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Schicksal – gibt es das noch?

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»Schicksal« gehört nicht zu den intellektuell ernstgenommenen Begriffen unserer Zeit, und im Prinzip ist das seit dem achtzehnten Jahrhundert schon immer so gewesen. Denn die verschiedenen Positionen und Variationen der Aufklärung laufen ja in dem Selbstanspruch zusammen, dass Menschen individuell wie kollektiv die Gestalt und die Zukunft ihres Lebens in die eigene Verantwortung nehmen – und wenn man diesen Schritt mit den Worten »sein Schicksal in die Hand nehmen« beschreibt, wird auch sichtbar, wie eindeutig das Wort »Schicksal« immer mit »Fremdbestimmtheit«, meist sogar mit Fremdbestimmtheit und negativen Folgen, assoziiert war. Auf Englisch ist es möglich, in diesem Sinn – noch klarer – zu sagen, dass »fate« das Gegenteil von »agency« ist, eben die Gegenposition zum Anspruch der Selbstbestimmung und Selbstbildung.

Natürlich waren auch die alleroptimistischsten Aufklärer nicht blauäugig genug, um davon zu träumen, dass Menschen je alle fremdbestimmten Beeinträchtigungen oder Unfälle von sich fernhalten könnten. Auf freiem Feld stehend von einem Blitz getroffen zu werden, das blieb auch nach dem achtzehnten Jahrhundert eine realistische Befürchtung. Aber vielleicht ist es ja auf der anderen Seite nicht nur eine ironisch-intellektuelle Schreckreaktion, wenn man sich daran erinnert, dass jener Blitz, der in Friedrich Hölderlins Gedicht »Wie wenn am Feirtage« einen Dichter auf dem Feld trifft, für etwas Positives steht, nämlich für die Kraft der Inspiration (auch wenn sie unser Leben versengt) – und dass Benjamin Franklin, ein Aufklärer, den Blitzableiter erfand.

So extrem ist der – den Begriff des »Schicksals« auf permanente Distanz setzende – aufklärerische Ehrgeiz der Selbstbestimmung inzwischen geworden, dass es den meisten von uns Zeitgenossen des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts recht ist, selbst die individuelle und kollektive Verantwortung für Katastrophen oder apokalyptische Menschheitsbedrohungen zu übernehmen, um sie nur nicht als Folgen eines Versagens der Technik oder als Auswirkung eines Naturereignisses (etwa eines Vulkanausbruchs) sehen zu müssen. Deshalb sucht die Ursachenaufklärung bei Flugzeugabstürzen stets und fast obsessiv nach Anzeichen für »menschliches Versagen«, so wie es uns politisch wichtig ist, »global warming« als einen Prozess in den Blick zu bringen, der von Menschen ausgelöst wurde und von Menschen hätte neutralisiert werden können – wenn wir ihn nur als Gefahr rechtzeitig ernst genommen hätten. Keinen Gedanken – nicht einmal den konkreten Gedanken an das zugleich evolutionäre und historische Ende der Menschheitsgattung – halten wir für unerträglicher als den Gedanken an das Schicksal im Sinn unvermeidbarer und unumkehrbarer Fremdbestimmtheit.

Vielleicht ist ja die nun schon seit einigen Jahrzehnten anhaltende Beliebtheit von »Kontingenz« als existentieller und historischer Modalität Symptom für eine vorbewusste Konzession in dieser Hinsicht. »Kontingent« heißen Phänomene, die wir weder als »unmöglich« ausschließen noch als »notwendig« außermenschlichen Prinzipien und Entwicklungen zuschreiben wollen. Was wir »kontingent« nennen, das kann nicht dem aufklärerisch-narzisstischen Vorzeichen des Selbstbestimmten unterstellt, muss aber auch nicht als fremdbestimmt interpretiert werden. Niemand ist für das Kontingente verantwortlich.

