Читать книгу Das Gespenst der Karibik - Hans W. Schumacher - Страница 3

Zeitlupe

Оглавление

In diesem vielleicht etwas willkürlich herausgehobenen Moment steht die Fünf-Zentner-Bombe etwa 40 cm von der Oberkante eines Eßzimmerfensters entfernt im Raum. Sie ist dort nur ein Gegenstand unter vielen anderen. Sieht man davon ab, daß ihre Gegenwart neu ist und einzigartig in diesem Ensemble von Wänden, Dächern, Kaminen und Bäumen, so ist doch hier schon öfters ein fliegendes Objekt gesehen worden, vielleicht eine Schwalbe, ein von bösen Buben geworfener Stein oder ein Stück Papier, das in den Hof hinabsegelte, der heute im schönsten Sonnenschein daliegt. Es ist überhaupt ein wundervoller Tag des Jahres 1944, lauer Sommerwind bewegt duftige Tüllgardinen an Fenstern, die geöffnet scheinen, um Licht und Luft hineinzulassen.

Zwischen dem augenblicklichen Ort der Bombe vor dem Fenster im ersten Stock des typisch deutschen Mietshauses und der Stelle im Keller, wo sie detonieren wird, sind es etwa 30 m Luftlinie. Die Bombe liegt schräg, ist 1,50 m lang und 35 cm breit und hat das charakteristische Aussehen einer Bombe. Man braucht das niemand lang und breit zu erklären. Man sieht es auf den ersten Blick, man hat das sozusagen im Gefühl. Bei ihrem Anblick treten die Augen aus dem Kopf, der Mund wird trocken, das Gehirn beginnt zu brennen, die Glieder erfaßt ein unwiderstehliches Beben, man starrt darauf, möchte wegsehen und kann es doch nicht.

Ihre zylindrische Form mit den bekannten Leitflächen am hinteren Ende, die garantieren sollen, daß sie mit dem Zünder zuerst auftrifft, ist von jener nüchternen Zweckmäßigkeit, die die Objekte des technischen Zeitalters zu prägen pflegt. Einen gewissen Gegensatz dazu bildet die lustige Aufschrift in gelber Farbe Good day and good bye to you Nazibastards, yours sincerely Henry.

Henrys "Vogel", wie er seine Vickers-Wellington nennt, hat sich seit dem Abwurf ungefähr zweihundert Meter weiter bewegt und noch weitere "Eier" fallen lassen, die wie Tropfen an einer unsichtbaren Schnur über der Stadt pendeln, von der auch aus zweitausend Meter Höhe noch erkennbar ist, daß ihre Lage am Strom wonderful ist. Henry denkt, nach dem Krieg werde ich da unten mal eine Dampfertour machen. Tante Evelyn hat mir so viel von den romantischen Städtchen und Burgen vorgeschwärmt. Aber erst einmal muß ich hier heil rauskommen, und er betrachtet mißtrauisch die weißen Schrapnellwölkchen der Luftabwehr, die aber zum Glück die Höhe seines Geschwaders nicht erreichen.

Die Bombe glänzt im Sonnenlicht, ihr Schatten fällt auf die ockergelb verputzte Wand des Hauses. In der Verkürzung sieht ihr Schatten aus wie eine überdimensionale Runkelrübe. Nicht weit darunter, nahe dem Speisezimmerfenster steht ein frischgedeckter Tisch, dessen Mittelpunkt von einer buntbemalten Kaffekanne eingenommen wird. Die Kanne hütet eine Herde wertvollen, alten Geschirrs, das zur Feier des Geburtstags der Tochter des Hauses - sweet seventeen, hübsch und intelligent - aus dem Glasschrank genommen wurde, wo es mit anderen hundertjährigen Sachen in einer Art Dornröschenschlaf dahindämmerte, neben Miniaturen der Großeltern in Silberrähmchen, Korallenketten, Rubingläsern, Elfenbeinschnitzereien, silbernen Zuckerdosen und anderem Zeugs, das sich im Laufe der Familiengeschichte angesammelt hat: einer vergilbten Lutherbibel, einem vergoldeten Opernglas, Urgroßvaters Pfeife mit Troddeln, Großmutter Elisabeths Lorgnon (zusammenlegbar), einer eingelegten Holzschachtel mit den Milchzähnen von Vera, die heute Geburtstag hat und ihres zwei Jahre jüngeren Bruders Rüdiger. Niedliche Sentimentalitäten. Frau Messel hat unter Hinopferung großer Mengen von Lebensmittelmarken sowie der Bestechung des Bäckers mittels einer Flasche Sliwowitz, die ihr Mann aus dem Jugoslawienfeldzug mitgebracht hatte, zwei Torten herstellen lassen, zu deren Verzehr man aber nicht gekommen ist. Sie stehen noch köstlich unberührt mit der Jahreszahl siebzehn in falscher Sahne geschmückt auf dem glänzenden Damasttischtuch, denn die Sirenen haben die Festgäste in den Schutzkeller gescheucht.

