gott ist tot.« – Was können wir mit Nietzsches Feststellung heute anfangen?
ОглавлениеIch versuche, Notizen von zwei Seminarsitzungen und einem Kolloquium über den Begriff »Vitality« in eine argumentative Ordnung zu bringen, die sich in noch vagen Zügen anzubieten scheint. Dabei geht es nicht primär um eine historische Rekonstruktion der von Nietzsche intendierten Bedeutung – und ebensowenig um die philosophiegeschichtliche Auslegung eines auf Nietzsche bezogenen, 1951 zuerst veröffentlichten Essays von Martin Heidegger, aus dessen Perspektive wir den Satz »Gott ist tot.« erörtert haben. Interessiert bin ich an der (von Heideggers Text ermutigten) Intuition, dass es eine Bedeutung geben könnte, durch die Nietzsches Satz eine Gültigkeit in unserer Gegenwart bewahrt. In einer Gegenwart erstens, die es für Intellektuelle wieder akzeptabler macht als im späten neunzehnten und im zwanzigsten Jahrhundert, mit der Existenz eines Gottes zu rechnen; in meiner amerikanischen Gegenwart zweitens, wo (habe ich einmal gelesen) über neunzig Prozent der Mitbürger damit rechnen, dass es einen persönlichen Gott gibt, der sie liebt.
Nietzsche hat sich auf denselben Sachverhalt, den er im Satz von Gottes Tod anvisiert, wohl auch mit der Formulierung vom »Nihilismus« bezogen, der sich »wie eine Wüste ausgedehnt« habe und weiter ausdehne. Das Wort »Nihilismus« bezeichnet dabei eine Form der menschlichen Existenz, die nicht mit einer den Menschen übergeordneten, für sie »transzendentalen«, zum Beispiel von Göttern bewohnten Sphäre rechnet. Unter dieser Voraussetzung könnten wir, so sah es Heidegger, den sonst in unserer intellektuellen Tradition meist positiv gesehenen Prozess der Neuzeit, einschließlich der Aufklärung, dessen zentrale Dynamik die Dynamik der »Säkularisierung« war, als fortschreitende »Ausdehnung des Nihilismus« identifizieren.
Säkularisierung aber ist nichts anderes als die Umschreibung von Eigenschaften und Funktionen der Götter auf die Menschen: Anstelle der von Gott geoffenbarten Tafel-Gebote aus dem Alten Testament treten eine neue Moral und Gesetzbücher, deren Legitimität darin liegt, dass ihre Orientierungen von der Mehrheit der Betroffenen akzeptiert und getragen werden; im neuzeitlichen Begriff von »Geschichte« verstehen sich die Menschen als Agenten einer permanenten (nicht selten als zielgerichtet aufgefassten) Veränderung der Welt, welche ein von Gott oder von den Göttern verhängtes Schicksal ersetzen soll; ein den Normen und Gesetzen entsprechendes Leben soll durch Erfolg und Sicherheit im Diesseits belohnt werden, nicht mehr durch ein himmlisches Leben nach dem Tod. Dies sind nur einige Beispiele aus der Vielfalt von Figuren der Säkularisierung.
Nietzsche deutete die ihm auffällige Tendenz seiner Zeitgenossen, nach »Werten« zu suchen, als eine Reaktion auf den Prozess der Säkularisierung (auf die Ausdehnung der Wüste des Nihilismus) und auf sein Endergebnis. Denn mit der fortschreitenden Absorption der Gegenstände des Glaubens und mit ihrer Überschreibung auf die Menschen waren jene höheren Orientierungen verschwunden, an denen das Leben früher selbstverständlich ausgerichtet war.
Während des vergangenen halben Jahrhunderts haben sich – oft auf Veränderungen im Alltag reagierend – philosophische Positionen herausgebildet, in denen der Prozess der Säkularisierung und die Ausdehnung des Nihilismus zu einem logisch nicht mehr überbietbaren Höhepunkt und Ende gekommen sind. Das ist zum einen die vom Begriff »Linguistic Turn« markierte Überzeugung, dass mit den Horizonten der menschengemachten Sprache auch die Grenzen des für Menschen erreichbaren Wissens vorgegeben seien; das ist zum zweiten der »Konstruktivismus« als intellektuelle und auch praktische Anwendung der These, dass sich hinter viel (oder hinter allem) von dem, was wir für »Tatsachen« halten, »soziale Konstruktionen von Wirklichkeit« verbergen. Doch selbst in unserer (ganz wörtlich: vollkommen) säkularisierten Welt kann man sich dazu entschließen, an Gott zu glauben – und es ist sogar denkbar, dass solcher Glaube gerade durch die Vollendung der Säkularisierung wieder wahrscheinlicher und plausibler geworden ist (etwa weil nun keine existentielle Energie mehr in den Prozess der Säkularisierung zu investieren ist). Nur gehören solche Entscheidungen, an Gott zu glauben, in die Sphäre des Privaten, sie setzen die Existenz Gottes nicht mehr – wie es vor dem Beginn der Säkularisierung der Fall gewesen war – im Sinn derselben Wirklichkeit voraus, zu der man etwa die Natur oder die Politik oder den Sex gerechnet hatte. So gesehen bleibt Gott tot (und Nietzsches Feststellung zutreffend), selbst wenn viele unserer Zeitgenossen – privat – zu ihm zurückgekehrt sind.
