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Das Gespenst der Karibik

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Der General wurde ruck zuck ermordet. Ehe er merkte, was los war, war er schon tot. Dabei hätte es wirklich ein eindrucksvolles Erlebnis für ihn sein können, wäre es ihm bewußt geworden, aber dazu fehlten die Voraussetzungen. Seine Mörder, vom CIA geheuerte Gangster, waren Profis, die tüchtig und risikolos arbeiteten. Geschäft ist Geschäft. Ein Obsthändler kann auf faulenden Birnen sitzen bleiben und ein Killer auf einem Opfer, das sich wehrt.

Aber der General wehrte sich nicht. Ahnungslos und allein saß er am Frühstückstisch und führte gerade einen Löffel Ingwermarmelade zum Munde, als ihn die Schüsse in den Rücken trafen. So nahm er diesen Geschmack hinüber in die Ewigkeit. Dort war es still, alles schmeckte nach Konfitüre und Mystik, das paßte irgendwie nicht zusammen. Dazu kam Irres, schmerzhaft Gewaltsames. " Ich bin doch wirklich der größte....", dachte der General gerade und hatte die Tischdecke mit ihren Stickmustern vor sich, er wunderte sich darüber, wollte sich erheben und den Kriegsgeräuschen nachgehen, aber sein Kopf blieb auf dem Frühstücksteller liegen, und das war's dann.

Die Killer schoben ihre mit Schalldämpfern versehenen Waffen unter die Lederjacken und sahen sich um, aber außer Kommoden mit Silbergefäßen, Porzellanvasen mit Orchideen, Nippesfiguren, außer einer großen Photographie des Generals auf dem Balkon des Regierungspalastes in der Mitte seiner zahlreichen Familie - links von ihm sein Bruder und treuer Weggefährte Leonidas, Innenminister der Junta, rechts sein Sohn Porfirio, Militärattaché in Paris, - und einem überlebensgroßen Prachtgemälde des Diktators in seiner Paradeuniform gab es nichts Bemerkenswertes. Der fanatischste unter den Exekutoren gab noch eine Salve auf das Ölbild ab, dann machten sie sich aus dem Staub, ehe die Leibwache aus den Kellerräumen auftauchte.

Das Ebenbild des Präsidenten hielt es nicht lange an der Wand. Es rutschte aus dem zerschossenen Goldrahmen und faltete sich vor den Pantoffeln der Leiche zusammen. So war das Ensemble für die Ewigkeit aufbewahrt, in der er nun schwebte zwischen Blut und Marmelade, Autorität und Hörnchen, Gewalt und Kaffee. "Ich bin doch wirklich der größte...", das war sein letzter im Vollzug abgeschnittener Gedanke gewesen. Wie sollte es weitergehen: Feldherr, Politiker, Scharlatan, Schuft, Idiot? Jedenfalls war der Gedanke sinnlos, unvollendet breitete er sich im Nirwana aus. Das ganze übrige Seelenleben erstarrte wie ein stehengebliebener Film. Anwandlungen, Assoziationen, Gefühle, Vorstellungen standen stramm und wußten nicht mehr, ob sie weiter machen sollten oder nicht. Verwirrung und Anspannung hielten sich die Waage. Man kann sich das leicht vorstellen, denn etwas, das bei einer zielgerichteten Bewegung auf ein Hindernis stößt, legt seine Energie in eine andere Form von Kraft um, kinetische Energie wird Irradeszenz. Die erloschenen Lebensmomente des Generals glichen einer schlafenden Stadt, deren Lichter gespenstisch in der Nacht phosphoreszieren.

Der General hatte nie im Leben an Gespenster gedacht, sie in Betracht gezogen, ihnen etwas abgewinnen können. Das war ein verzeihlicher Fehler für einen Realpolitiker, aber er kostete ihn sein Leben. Er hätte die plötzliche lautlose Annäherung von Geistern gefürchtet, wenn er an sie geglaubt hätte. Die übliche Vorsicht und eine Leibwache, die im Keller frühstückt, reichen nicht aus. Wie dem auch sei, jetzt lag er da, im blutigen Morgenrock vornüber auf den Teller gebeugt. In seinen glasigen Augen spiegelte sich das Wedgewood-Geschirr, das er sich als Leutnant einmal gekauft und das ihn immer begleitet hatte: auf dem Feldzug gegen die aufständischen Indios, im Exil und im Präsidentenpalast.

