Читать книгу Die große Illusion - Hans von Trotha - Страница 10
Nation und Nationalismus
ОглавлениеLa grande illusion. Die große Illusion. So hat der französische Regisseur Jean Renoir einen legendären Antikriegsfilm genannt, der, 1937 – also kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – gedreht, eine Geschichte aus einer Epoche erzählt, die offensichtlich damals schon als längst untergegangen wahrgenommen wurde: die Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Protagonistinnen und Protagonisten geben sich der Illusion hin, dass bald Frieden sei, vielleicht ja sogar dauerhaft.
Die große Illusion. So hat der bereits zitierte Historiker Eckart Conze eine Interpretation des Friedens von Versailles genannt, das Ende jenes Ersten Weltkriegs, der den Rahmen für die Handlung von Jean Renoirs Film liefert und der auch das Ende des deutschen Kaiserreichs bedeutete. Conzes Buch trägt den Untertitel Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt. Es erschien 100 Jahre nach der für das 20. Jahrhundert so folgenreichen Proklamation eines Friedens im Spiegelsaal von Versailles, der Deutschland betreffende unter den sogenannten Pariser Vorortfrieden, die den Abschluss einer großen internationalen Konferenz in Paris markierten. Deren Protagonisten, und die wenigen Protagonistinnen (tatsächlich hatte die internationale Frauenwahlrechtsbewegung Delegierte nach Paris geschickt, um ihr Anliegen voranzubringen), gaben sich der Illusion hin, es sei möglich, aus widerstreitenden nationalen Interessen eine stabile internationale Ordnung zu schaffen.
Die Verkündung der Friedensbedingungen für das vernichtend geschlagene Deutschland ausgerechnet im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles bezog sich in einem Gestus triumphaler Revanche auf die Deklaration eines deutschen Nationalstaates an eben diesem Ort am 18. Januar 1871. Ein berühmtes Gemälde, das der Historienmaler Anton von Werner für den größten Saal im Berliner Schloss, den legendären Weißen Saal, auftragsgemäß anfertigte, hat die Szene in idealisierter Form festgehalten. Es ist zur Ikone des Ursprungs eines deutschen Nationalstaats geworden, der auf Betreiben und unter Führung Preußens entstand. Die Protagonisten gaben sich der Illusion hin, eine geeinte Nation könnte den Deutschen mehr Reichtum, mehr Einfluss und Macht, mehr Wohlstand, irgendwann – damit hatten sie es nicht ganz so eilig – vielleicht auch Frieden und ein gutes Leben unter den Bedingungen einer Moderne garantieren, deren umwälzende Veränderungen gerade spürbar zu werden begannen. Das Deutsche Reich, dessen Gründung Anton von Werners monumentales (4,34 mal 7,32 Meter) Gemälde im Berliner Schloss zelebrierte, sollte es nicht lang geben. Aus einem Krieg, dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, war es hervorgegangen, in einem Krieg ging es auch zugrunde: 1918, am Ende jenes Kriegs, in dem Jean Renoirs La grande illusion spielt, war schon wieder Schluss mit dem Versuch, an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation anzuknüpfen. Während Jean Renoir seinen Film schrieb und drehte, tobte innerhalb der deutschen Grenzen aufs Allerschlimmste gerade der sogenannte dritte Versuch.
Die erste und vordringlichste Botschaft der Fassade, um die es hier geht, ist die Aufforderung zu einem Blick in die Vergangenheit des Orts, an dem sie wiedererrichtet wurde, und des Gebäudes, zu dem sie früher gehörte. Es war das Residenzschloss der Könige von Preußen, nach der Einigung Deutschlands zum Nationalstaat 1871 der deutschen Kaiser.
Auch der Einigung zu einem deutschen Nationalstaat hat der Historiker Eckart Conze ein Buch gewidmet. Es erschien im Herbst 2020 mit Blick auf die 150. Wiederkehr der Reichsgründung im Januar 2021. Conze gab ihm den Titel Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe. Es schildert den Vorgang der Einigung Deutschlands und verfolgt die Debatten, die diese Einigung im Lauf der folgenden eineinhalb Jahrhunderte auslöste, geprägt von den und manchmal auch prägend für die politischen und gesellschaftlichen Fragen, die die Zeit jeweils bewegten. Dabei wird deutlich, dass diese Einigung, also die Einigung zum deutschen Kaiserreich in der Form, in der es nach 1871 real existierte, als »Kriegsgeburt«, als kleindeutsche Lösung (also ohne Österreich), als Revolution von oben, unter der Dominanz Preußens, gegen den Willen vieler Beteiligter (vor allem der süddeutschen Staaten), unter Ausschluss jedweder parlamentarischen Beteiligung, schließlich als autoritärer Zentralstaat alles andere als »alternativlos« war. Der Begriff, den Bundeskanzlerin Angela Merkel im Zusammenhang mit der Euro-Rettungs-Krise zur seither viel zitierten Chiffre dafür machte, dass es bisweilen unnötig sei, politisches Handeln logisch zu erklären und nachvollziehbar zu begründen (was bei der Namensfindung für eine rechte Fundamentalopposition, die Alternative für Deutschland, eine Rolle gespielt haben dürfte), fällt nicht nur bei Eckart Conze, sondern auch in anderen Darstellungen der Ereignisse von 1871, etwa in Christoph Jahrs ebenfalls im Herbst 2020 erschienenen Buch Blut und Eisen, dessen Untertitel die Rolle Preußens für die Reichseinigung von 1871 so fasst: Wie Preußen Deutschland erzwang. So anachronistisch die Anwendung des Begriffs alternativlos in seiner politischen Bedeutung von 2010 auf die komplexen politischen Verhältnisse im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist, so kommt sie doch nicht von ungefähr: Hat doch eine nationalistische Geschichtsschreibung viel darangesetzt, das Gegenteil zu behaupten, also darzulegen, dass die Einigung Deutschlands unter der strammen Führung Preußens immer das Ziel der Geschichte gewesen sei – mithin also eben doch alternativlos.