Ein besonders eklatanter Fall dieses spannungsfreien Nebeneinanders zwischen privatem Glauben an Gott und seinem Verschwinden als transzendentaler Prämisse des Alltagslebens ist die amerikanische Gesellschaft. Dort gehört zu einer demographischen Minderheit, die man fast als »Splittergruppe« charakterisieren muss, wer privat nicht an Gott glaubt; doch auf der anderen Seite mussten die zwei Wörter under God vor wenigen Jahren aus dem Fahneneid (one Nation, under God) gestrichen werden, weil er zur Dimension des Öffentlichen gehört.
Bleibt die Frage, ob die konsequente Säkularisierung und Privatisierung des Gottesglaubens einen Verlust zur Folge hat, den wir spüren, ohne ihn im gegebenen Zusammenhang noch zu verstehen. Heidegger folgt hier Nietzsche, der statt der Suche nach Werten als erster Reaktion zum Tod Gottes auf die Bereitschaft und auf das Bedürfnis der Menschen hoffte, sich vom »Leben« durchdringen und stärken zu lassen. Impliziert ist dabei offenbar, dass uns mit der Privatisierung des Glaubens an Gott eine Quelle existentieller Energie verlorengegangen sei. Welcher Begriff von »Leben« kann aber nun an dieser Stelle alle (zunächst einmal ja durchaus berechtigten) Bedenken abblocken, dass man sich mit dem Setzen auf »Leben« in die Nähe faschistischer Ideologien begibt? Welcher Begriff von »Leben« kann darüber hinaus eine inspirierende Perspektive auf neue Formen der menschlichen Existenz eröffnen? Hier bringt Heidegger Nietzsches Konzept des »Willens zur Macht« ins Spiel. Mit ihm sei nicht die kleine persönliche Gier nach Macht gemeint, sondern eine vor-subjektive Lebendigkeit, ein vor-subjektiver »Wille«, dessen Haupttendenzen Steigerung und Erhaltung seiner selbst sein sollen. Dieser »Wille zur Macht« müsste als außerhalb der menschlichen Existenz liegende Kraft dann offenbar den Ort des ins Private abgedrängten transzendentalen Gottes einnehmen (und ist vielleicht ähnlich wie der »Wille« bei Schopenhauer vorzustellen, das heißt als eine Energie, welche jeglicher Veränderung zugrunde liegen soll).
So kommen wir bei der Frage an, ob es genug sei, sich mit »Gelassenheit«, wie Heidegger wohl betont hätte, dafür zu öffnen, von dem so verstandenen Willen zur Macht durchdrungen zu werden. Eine erste Antwort bezog sich auf Hannah Arendts Buch von der »Human Condition« und auf seine Kritik an einer (faschistischen, aber auch kommunistischen) Verherrlichung des »Lebens an sich«. »Leben an sich«, so Arendt, werde immer nur im Zusammenhang mit der Arbeit als Energiequelle verbraucht. Aktives Leben (und wir können ergänzen: aktives Leben in Abwesenheit eines transzendentalen Gottes) hingegen beginne mit dem individuellen Streben, solche Energie umzusetzen in individuelle Formen. Und Formen entstehen allein unter der Bereitschaft, andere als die gewählte Möglichkeit auszuschließen, sie nicht zu realisieren. Im intellektuellen Leben hieße das zum Beispiel, auf provozierende Thesen zu setzen statt auf die Bemühung, alles zu wissen; im Alltag der Berufe müsste die wahrzunehmende Konsistenz eines jeweiligen Verhaltensstils über die immer beliebige Anpassung an vorgegebene Traditionen und Institutionen dominieren. Als mittelbare Folge von »Gottes Tod« erschiene also an unserem Horizont eine Ästhetik der Existenz.