Doch trotz all dieser Diskurse und zur Institution gewordenen Vorurteile – es klingt nun seit einiger Zeit schon nicht mehr ganz so verheißungsvoll wie einst, wenn einer, von »Kontingenz« ausgehend, gleich zu sprechen kommt auf Mechanismen der »Kontingenz-Bewältigung«, durch die das zunächst weder Fremdnoch Selbstbestimmte am Ende der Selbstbestimmung unterworfen werden soll. Durch Versicherungen zum Beispiel (und in noch komplexerer Weise durch Rückversicherungen) wollten und wollen wir immer wieder – historisch gesehen: nicht zufällig gerade seit dem Zeitalter der Aufklärung – »in die menschliche Hand nehmen«, was ihr zunächst entkommen zu sein schien. Doch während Versicherungen als Kontingenzbewältigungs-Maschinen heute größere Gewinne abwerfen mögen als je zuvor, scheint die intellektuelle Aura des Kontingenz-Begriffs verblasst – so dass man heute wieder erstaunlich oft ironische, witzig gemeinte und manchmal sogar ganz ernsthafte Anspielungen auf die Dimension des Schicksals hört. Diese beginnende Verschiebung in unseren Reaktionen auf Fremdbestimmtsein nimmt selbst dem meist schwerfälligen Pathos etwas von seiner Peinlichkeit, mit dem Martin Heidegger durch sein gesamtes philosophisches Werk hindurch den Begriff des Schicksals in verschiedenen Zusammenhängen verwendet hat: früh schon, in dem 1927 veröffentlichten Hauptwerk »Sein und Zeit«, wo er vom Tod als Schicksal der individuellen Existenz schreibt, dem wir uns »entschlossen« und »offenen Auges« aussetzen sollen; später dann und mit wachsender (aber nie definitiver) Klarheit in der Charakterisierung von »Wahrheitsereignissen« als Momenten der »Selbstentbergung des Seins« – wo sich Dinge dem Dasein perspektivenlos, in ihrer Absolutheit also, zeigen sollen, um als Schicksal das Dasein zu überwältigen und in eine existentielle Richtung zu »schicken«. (die implizite Unterstellung eines wortgeschichtlichen Zusammenhangs zwischen »Schicksal« und »schicken« ist übrigens – wie Spekulationen dieser Art meistens bei Heidegger – einfach falsch). Doch wie der »Blitz« in Hölderlins Gedicht und wie eben auch Heideggers »Selbstentbergung des Seins« haben literarische und philosophische Darstellungen, die das Schicksal in einem und dann immer überwältigenden Moment kondensieren, ihre eigene – ästhetische – Aura und Verführung, die es uns ermöglicht, das aller Selbstbestimmung entgegenstehende Überwältigtwerden in eigene heroische Größe umzumünzen und so zu genießen.

Eine andere bildliche und begriffliche Darstellungstradition hingegen wirkt (auf mich zumindest) vergleichsweise gnadenlos und sowohl philosophisch als auch existentiell produktiver. Die stoischen Philosophen der späteren Antike haben Schicksal als series causarum (als Reihe oder als Verknüpfung von Gründen) beschrieben, und zum allegorischen Bild der griechischen Moiren oder der römischen Parzen als Schicksalsgöttinnen (die ursprünglich Geburtsgöttinnen waren) gehören eine Spindel, aus der das Garn des Lebens läuft, und das in dieses Garn eingewebte Schicksalsmuster. Anders als der Blitz oder die Epiphanie des Seins, die uns Menschen zu im doppelten Sinn des Worts »reinen« Opfern machen, so dass wir uns keine Verantwortung zuschreiben müssen und deshalb von Schuld ganz frei sind, gehören zum Schicksal als »Serie von Gründen« oder als »Lebensgarn« durchaus Momente, Entscheidungen und Akte, die wir als unsere eigenen sehen können und müssen, für die wir selbst verantwortlich sind. Sie kreuzen sich, sie sind »verwoben« mit äußerlichen, fremdbestimmten Momenten und fremdbestimmenden Ereignissen, welche die negativen Folgen und die Schuld selbstbestimmter Akte oft so intensivieren, dass sie irreversibel werden: unumkehrbares Schicksal und am Ende nicht mehr aufzuhebende Schuld, die eigene Verantwortung wächst ins Monströse.

Wenn wir uns erst einmal in solchen series causarum verfangen haben, gefällt es uns oft – denn es wirkt wie eine erleichternde Übertreibung –, über sie als eben unumkehrbares (und ohnehin: unverdientes) Schicksal zu klagen – weil uns eine solche Selbstsicht von Verantwortung oder Schuld zu erlösen verspricht. Bei allen Forderungen nach Selbstbestimmung ist es aber auch klar, dass wir Selbstbestimmung ohne weiteres drangeben, wenn uns eine Umkehr ins Gegenteil Entlastung verschafft. Das sind die Augenblicke, in denen wir entdecken, dass die Moiren und die Parzen heimlich schon das Garn um unseren Hals geschlungen und begonnen haben, es enger zu ziehen, wie bei einer von Michael Corleone ausgedachten Mafia-Exekution.

Für meine Kontamination des antiken Mythos mit dem Hollywood-Mythos bitte ich den gebildeten Leser um Entschuldigung. Nicht zu weit vom Berliner Pergamon-Altar hat sie, die Kontamination, mir geholfen, meinen bleiernen Tag zu verweben mit dem Schmerz eines pazifischen Morgens.

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