Auf das Geburtstagskind wartet der mit Blümchen dekorierte Platz, neben dem als Geschenk Goethes Gedichte liegen, die Vera nicht nur las, weil sie gerade in der Schule dran waren. Kürzlich hatte sie ein Faible für klassische Literatur entdeckt und Goethes "Willkommen und Abschied" ging ihr unter die Haut, hatte sie doch gerade ihr erstes heimliches Rendezvous hinter sich. Von ihrem Platz aus sieht man zu dem weit geöffneten Fenster hinaus, vor dem befremdlich die blaugraue Bombe mit der gelben Schrift steht.

Der Tisch von deutscher Wertarbeit, ist eigentlich viel zu wuchtig für normale Ansprüche, man kann schon sagen, daß er nie richtig auf die Probe gestellt worden ist. Mit seinen krummen Beinen steht er da wie ein lebendiges Wesen, einladend und vertrauenerweckend. Er scheint zu sagen, komme was da wolle, ich nehme es auf mich. Und es drängt sich ja wirklich genügend Schönes und Nahrhaftes auf ihm herum. Solide Vorkriegsware, als das Handwerk noch zu stolz war, Pfusch herzustellen. Überhaupt ist nichts im Zimmer, was der technischen Nüchternheit der Bombe irgendwie gleichkäme. Alles ist irgendwie altmodisch, verschnörkelt, gemütlich, aufgeputzt. So hat es Mutter Sabine gern. Spitzenkanten hier und dort, geblümte Kissenbezüge auf dem Biedermeiersofa, Schondeckchen, wo Fetthaare die Sesselkanten berühren könnten, Perserteppiche, deren intrikates Muster die Augen verwirrt, Brücken, die die spärlichen Parkettlücken überdecken, eine dunkle Anrichte im Jugendstil mit Kristallvasen und -schüsseln bekrönt, darüber ein Ahnenbild: Ururgroßvater Friedrich Wilhelm Messel in der Uniform der Feldjäger, dunkelhaarig und mit freundlich träumerischem Blick in eine imaginäre Ferne schauend. Die gemütvoll langweilige deutsche Mittelgebirgslandschaft hinter ihm liegt im rötlichen Abendlicht. Ein dicker Kachelofen nimmt die Zimmerecke ein. Er wird von der Küche her beheizt. Alles blitzt, obwohl die Kriegsputzmittel so miserabel sind. Alle Dinge in der Wohnung stehen da mit einer friedvollen Beharrlichkeit und Bestimmtheit, als gehörten sie gerade dort und nirgendwo anders hin.

Eine hundertstel Sekunde später hat sich bis auf die Zerstörung von Mutti Messels schöner Kaffeekanne nicht viel geändert. Die stählern blitzende Bombe hat sie leider voll getroffen. Die Scherben des mit einer Rosenknospe gezierten Deckels, der Schnauze, des prächtigen Henkels und des blümchenbemalten Bauches stehen wie ein Schwarm Schmetterlinge über dem Tisch, der Inhalt, guter, schwarzer, echter Bohnenkaffee (den zu organisieren Leutnant Messel fast das Kriegsgericht riskiert hatte) ist dabei, sich über die Tischdecke, ein Aussteuerstück, zu ergießen. Eine fürchterliche Schweinerei, wie soll man das wieder herauskriegen!

Der Eintritt der Bombe in das Zimmer hat sich mit unförmlicher Selbstverständlichkeit vollzogen. Jetzt ist sie nun einmal da und fast nicht mehr wegzudenken. Der kleine Defekt, den sie verursacht hat, hat sie seltsamer Weise beinahe heimisch werden lassen. Mit Fremden geschieht so etwas öfter. Man ist ihnen gegenüber solange frostig reserviert, bis diese vor Verlegenheit irgendetwas Ungeschicktes anrichten. Unter Entschuldigungen und Beteuerungen, daß es nichts ausmache, werden so erste Bande geknüpft, die dann oft bis zum Tode halten. Dieser wird allerdings nicht mehr lange auf sich warten lassen, denn die Berührung des Zünders mit der Rosenknospe auf dem Kaffeekannendeckel hat den empfindlichen Mechanismus ausgelöst, der nach einer kurzen Verzögerung die unter dem Stahlmantel verborgene Sprengmasse zur Explosion bringen wird.

