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Kontrafaktische Architektur

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Da steht es, gewaltig, wirkt weniger wie Auferstanden aus Ruinen, also von unten aus dem geschichtsträchtigen Berliner Boden gewachsen, als wie gelandet, ein riesiges Raumschiff – zurück aus der Vergangenheit in die Zukunft. Es mutet fehl an an diesem Schlossplatz, der sein Schloss nicht mehr gewohnt ist. Und es teilt uns zunächst einmal mit, dass sich Zukunft auch anfühlen kann wie Vergangenheit. Gemeint ist es womöglich umgekehrt: dass nur in der Vergangenheit die Zukunft liegt? AKW Mitte, entfährt es einem Passanten, der es offenbar zum ersten Mal fertiggestellt vor sich sieht. Das ist vor allem despektierlich, aber es ist auch der spontane Ausdruck eines Befremdens, eines Erschreckens über die Massivität, eines Eingeschüchtertseins durch die Macht der abweisenden Fassade, ein Gefühl der Fremdheit, das nach spontaner Distanzierung verlangt.

Darauf immerhin wird man sich einigen können: Ein Zeichen des Aufbruchs ist diese Fassade nicht. Die erste Botschaft, die von ihr und damit von der Entscheidung ausgeht, sie in dieser Form zu errichten, ist die, dass wir unsere Gegenwart – und damit unsere Zukunft – architektonisch und städtebaulich nur mit Hilfe von Reminiszenzen an eine apodiktisch ernst genommene Vergangenheit gestaltet bekommen. Das wäre, würde es stimmen, ausgesprochen schmerzlich und sehr traurig. Dass es nicht ganz stimmt, zeigen spektakuläre Bauprojekte in anderen Städten, sei es die Tate Modern in London oder das Kulturzentrum der Stavros-Niarchos-Stiftung in Athen: moderne Treffpunkte von Kultur, Künsten, Menschen allen Alters, zeitgemäße Realisierungen der alten Idee der Agora, Orte der Gegenwart im Sinne des Aufbruchs – all das, was man sich an dem Ort, von dem hier die Rede ist, ebenfalls wünscht.

Hätte es nicht werden können, was das Centre Pompidou für Paris wurde (das zunächst auch äußerst umstritten war)? Warum ist die deutsche Antwort auf die Herausforderung einer Großkulturbaustelle ein »zum Humboldt Forum wiederaufgebautes Schloss« – zu dieser diplomatisch eleganten, wenn auch rhetorisch ins Leere laufenden Formulierung hat sich die entsprechende Wikipedia-Seite durchgerungen. Es tut ein bisschen weh, wenn man nachliest, wie Horst Bredekamp, einer der Gründungs-Intendanten des Humboldt Forums, rekapituliert, dass auf der Suche nach einer Nutzung für dieses riesige Gebäude hinter der historisierenden Fassade nach der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Humboldt Universität als dritter Akteur Berlin hinzukam, »das mit seiner Stadtbibliothek ebenfalls Einzug in das Schloss halten sollte, um ein lebendiges Klima zu erzeugen, für welches das Pariser Centre Pompidou eine Art Vorbild war«.

Nun ist dem Gebäude in einem unauflösbaren Paradox die Aufgabe zugeteilt, den Wunsch, moderne Agora, Treffpunkt für alle, zukunftsweisende Stadtmitte zu sein, im Inneren zu erfüllen, während die das Haus nach außen repräsentierende Fassade einen ganz anderen Geist atmet und sich als Wiedergängerin einer autoritär-repressiven Staatsarchitektur (miss)verstehen lässt. Denn so sieht sie nun mal aus. Und die Erbauer sind ja gerade besonders stolz auf die detailgenaue Rekonstruktion. Das ist handwerklich fraglos eine große Leistung, bringt mit Blick auf die ausgesandten Botschaften der Fassade aber ebenso fraglos Probleme mit sich.

