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Das größere Ganze

Nach dem Ort des Menschen im Kosmos fragen, heute

Eine komplexere, anspruchsvollere, aber zugleich weniger vermeidliche und hilflosere Frage kann man gar nicht stellen als die nach dem Stellenwert des »Menschen« im Universum. Sie ist auf der einen Seite und im konkreten Sinn eine unmögliche Frage, weil wir trotz aller naturwissenschaftlichen Fortschritte nicht genug über das Universum wissen, um auch bloß dessen Form (gibt es ein Außen zum Universum?) und grundlegende Bewegung (befindet es sich in einer Phase der Expansion oder der Kontraktion?) als Vorgaben zur einer Antwort voraussetzen zu können. Auf der anderen Seite existiert die – nicht in empirische Gewissheit zu überführende – Tradition, das Bewusstsein als jenes Merkmal anzusehen, durch das die Menschen von allen anderen Gattungen des Lebens unterschieden sein sollen (»ungewiss«, weil wir nie definitiv wissen werden, ob anderen Gattungen Funktionsäquivalente oder wenigstens strukturelle Ähnlichkeiten zu jenem Phänomen gegeben sind, das wir »Bewusstsein« nennen).

Es mag mit der Selbstbeobachtung als einer zentralen Struktur und Möglichkeit des Bewusstseins zu tun haben, dass man das Problem und die Frage nach seinem grundlegenden Ort nicht aufschieben oder gar abstellen kann, obwohl doch in aller Prägnanz deutlich ist, dass elementare Voraussetzungen zu ihrer Lösung fehlen. Am Horizont unserer institutionalisierten Wissensstrukturen oszillieren deshalb die Intuitionen und Reflexionen, welche jene Frage anstößt, in spezifischer Weise zwischen naturwissenschaftlichem und philosophischem Denkstil, wie rasch vorbeiziehende, aber uns nie ganz verlassende Wolken des Denkens. Wir sind zum Beispiel immer wieder fasziniert von Statistiken, welche die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der Existenz menschenähnlicher Lebensformen im Universum hochrechnen (mein Eindruck ist, dass sie am Ende immer – überraschend und enttäuschend – unschlüssig bleiben); zum naturwissenschaftlichen Denkstil gehören natürlich auch seit zwei Jahrhunderten all die vielfältigen Bemühungen, das menschliche Leben und in seinem Zentrum das Bewusstsein als ein Produkt der Evolution in den Blick zu bringen. Die von der Frage nach dem Ort des Bewusstseins im Universum ausgelösten philosophischen Spekulationen hingegen sind eher durch eine Nähe zu theologischen Denk-Traditionen gekennzeichnet: etwa im Nachdenken über eine dem Bewusstsein vielleicht zukommende besondere Bestimmung im Rahmen des Universums und seiner eigenen Zeit oder – begrifflich grober und psychisch erfahrungsgemäß beunruhigender – als Motivation der elementarsten philosophischen Frage, wie nämlich zu erklären sei, dass es etwas gibt – und nicht nichts.

Vor kurzem hat der prominente analytische Philosoph Thomas Nagel von der New York University ein Buch unter dem Titel »Mind and Cosmos« veröffentlicht, in dem er eine seit geraumer Zeit grassierende Skepsis gegenüber evolutionären Erklärungen zur Genese des menschlichen Bewusstseins entscheidend verstärkt (für philosophisch weniger interessierte Leser: Der heute »analytisch« genannte Gestus der Philosophie ist durch die Bemühung gekennzeichnet, seine Argumentationen unter Berücksichtigung formaler Kriterien aus der Logik und sogar aus der Mathematik zu entwickeln). Wir können voraussetzen, schreibt Nagel, dass man weiß, »was es ist, ein Mensch zu sein«: Noch vor aller Individualisierung setzt der Gebrauch des Personalpronomens »Ich« eine Grundstruktur und Grunderfahrung voraus, in der psychische wie physische Elemente des Selbst-Erlebens untrennbar verknüpft sind, und zwar unter einer Konfiguration, die wir alle erleben und kennen, ohne dass wir sie ohne weiteres beschreiben könnten. Dieses zugleich psychische und physische Grunderleben des »Ich«, fährt Nagel – für mich überzeugend – fort, ist für den auf organische Entwicklungen konzentrierten Diskurs der Evolution nicht erreichbar (und aufgrund seiner Zweidimensionalität ebensowenig für ausschließlich psychische Erklärungen). Anders gesagt: Jede ausschließlich auf der einen oder der anderen Ebene entwickelte »Erklärung« des menschlichen Bewusstseins muss als reduktionistisch kritisiert werden. Ein Diskurs oder eine Perspektive aber, welche beide Ebenen ungetrennt vereinte, ist in unseren begrifflichen Traditionen nicht vorgegeben (und steht deshalb – vorerst wenigstens – auch nicht zur Verfügung).