Die Gegenwart der Bombe über dem Frühstückstisch und im Kanneninneren erregt niemand, denn Dinge sind sowohl gefühllos als auch zum Denken unfähig. Frau Messel, die fünfundzwanzig Meter davon entfernt im Keller sitzt, ahnt noch nichts von dem Unglück. Sie wird es bald erfahren, denn die Bombe macht sich selbst auf den Weg, ihr die Nachricht zu überbringen. Ob sie aber die Betrübnis und die Bitterkeit über den Verlust der Kanne, des reichen Geschirrs, des Barocktischs, der Damastdecke, des Glasschranks, des Goethe in Maroquinleder, der Weingläser, Karaffen usw. wird aufbringen können, ist noch die Frage.

In der Tat wagt man für den Tisch, so solide er auch aussieht, nichts mehr zu hoffen. Eine weitere hundertstel Sekunde später ist er zusammengebrochen, zermalmt, zersplittert, mitsamt dem zerfetzten Tischtuch, dem Geschirr, den zerquetschten Torten, herumwirbelnden Sahnekännchen, verbogenen Silberlöffeln, Kuchengabeln und Tortenhebern, die dem Gast durch ein plötzlich in der Decke entstandenes zwei Meter breites Loch in den Herrensalon des Junggesellen und Oberlandesgerichtsrats Dr. Mansfeld folgen.

Der Einbruch der Bombe in die samtene Stille tabakparfümierter Dämmerung wirkt wie der Sturm des Pöbels ins Schloß von Versailles. Der Kometenschweif von Scherben, Tortenresten, Kalkmörtel, zersplitterten Leisten, Parkettholz, Balken, Tischbeinen und Teppichfetzen, den sie hinter sich herzieht, ist indignierend. Würdige Entrüstung zeigt demzufolge auch die Marmorbüste des Hausherrn, dessen adlerhafter Ausdruck die Miene wiederzugeben scheint, die Dr. Mansfeld beim Urteilsspruch aufzusetzen pflegt. Heute früh hatte er dazu mehrfach Gelegenheit gehabt. Ein invalider Hausmeister hatte einen dummen Witz über die Frontbegradigungen in der Ukraine gemacht. Wegen Wehrkraftzersetzung wurde er zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein polnischer Fremdarbeiter kam nicht so gut davon. Er hatte ein Paar kaputte Stiefel von einem Trümmergrundstück genommen. Und auf Plünderung steht die Todestrafe.

Die Bombe zerschmettert unparteiisch Büste, Sockel und Schreibtischplatte, bohrt sich durch Aktenbündel mit wohlbegründeten Urteilen, die sich augenblicklich mit den Tortenresten mischen und nun in dem Loch verschwinden, das die Bombe in die Kellerdecke geschlagen hat. Sie scheint vor der Tür des durch Bohlen und Balken abgestützten Schutzraums auftreffen zu wollen, höchste Zeit, sich den Insassen des Kellers zuzuwenden, ehe es zu spät ist.

Ihre Gestalten verlangen keine besondere Aufmerksamkeit. Sie sind unter der Hülle der Kleider nicht bemerkenswerter als die anderer Menschen auch, selbst kleinere Unterschiede wie Neger (schwarze Haut, Kraushaar) oder Juden (krumme Nase, widerliche, dekadente Intelligenz) sie vielleicht haben mögen, geben zur Unterscheidung nichts Wesentliches her. Frau Messel ist nachweislich Arierin und zum Glück ihre Tochter auch. Der Oberlandesgerichtsrat hat mit Müh und Not eine jüdische Großmutter verheimlichen können, sonst stünde er jetzt an der Ostfront und hätte nicht dies verantwortungsvolle, staaterhaltende Amt, das ihm eigentlich Gerechtigkeit besonders bei der Verteilung von Nahrungsmitteln hätte nahelegen müssen. Trotz der Knappheit hat er einen gesunden Speck bewahrt, der besonders stark von der delikaten Unterernährtheit und blassen Farbe Fräulein Messels absticht.

Vera rezitiert, ohne es zu wollen, automatisch Verse von Goethe, doch etwas hindert sie am Atmen, ihre Hände liegen wie Steine im Schoß, ihr ist, als ginge ein Brand durch die Wirbelsäule. Doch wird sie nie auf den Gedanken kommen, daß an ihrer Fortexistenz berechtigte Zweifel aufkommen könnten. Das Leben ist einfach in ihr, auch wenn die Angst sie fast in die Wand, an die sich preßt, verwandelt, während das Dröhnen von tausend Flugzeugmotoren die Mauern vibrieren läßt und der Boden von den sich nähernden Explosionen bebt und schwankt wie ein Schiff im Sturm.