Die Fassadenrekonstruktion bedeutet zuallererst einen Blick zurück, und zwar relativ weit zurück, nämlich hinter beziehungsweise (historisch gesehen) vor all das, was nach 1871 hier und im Land passiert ist. Diese Fassade ist Ausdruck des Wunschs nach einem architektonischen, bei der Dimension des Gebäudes auch städtebaulichen reset, nach einer Wiederherstellung. Oder, wie es Wolfgang Thierse, ehemals Präsident des Deutschen Bundestages, Mitglied der Jury des architektonischen Wettbewerbs zum Berliner Schloss und glühender Befürworter der Fassadenrekonstruktion, im Jahr 2020 ausdrückte:

»Deswegen ärgere ich mich, dass Berlin nicht erlaubt sein soll, was in vielen deutschen Städten erlaubt gewesen ist, zu deren Glück. Wie sähen Münster, Hildesheim, München und viele andere Städte aus ohne Wiederaufbau oder Nachbau historischer Gebäude und Straßenverläufe und stadtbildprägende Ensembles! Deswegen ärgert mich der Denkmalpflege-Dogmatismus: Was einmal verfallen, zerstört, verschwunden ist, aus welchen Gründen auch immer, das dürfe nicht wiederkehren. Das wäre dann Fake, wäre Disney-Land. (…) Deswegen ärgere ich mich über den mangelnden Sinn für Geschichte, für geschichtsgeprägte Lebens- und Stadträume bei nicht wenigen Architekten. Als sei Zeitgenossenschaft von Architektur nur gegen oder ohne Geschichte zu haben. Und deswegen ärgere ich mich über die ideologische Befrachtung des Berliner Schlosses zum Symbol schlechthin des preußisch-deutschen Militarismus und Imperialismus, zum Symbol eines vergangenen und hoffentlich endgültig Überwundenen. Dessen teilweiser Wiederaufbau etwas durch und durch Reaktionäres sei, Ausdruck einer falschen, gefährlichen Sehnsucht nach dem Gestern.«

Aber genau diese Botschaft sendet der Bau eben doch aus, insbesondere dann, wenn Menschen sich ihm nähern, die eine andere Einstellung zu bestimmten Ereignissen der deutschen Vergangenheit und eine andere Vorstellung von Stadtplanung im Geist einer demokratischen Gegenwart und einer dynamischen Zukunft haben. Mit seiner Geschichte muss man eine solche Rekonstruktion nicht erst ideologisch befrachten, sie befrachtet sich selbst damit, indem sie sie repräsentiert. Ist es nicht eher so, dass gerade die Kritikerinnen und Kritiker einer solchen Rekonstruktion historisch denken, weil sie akzeptieren, dass die Geschichte an dem Ort, um den es geht, Spuren hinterlassen hat, und außerdem davor warnen, dass eine historische Fassade jene Signale aussendet, die historische Architektur nun einmal aussendet, und nicht unbedingt diejenigen, die man womöglich auf sie projizieren mag? Und die Signale eines massiven kuppelüberwölbten Kaiserschlosses sind (im Gegensatz etwa zu Bürgerhäusern in Münster, Hildesheim oder München), daran lässt sich nicht viel ändern, die Signale eines massiven kuppelüberwölbten Kaiserschlosses. Und die Signale dieses Schlosses an diesem Ort sind die Signale dieses Schlosses an diesem Ort, der eben auch für vieles steht, für das es in einer demokratischen Republik des 21. Jahrhunderts eigentlich besser keinen Ort geben sollte.

Die Diskussion ist oft geführt worden, und sie wird immer weiter geführt werden. Und das ist gut so. Es geht bei diesen Fragen nicht um Ideologie oder Prinzipien, sondern immer wieder um konkrete, wenn man so will: individuelle Bauprojekte, ihre Geschichte, ihre Verortung, ihr Potenzial an Botschaften und Projektionen. Till Briegleb schrieb im Februar 2021 in der Süddeutschen Zeitung: »In Deutschland wird es nur schwer akzeptiert, dass der originalgetreue Aufbau verlorener Symbolbauten eine Lösung unter anderen sein kann.« (Süddeutsche Zeitung, 24.2.2021) Anlass für diesen Seufzer war die Diskussion um den Wiederaufbau der 1939 zerstörten Hamburger Bornplatzsynagoge im alten Stil. Und Briegleb hat recht: Natürlich muss der Wiederaufbau eine Option sein, gerade bei »Symbolbauten«. Das häufig angeführte Beispiel des Warschauer Schlosses als zentralem Symbol einer mehrfach ausgelöschten Nation ist eines der eindringlichsten für die Bedeutung einer solchen Entscheidung. Auch der Entschluss zum detailgetreuen Wiederaufbau der Nationalbibliothek von Sarajevo, die im Sommer 1992 von den serbischen Belagerern in Brand geschossen wurde, ein Angriff auf die muslimische und auf die kroatische Kultur der Stadt, ist einleuchtend. Anders liegt es aber womöglich im Fall der ehemaligen zentralen Residenz des umstrittenen Herrscherhauses eines untergegangenen, in seinem Erbe durchwachsenen Reichs. Nur ganz am Rande sei hier erwähnt, dass die deutsche Debatte um den Wiederaufbau der Hohenzollern-Residenz just in dem Moment Fahrt aufnahm, in dem ganz Europa zusah, wie drei Flugstunden von Berlin entfernt ebenjene Bibliothek in Sarajevo eingeäschert wurde.

