Читать книгу Das Gespenst der Karibik - Hans W. Schumacher - Страница 8
Starnberger Idylle
ОглавлениеEin runder Tag. Kaffeegeschmack im Munde und Sonne im Herzen stieg er die holprigen Stufen zum Strandbad hinunter, seine Schwester stolperte voran. Er fühlt sich voller Kraft und Licht, sonst ist alles nur Oberfläche, der Wind zischt in Tannenwipfeln und Wolkenfetzen blenden; der See liegt silberweiß im Geprassel von Lichtreflexen, die ihn aufraspeln und schärfen.
Weekend, Ferienlaune, aber er hat nur seine Schwester. Dreizehn Jahre und noch brustlos. Da schritt sie vor ihm her, langbeinig und staksig - für seine Beine kann niemand - gänsehäutig, schon schwer und noch leicht. Darin lag nichts Vernünftiges, das wächst so vor sich hin. Schon hatte sie die Mammutschlüssel für die Umkleidekabinen in der Hand und hüpfte albern über den Rasen. Backfisch mit Kälberbeinen. Sieht nicht echt aus, Schwestern sind überhaupt falsch.
Die Zellen riechen nach Karbolineum, Schweiß und eingesogenem Badewasser. Er friert, es ist zu kalt, unverschämt, dann auch noch Eintrittsgeld zu verlangen, einen Preis sollte man ihnen verleihen.
Sie sind ganz allein. Das macht ihm Angst. Der See liegt scharf geschliffen da wie ein Messer, eisblau und an den Rändern teerschwarz. Darin soll man baden? Ihn schaudert, lieber würde er weiter Kaffee trinken und bedachtsam von seinem Buch aufblicken auf der bequemen Terrasse über dem See, wo Kellnerinnen in Dirndln vor der Alpenkulisse agieren, die über Fichtenwipfel à la Altdorfer hinausragt.
Bayern! Sofort stehen Rüpel in Lederhosen vor dir, stumm wie Rindvieh, schnaufend, hitzig, jähzornig und unberechenbar. Ein Schlag auf die Schultern zeigt dir, daß du ein schwächlicher Intellektueller bist. Aber dennoch Stolz in der Brust. Mut hängt nicht von Muskeln ab, wo sind die Biertischhelden und Fingerhakler an diesem kalten Tag? Er aber geht mit seiner Schwester schwimmen!
Gesundheit, Stählung, Zukunft, Macht und Leben! Wind pfeift durch die Ritzen, grüngrünes Gras wächst zur Kabine hinein, das ist eben Natur! Ihm wird schon wohler. Aber da bumst seine Schwester giggelnd in der nächsten Kabine an die Wand und ein Hauch von Körperwärme zieht ihm um die Nase. Hemmung, Verarmung, Schwäche! Eine Freundin hätte er nie dazu gebracht, an einem solchen Tag baden zu gehen, nur seine Schwester kriegt man dazu, sie machen einem ja alles nach. Für Schwestern gibt es keine Definition, ausgesuchte Dummheit der Natur.
Nun zieht er die Badehose über seine verschrumpelte Nacktheit und macht, daß er aus dem Kühlhaus kommt. Eiswind sticht vom See her. Fast nackt ist er von Kopf bis Fuß, die Haare spreizen sich in alle Richtungen, da geht die Nachbartür auf und.....halt nichts denken! Sie nähert sich von hinten und legt ihm etwas Warmes auf die Schulter, ihre Hand, die eigentlich so wenig wahrnehmbar ist wie die eigene, denn Schwestern sind ein Nichts, eine Ich-Verdoppelung, ein Trugbild, ohne Gefühle und unerreichbar für sie, eisig wie der Wind, der die Tannen kämmt, zisch, zisch, die Nadeln pfeifen.
"Hast du keine Gänsehaut?" fragt sie und rubbelt an seinem Oberarm, "na, vielleicht ist das Wasser wärmer." Die Bretter glitschen eiskalt unter den Füßen, Zehen verkrampfen sich. Er hüpft auf einem Bein und versucht, sie in Normalstellung zurückzubiegen.