Ihre Mutter sitzt ihr gegenüber auf einem wackeligen Korbsessel neben dem Stützbalken und ist ihr fern und fremd wie nie im Leben, sie würde gern die drei Schritte zu ihr hinüber machen und sich in ihrem Schoß verbergen, aber es sind Kilometer dahin, sie wagt nicht aufzustehen und ihren sicheren Platz zu verlassen. Aber wieso denn sicher? denkt sie plötzlich alarmiert, aber sie haftet an dem Küchenstuhl wie angenagelt. Nein, es wird nie geschehen! Was denn? Und sie verwechselt ihre Hoffnungen mit ihren Ängsten, und dann will sie sich ganz stark an etwas erinnern, aber sie weiß nicht an was, und etwas fällt ihr dann ein, und sie sagt es ganz langsam, und was sie sagt, trägt sie davon so leicht und frei wie der weiße Blitz, der aus der Kellerwand bricht und ihr den ganzen tiefen Sinn erklärt: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn....

Der Oberlandesgerichtsrat hat ganz stark das Empfinden, alles sei ein Traum. Er ruft sich das immer wieder zu und schneidet gut dabei ab. Er ist wirklich mit sich selbst zufrieden und findet, daß er an der Somme 1917 weit weniger Haltung bewahrt hat. Da merkt er plötzlich, daß sein Fleisch nicht will. Es ist so etwas wie eine wachsende Auflehnung in ihm, er sieht an sich herunter und fühlt sich ganz nackt. Es ist keineswegs beschämend, denn Frau Messel und ihre halberwachsene Tochter sind für ihn nichts als Besenstiele, und überhaupt scheint alles aus Holz zu sein. Auch das flackernde Licht ist aus Holz und die gekälkte Wand, alles scheint nur eine dünne Baracke zu sein, und er sitzt da ganz allein und schutzlos wie in seiner Hüttensauna im Hunsrück, und er sieht an sich herunter und hat soviel Leib, soviel Fleisch, er sitzt da mit zusammengekniffenen Kinn- und Pobacken und wartet, daß man vergesse, daß er vorhanden ist und dann war ihm, als bräche der Ofen der Sauna auf, rasende Hitze umflammte ihn und er sagte sich: Es ist nur ein Traum.

Frau Messel erinnerte sich noch rechtzeitig, daß sie die Fenster offengelassen hatte, damit die Scheiben nicht kaputtgehen, wenn die Druckwellen kommen und daß sie das Gas zugedreht hatte. Hoffentlich passiert dem alten Geschirr nichts, erstens wäre es schade, weil es von ihrer Großmutter stammte und zweitens kriegt man jetzt sowieso kein neues Geschirr mehr. Aber daß man auch gar nichts hat auslagern können; die Bonzen haben natürlich das Wertvollste aufs Land schaffen lassen und ihre Familien dazu. Aus Frankreich ließen sie sich Champagner kommen, einmal haben wir ja auch eine Flasche auf Bezugsschein gekriegt, aber was war das schon, wo wir doch den Krieg gegen Frankreich gewonnen haben, könnten sie einem schon mehr zuteilen. Wenn nur das Licht nicht ausgeht, im Dunkeln habe ich Angst. Hofffentlich kriegt der Schmitz, der widerliche Blockwart, nicht raus, wo wir den Kaffee und die Torten für Veras Geburtstag herhaben, sie kann es wirklich vertragen, mal was hinter die Rippen zu bekommen, wie sieht sie so dünn aus und wie fett der Mansfeld....

Als die Feuerwehr sich durch den Schutt gewühlt hat, findet sie unter den Trümmern drei tote und vier überlebende Hausgenossen. Eine der Toten ist eine junge Französin, die das Unglück hatte, sich in einen deutschen Besatzungssoldaten zu verlieben und vor den Morddrohungen ihrer patriotischen Landsleute zu den Eltern ihres Freundes nach Deutschland floh. Tot sind auch Frau Messel und ihre hoffnungsvolle Tochter. Der kleine Rüdiger war also elternlos allein zurückgeblieben, denn sein Vater war, ohne daß die Familie es wußte, schon zwei Tage zuvor im Balkankrieg gefallen. Rüdiger hatte an dem betreffenden Morgen eine seltsame Vorahnung gehabt und war trotz des heftigen Protests seiner Mutter, die ihn beim Geburtstagskaffee dabeihaben wollte, mit der Hitlerjugend aufs Land gefahren. Dr. Mansfeld erlitt schwere Verbrennungen, ein Bein mußte amputiert werden, doch er kam davon, weil er in blendender körperlicher Verfassung war. Die Kürzung seiner Pension nach der Entnazifizierung wird durch eine schöne Kriegsopferrente mehr als wettgemacht.

Das Gespenst der Karibik

Подняться наверх