Deshalb hat sich eine Diskontinuität zwischen dem naturwissenschaftlichen Diskurs der Evolution und dem Phänomen unseres Bewusstseins eröffnet, in der eine seit Darwin weitervererbte Gewissheit über den Ort des Menschen im Kosmos verlorengeht – was erhebliche existentielle Folgen haben könnte. Dass der Diskurs von der Evolution des Menschen keinesfalls die einzige narrativ verfahrende Erklärung ist, welche derzeit in den Schatten destruktiver Skepsis gerät, steht auf einem anderen faszinierenden Blatt aus der Gegenwart der Wissensgeschichte. Um jedenfalls die Lücke zwischen der Evolutionsgeschichte des menschlichen Körpers und unserem Erleben des Mensch-Seins als Bewusstsein füllen zu können, bedürfte es eines Paradigmas, das zu liefern derzeit weder die Naturwissenschaften noch die Philosophie imstande sind. Natürlich bleibt es weiter möglich, auf religiöse, mythologische und im weitesten Sinn literarische Erklärungs- und Vermittlungsangebote zurückzugreifen, doch ich glaube, dass sie selbst bei Gläubigen unserer Gegenwart den verlorengegangenen Effekt nicht vollständig ersetzen würden.

Denn es scheint eine Art von existentiellem Bedürfnis nach intellektueller Sicherheit zu geben, das heute allein die Wissenschaft bedienen kann. Vor einem guten Vierteljahrhundert hatte Thomas Nagel die – grundlegend andere – Frage gestellt, ob wir je wissen werden, »was es ist, eine Fledermaus zu sein«. (oder irgendein anderes Tier), und nachgewiesen, dass solche Introspektion zwischen Gattungen undenkbar ist. Gewiss, wir haben ein Überangebot von literarischen Texten, deren Autoren sich in die Perspektive von Tieren »hineingedacht« haben – doch kaum jemand wird sie heute als im Ernst befriedigende Antworten auf jene Art von Frage akzeptieren.

Die vorerst jedenfalls offen bleibende Lücke zwischen organischer Evolution und Erleben des Bewusstseins aber versucht Nagel in für mich überraschender Weise zu füllen. Offenbar als abstrakte Vorgabe für neue wissenschaftliche Bemühungen der Zukunft postuliert er einen Diskurs, der physische wie organische Elemente und Entwicklungsstufen in einer »integrierten Konzeption« vereinigen und als zielgerichteten (»teleologischen«) Prozess beschreiben soll. Nur so, scheint Nagel zu argumentieren, halten wir uns die Möglichkeit offen, ausgehend von einem evolutionär fundierten Begriff des Bewusstseins eines Tages Werte annehmen und voraussetzen zu können, die sich nicht als »subjektiv« relativieren und schließlich einklammern lassen. In dieser philosophischen Bewegung sehe ich ein Symptom für die – selbstverständlich nachvollziehbare – Hoffnung, eine kosmische Ordnung als Prämisse unserer individuellen und kollektiven Existenz voraussetzen zu dürfen.

Nicht allein für mich scheint freilich eine Reaktion auf die identifizierte evolutionsgeschichtliche Lücke denkbar und der Ordnungsprämisse vorzuziehen – welche Thomas Nagel vielleicht etwas vorschnell ausblendet. Es ist die Möglichkeit, die Entstehung unseres Bewusstseins als kosmologisch kontingent anzusehen, das heißt als weder notwendig (wie die Evolutionisten unterstellten und auch Nagel wieder unterstellen möchte) noch unmöglich (so unwahrscheinlich sie auch in der Retrospektive aussehen mag). Wir wissen, dass das existiert, was wir »Bewusstsein« nennen – aber setzen anstelle eines Notwendigkeitsanspruchs voraus, dass es auch nicht hätte entstehen können und sich vielleicht in einer (nach evolutionären Kriterien) nahen Zukunft als kosmische Einbahnstraße oder sogar als kosmischer Irrweg erweisen und verschwinden wird.

Dieser Horizont-Gedanke von der Möglichkeit der Unmöglichkeit menschlicher Existenz (genau so ist es gemeint: als die Möglichkeit einer Unmöglichkeit) löst natürlich die für Nagel offenbar so wichtige Chance auf, Werte kosmologisch abzuleiten und zu fundieren. Doch derselbe Gedanke kann auf der anderen Seite durchaus ein lebensbejahendes Gefühl intensivieren, das Philosophen vor gut einem halben Jahrhundert »Existenzfreude« nannten. Diese Existenzfreude lässt sich dann noch einmal steigern durch den – bereits erwähnten – weiteren Horizont-Gedanken, dass das Universum, so wie es existiert, auch nicht existieren könnte. Beide Schritte, sowohl die Perspektive auf die Emergenz unseres Bewusstseins aus Kontingenz wie der Gedanke an die Möglichkeit einer Nicht-Existenz des Kosmos, schließen das Sein eines Gottes zwar nicht aus, doch sie haben es andererseits nicht nötig, dieses Sein als Gewissheit anzunehmen. Auch darin, in der Möglichkeit, unsere menschliche Existenz ohne Gott zu denken, liegt für mich Potential ihrer Affirmation. Doch an dieser Stelle fällt ein fast bekenntnishafter Tau über meine Argumentation – und es wird Zeit aufzuhören.

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