"Haha, du siehst zu komisch aus!" Er klopft ihr auf den Po und sie gibt ihm einen ungeschickten Jungfernstubs als Erwiderung zurück. Ohne Übung, gesellschaftsunfähig, Stubsen will gelernt sein. Er haut sie nochmal, daß es klatscht, unangenehme Festigkeit der elastischen Fläche.
Das Wasser rauscht zornig unter den Planken, und sie schreit und ist beleidigt. Der Wind pfeift, und er hat, wie er sagt, keine Lust, auf das Ende ihrer Schmollerei zu warten und solange zu frieren und "Nun sei man wieder gut", da kommt sie hinter der Kabine hervor, wohin sie sich verzogen hat, und lächelt und sagt: "Große Brüder sind immer so roh."
"Nein, das Wetter ist es," sagt er und springt einfach hinein. Das ist der Mut der Feigen, die übergangslos die Angst des Wartens verkürzen. Sofort ein anderer Zustand, eine Lawine von Empfindungen und ist doch plötzlich ganz gewöhnlich, halt frisches Wasser. Unter ihm ist es dunkelgrün und zum See hin braunschwarz. Muß ganz schön tief sein. Sie steht noch immer da oben, eine schlanker Schattenriß gegen den blauen, kalten Himmel, das Licht beißt ihm in die Augen, er bewundert sie.
"Los, du Feigling, rein ins Wasser!" Sie verschlingt die Arme unter der Brust und kneift die Beine zusammen. "Mir ist kalt!"
"Los, marsch ins Wasser! Hier ist's warm!"
"Glaub ich nicht." Er spritzt.
"Wenn du spritzt, geh' ich überhaupt nicht rein." Er spritzt wieder, sie zieht sich hinter die Hütte zurück, tritt vom einen Bein aufs andere.
Er gleitet hinaus. Das ist nun der Abschied für immer, zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Ganz dicht am Wasser, kaum mit dem Auge über der Fläche. Wellen schlagen an den Mund. Nur Leere, Einsamkeit, Freiheit um dich. Nur du und die Welt! Überwältigend ist das und befreiend. Er bietet die Brust den Gefahren, hängt über dem grausigen Abgrund, der erste, der einzige, der Siegreiche, Einsame, Tapfere. Er allein, der es gewagt hat.
Es prustet hinter ihm, da ist sie, regelmäßige Schwimmstöße wie in der Schule. "Wehe, wenn du mich tauchst!"
Er fährt mit dem Kopf unter Wasser und merkt, wie sie über ihm strampelnd zu entkommen sucht. Er legt sich auf den Rücken und sieht nach oben. Da liegt sie wie ein Frosch, der klappende Bewegungen ausführt. Die Gestalt ist von gekräuseltem Weiß umgeben, ringsum glasklares Grün. Die Luft geht ihm aus, er fährt brusthoch nach Atem schnappend aus dem Wasser und sieht erstaunt, daß er nur fünf Meter weit vom Badesteig entfernt ist. Er dreht sich um und da ist es: Ungeheures, Offenheit, Entzücken und Abenteuer. Er krault an ihr vorbei und nun ade, rechts und links weitet es sich um ihm, die Bucht öffnet sich in die Ferne, und weit hinter ihm weht eine dünne Stimme: "Mir ist zu kalt, ich geh mich abtrocknen."
Ein riesiges, kühles Tier trägt ihn auf dem Rücken, er sinkt mit den Beinen hinein in das durchsichtige Fell, schwebt über dem Abgrund seines Magens, zieht die Beine vorsichtig wieder zurück und legt sie gestreckt hinter sich. Segeldreiecke schieben sich langsam wie Spielfiguren aneinander vorbei. Ein zarter Haarsaum von Tannen und winzig ausgeschnittenen Villen und Bootshäusern ist das gegenüberliegende Ufer. Alles schwamm auf dem Rücken des großen Tieres, das ruhig unter allen Kontinenten lag, grün, ultramarin oder auch schwarz, das Tier zog sanft und ausdauernd an dem, was sich auf seinem Rücken hielt und einmal zog es alles in sich hinab. War das schlimm?