Es gibt gute Gründe für Wiederaufbauten, auch für detailgetreue. Es gibt aber auch gute Gründe dagegen. Der Vorwurf »eines mangelnden Sinns für Geschichte« ist gerade den Gegnern gegenüber allerdings am wenigsten angebracht. Wenn überhaupt, erscheint es, umgekehrt, ahistorisch, ja geschichtsvergessen, zu argumentieren, dass ein Gebäude in dieser Kubatur mit dieser Fassade, die im Zusammenspiel einerseits schön und ein Zitat der lichten Architektur Italiens, andererseits aber eben auch massiv, einschüchternd und autoritär wirken sollte und nun auch wieder genau so wirkt, an diesen Ort gehört. Ergebnis der Geschichte ist ja gerade, dass es nicht mehr da ist. Vielleicht liegt hier der Denkfehler derer, die mit so viel Energie und schließlich mit Erfolg für diese Rekonstruktion gekämpft und geworben haben, keineswegs nur mit sachlichen, historischen und städtebaulichen Argumenten, sondern – genau wie die Gegenseite – immer auch von Emotionen getrieben, und sei es, wie Wolfgang Thierse freimütig bekennt, von Ärger über diejenigen, die denen, die auf diese Fassade ihre Begeisterung projizieren, nicht folgen können oder wollen. Vielleicht gehört etwas, was einmal an einen Ort gehört hat, aber lange Zeit fort war, aus welchen Gründen auch immer, dann schlicht nicht mehr dorthin. Vielleicht ist es dann sogar fehl am Platz, weil die Welt, die unmittelbare Umgebung ebenso wie die Zeitläufte, eben das, was wir Geschichte nennen, sich weitergedreht hat. Diese Erfahrung, dass die Welt sich weitergedreht hat – und weiter dreht –, will diese Architektur aufhalten, wenigstens für den Moment. Es gibt Fälle – wie das Warschauer Schloss, die Bibliothek von Sarajevo oder die Hamburger Synagoge – in der dieses geschichtsirritierende Moment sinnvoll, genau richtig, hilfreich sein mag. Aber es gibt auch Baustellen mit einem Projektionspotenzial, bei dem das nicht so unmittelbar einleuchtet. Es geht immer um die Frage, wofür ein »Symbolbau« Symbol ist.

Adrian von Buttlar bemerkt im Dezember 2020 in der Zeitschrift Arch+: »Weder die Glorie Preußens noch die Monarchie, das Kaiserreich oder gar die derzeit wieder einmal unglücklich agierende Dynastie der Hohenzollern würden durch die Rekonstruktion verherrlicht, hieß es. Was aber dann?«

Ein reset ist weder in der Architektur noch im Städtebau möglich. Der Versuch ist im Ergebnis nie ein Zurück auf null. Den gibt es nur im Kopf, nicht in der Stadt. Geschichte lässt sich nur als Wunschvorstellung und Gedankenspiel zurückdrehen, nicht in der Wirklichkeit. Man nennt das nicht umsonst kontrafaktische Geschichtsschreibung, also einen literarischen Entwurf von Geschichte, der sich nicht mit dem deckt, ja im Gegensatz zu dem steht, was ist. Architektur aber, sobald sie gebaut ist, ist. Es gibt keine kontrafaktische Architektur. Ein Gebäude steht da, wo es steht, und das in der Regel für eine ganze Weile. Architektur kommt immer, um zu bleiben, und meistens, um ihre Funktion zu erfüllen (im Beispiel: ein erfolgreiches, gesellschaftseinigendes und völkerverständigendes sogenanntes Humboldt Forum zu werden) und um ihre Botschaft zu senden (im Beispiel: zu zeigen, wie gern der Bau eigentlich etwas anderes wäre, nämlich ein Königs- oder Kaiserschloss, würde man ihn lassen, wie seine Initiatoren es gern gehabt hätten).

Die große Illusion

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