Da lag er nun, der Stolz seiner Familie, der Diktator zum Wohl des Landes, das gefeierte Oberhaupt der Armee, der strenge Erzieher seines Volkes, dessen Porträt in allen Amts- und Schulstuben hing, und es war aus. Es war so gründlich zuende, als sei ein ganzes Erdzeitalter vorübergegangen. Denn wenn man einmal tot ist, spielt es keine Rolle mehr, ob man vor zwei oder vor fünf Millionen Jahren lebte. Aus der Zeit war er gefallen, er, der so schnell auf die Zeit reagieren konnte, der Mann der raschen Entschlüsse und der unerwarteten Wendungen, den nichts überraschen konnte, weil er alles schon vorher bedacht hatte.

Ein Dutzend Komplotte gegen ihn waren geplant, aber beizeiten aufgedeckt worden. Seine Geheimpolizei gehörte nun mal zu den besten, seit er unter seinem von ihm gestürzten Vorgänger das Ministerium des Inneren geleitet hatte. Nun aber war er doch überrascht worden, aber es ging ihn nichts mehr an. Inzwischen nahm ein neuer Generalissimus auf dem frei gewordenen Präsidentensessel Platz und schwor mal wieder die "neue Ordnung" zu verwirklichen, indem er zunächst alle lukrativen Staatsämter an seine Verwandten und Gefolgsleute verteilte.

Der tote Diktator hatte nun schon mehr in sich als den Geschmack von Ingwermarmelade und Gewalttat. Wie eine große Blase wuchs Erstaunen in ihm. Erstaunen darüber, daß er nichts mehr konnte. Da er nichts mehr tun konnte, konnte er auch nichts mehr wollen. Er, der alles dirigiert und manipuliert hatte, mußte nun alles mit sich geschehen lassen. Es war wie eine Geburt nach innen, eine irre Sanftmut überkam ihn. Die hatte er auch nötig, um ertragen zu können, was seine Nachfolger alles anrichteten, daß seine Republik sich veränderte, wie sie sogar einmal von der Landkarte verschwand, um dann doch wieder aufzutauchen, bis sich dort, wo sie war, im folgenden Erdzeitalter ein Meerbusen breit machte, der wiederum von Gebirgsbildungen verdrängt wurde und so fort, bis endlich die Sonne verlosch und alles Leben endete.

Über diesen Betrachtungen wäre die nächste Zukunft fast vergessen worden. Beinahe wäre unbemerkt geblieben, daß der General sich erhob und gleich wieder streckte, er lag auf einem reich geschmückten Katafalk, von vielen flackernden Kerzen umgeben, die die Hitze in der stickigen Atmosphäre der Barockkathedrale noch verstärkten.

Düsteren Blicks standen einige Anhänger mit gefalteten Händen vor diesem ehrwürdigen Beispiel von Größe, Pflichtbewußtsein und Tragik. Aber das Publikum für diese Demonstration von Vaterlandsliebe fehlte. Außer ein paar unwichtigen Personen, die hier Trauer vorführten, waren die Mitglieder der alten Junta heimlich verhaftet worden und warteten auf die Ausweisung durch eine milde gestimmte neue Regierung. Mit umflorten Augen sahen die Trauergäste durch die Domportale über den staubigen in der Sonne gleißenden Platz auf den Präsidentenpalast gegenüber, wo die schwankende Menge des Volkes den neuen Machthabern huldigte.

In den Zeitungen las man, der Verblichene sei einem Herzanfall zum Opfer gefallen. Dem General war die Lüge egal, als man ihn in seiner papageienbunten Paradeuniform in einen seidengefütterten Sarg von den Ausmaßen eines größeren Kahns legte, ihm war es egal, als man den Deckel über ihm schloß, ihm war es gleich, als der innere Kreis der übriggebliebenen Günstlinge der Rede eines dürren, in seiner Uniform schlotternden Zeremoniemeisters lauschten, der der Überzeugung war, der Verstorbene werde sich einst aus seinem Grab erheben, wie Kaiser Barbarossa in der bekannten deutschen Sage.