Eigentlich bedurfte es keiner großen Anstrengung, oben zu bleiben, wenn man ruhig war und seine Kräfte schonte. Aber langsam kroch ihm die Kälte unter die Haut, versteinte die Muskeln. Er wandte sich um und schwamm zurück. Seine Schwester, ein roter Punkt am Ende des Badestegs.
"Du warst aber weit draußen," sagt sie bewundernd und gibt ihm das Handtuch, "du hast ganz blaue Lippen." Sie zieht den roten Bademantel aus und legt ihn noch warm von ihrem Leib über seine Schultern.
"Ich bin eben dem Ungeheuer von Loch Ness begegnet," sagt er und reibt sich die Beine, bis wieder Blut in sie einkehrt.
"Was ist das?" fragt sie.
"Ein großes Tier. Seine Spezialität ist Männermord, es nimmt die Adepten zwischen die Beine und verzehrt sie wie einen Apfel, raps, raps mit Stumpf und Stiel."
"Du kohlst mich wieder an," sagt sie schmollend, sie geht auf ihren langen, schlanken Beinen zur Bank unter der Hütte, wo sie sich niederläßt mit einem leichten Schwung sich eben rundender Hüften. Er fällt neben sie.
"Ich hab gelogen, das Ungeheuer von Loch Ness ist die heruntergekommene Midgardschlange."
"Mein Gott, was ist das denn nun schon wieder?"
"Das ist die Prachtausgabe von Evas Schlange."
"Die kenn ich."
"Na, siehst du."
"Du verkohlst mich immer. Ach, große Brüder sind gräßlich." Sie wippt mit dem Fuß und betrachtet neugierig einen Leberfleck auf ihrem Schenkel.
"Sieh mal!" sagt er ablenkend und weist auf einen maschinegeschriebenen Zettel über sich an der Bretterwand. Er ist vergilbt, von Regenwasser aufgebeult, Rostflecken unter den Reißnägeln. "Suchmeldung" steht darauf. Jemand war in dieser Gegend ertrunken. Ein Student, 20 Jahre alt, mit dem Moped hergekommen, Brillenträger, seine Kleider hatte man gefunden, ihn nicht. Dem Finder wurden von den trauernden Eltern tausend Mark angeboten.
"Schrecklich," sagt die Schwester.
"Warum denn?" meint er achselzuckend.
"Ach, du mußt immer sowas sagen," sie ist zornig, geht ans Wasser, setzt sich an den Rand und plätschert mit dem Fuß darin herum.
"Tu das nicht," ruft er, "da liegt er drin."
"Das war doch vor einem Jahr," ruft sie nüchtern.
Verschluckt, verschwunden, verzehrt, aufgegangen in den Atomen.
Er lehnt sich an die Wand, ein Sonnenfleck schießt über die Wasserfläche auf ihn zu. Licht und Wärme. Er schließt die Augen und über die Lider wabert rote Glut, alles kehrt sich nach außen, nur Haut sein, Oberfläche.
Ein Jahr, ein Monat, ein Tag, was gilt das?
Vor seinen Füßen taucht der Kopf seiner Schwester auf, sie hält sich mit den Händen an den Planken fest und paddelt mit den Füßen hinter sich.
"Ertrinken muß scheußlich sein, was?" sagt sie.
"Kann sein, ich hab's noch nicht ausprobiert."
"Aber ich," ruft sie fröhlich, "ich war mal fast weg."
"Wo? Wann?" fragt er ungläubig.
"In der Badewanne, als ich klein war."
"Daran kannst du dich doch gar nicht mehr erinnern, da warst du doch höchstens zwei Jahre alt."
"Oh doch," sagt sie wichtig und versucht bedeutend auszusehen.
"Wie war's denn? Erzähle."
"Schrecklich," sie paddelt stärker.
Es wird wieder finster. Wolkenbänke schieben sich zu einem graugeribbelten Vorhang zusammen.
"Da liegt er nun zwischen Algen, Krebsen und Hechten und rollt hin und rollt her, oben gehen Sonne und Mond auf und unter und Gletscherwasser quirlt an seinen Knochen entlang."
"Hör auf!" schreit sie und taucht unter, als sie sich die Ohren zuhalten will.
Prustend kommt sie nach oben und hält sich an der Kante fest
"Du bist schuld, wenn ich jetzt ertrinke."
"Für Gesellschaft ist er bestimmt dankbar. Ich wette, das war ein Einsamer, ein Träumer, wer geht an solchen Orten auch allein schwimmen."
Sie straft ihn mit Nichtachtung und bewegt sich rückenschwimmend vom Steg weg. Und sie hat doch schon Brüste! Unter dem straffen, nassen Badeanzug sieht er kleine, rührende Erhebungen.
"Kommst du auch noch mal rein?" fragt sie lockend. Statt einer Antwort nimmt er Anlauf und stürzt im Hechtsprung auf sie zu. Sie dreht sich auf den Bauch und strebt kreischend davon. Aber nun hat er sie schon um die Taille gepackt und zieht sie an sich. Sie strampelt und windet sich.
"Ich schluck' Wasser," schreit sie.
"Nur wenn du dich wehrst."
Ihr Bauch ist fest und gespannt, sie zappelt wie ein Fisch unter ihm. Nun bekommt er auch einen Tritt ab, sie hat kräftige Schenkel.
"Wenn du dich wehrst, tauch' ich dich," sagt er unbarmherzig, nun muß er natürlich Rache üben. Einen großen Bruder tritt man nicht ungestraft.
"Laß mich los," flennt sie. Ehrensache, daß sie jetzt nicht mehr weg darf.
"Wenn du weiterzappelst, gehst du unter," sagt er drohend. Jetzt begreift sie, sie läßt sich ganz schlaff in seine Arme sinken, Lebensretterstellung, ist das eine Kriegslist? Nein, sie gibt wirklich auf. Langsam dreht sie sich an seiner Brust um und schlingt ihm die Arme um den Hals. Ihr blondes Haar klebt ihr um den Mund, Kinn und Hals, wolkige Strähnen strömen hinter ihr.
"Gefangen," ruft er triumphierend. Er umschließt ihren schmalen Körper mit einem Arm und hält sich mit dem anderen im Gleichgewicht. Sie lächelt ihn fast traurig an, und als er sich in ihren dunklen Augen gespiegelt sieht, pocht ihm plötzlich das Herz.
"Komm," sagt er rauh und stößt sie von sich, "wer zuerst am Steg ist." Ich muß sie gewinnen lassen, sagt er sich. Aber sie ist schneller, als er vermutet hat, beinahe hätte sie ihn überholt. Das geht natürlich nicht, er geht wütend zum Kraul über und schlägt eine Sekunde vor ihr an.
"Du hast gekrault," sagt sie vorwurfsvoll, "das ist unfair. Ich kann doch nicht kraulen. Im Brustschwimmen hätte ich dich geschlagen."
"Ach, geh, was heißt schon unfair im Umgang mit Schwestern. Kleine Schwestern muß man ab und zu verhauen, damit sie nicht übermütig werden."
"Du bist gemein", schmollt sie.
"Sollen wir nachher im Strandcafé Kuchen essen gehen?" sagt er, um sie abzulenken.
"Auja," sie trocknet sich zwischen den Beinen ab, "aber ich kriege zwei Stück, weil du so gemein zu mir warst."
"In Ordnung," sagt er begütigend. Er schreitet auf die Kabine zu, die Sonne beleuchtet goldgrün die Wiese, er ist männlich, stark, sanft, gütig und heiter. Seine Gedanken sind bereits mit dem freigebigen Ausschnitt der Kellnerin beschäftigt, wenn sie sich niederbeugt, um das Tablett auf dem Tisch abzusetzen.
"Und Sahne kriege ich auch!"
"Na klar doch. Alles, was du willst."