Ein Geheimagent der neuen Regierung, der hinter einer Säule verborgen diese Szene beobachtete, lächelte verächtlich in seinen Spitzbart hinein, der auf und abwippte, als er dem neuen Staatsoberhaupt berichtete, daß die Familie des Generals beschlossen habe, den Leichnam im Ausland zu beerdigen. Dem neuen Regierungschef war es recht, nur weit weg damit. Er ahnte nicht, daß Leonidas, der Bruder des Dahingegangenen, mit dem Leichnam im Gepäck noch einiges vorhatte.

Die Reliquie sollte dem Sohn des Generals als Ausweis dienen, wenn er in das Land zurückkehrte, um die Staatsgewalt wieder in die Hände ihrer rechtmäßigen Besitzer zu legen. Porfirio, der sich sein Leben lang nicht um Politik gekümmert hatte, war etwas flau zumute, wenn er daran dachte, wie er den Ambitionen von Leo und seinen Anhängern genügen sollte. Aber wie konnte er sich ihren Forderungen entziehen, wenn Papas Nummernkonto in der Schweiz von einem Onkel verwaltet wurde, der sich unbeugsam der Reaktion verpflichtet fühlte?

Der General war vor seiner Einsargung einbalsamiert worden. Er sollte auch nach Jahren noch passabel aussehen. Aber er war nur eine Hohlform, die man ausgoß, wie man es wollte. Für ihn, wenn man in seinem Zustand noch irgendeine Selbstbezogenheit besitzen kann, gab es wirklich nur noch Leere, in seinen Augen war alles unterschiedslos geworden. Er war haltlos wie die gräßlichen Hippies, denen er vor Jahren auf öffentlichen Plätzen von Militärfriseuren die Haare auf Stiftlänge hatte kürzen lassen. Er war schrankenlos, wie er es nie vorher gewesen war.

Gewiß, als er noch lebte, war er frei gewesen, aber nie ungebunden. So wie der Kopf auf dem Körper sitzt, so war er als Führer an den Staat gefesselt, dem er vorstand. Und wie der Körper nicht immer tut, was sein Gehirn ihm vorschreibt, so begehrte auch das dumme, gierige Volk immer wieder gegen die Herrschaft der Vernunft auf und mußte durch einen unbeugsamen Willen botmäßig gemacht werden. Wie der Mönch seinen Leib kasteit, so wollte der General sein Volk zu Gehorsam und Verzicht erziehen.

Nun da er tot war, geriet alles in ihm durcheinander, er verwechselte Geist und Materie, Vorsatz und Begierde, in ihm herrschte schlicht das Chaos. Jedem anderen hätte das gefallen können, nur ihm nicht. Aber da er willenlos und demütig geworden war, mußte er sich mit diesem Zustand abfinden. Was blieb ihm auch anderes übrig? Wenn man tot ist, ist man reine Verfügungsmasse. Das galt auch für die Einschätzungen, denen er jetzt seitens der politischen Öffentlichkeit ausgesetzt war: einige nannten ihn einen Volksfreund, für seine Gegner war er ein Unterdrücker, andere sagten, er sei eine Marionette der Amerikaner gewesen, obwohl er Unabhängigkeit geheuchelt habe, manche sahen in ihm den geopferten Messias spanischer Tradition usw.

Der klare südliche Himmel schien an dem Sommerabend, als der Sarg zum Flugplatz gefahren wurde, alles mit seiner wohltuenden dunkelblauen Substanz zu durchtränken. Der Äther versuchte auch den General zu erweichen, stieg aber auf etwas Undurchdringliches. Ganz tief in ihm lag der Mord, den konnte er nicht verwinden. Es grollte in ihm, Demut hin, Demut her. Dieser Mord, von dem er selbst eigentlich gar nichts wußte, so heimlich war er geschehen. Es war ein so geschwinder Mord gewesen, daß es eigentlich gar keiner war, daß er aus jeder Zurechnung hätte ausscheiden können. Denn wovon man nichts merkt, das existiert auch nicht oder wie man so sagt, was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

Den General hatten nur seine Geschicklichkeit und nicht die Panzergläser und kugelsicheren Westen vor einem früheren Dahinscheiden bewahrt. Über der Sicherheit, die ihn bei seinem Jonglierspiel mit Staaten, Weltanschauungen, Parteien, Organisationen, Anhängern und Gegnern, Speichelleckern und Trotzköpfen überkommen hatte, hatte sich ihm die uneingestandene Gewißheit eingeflößt, daß er einst wie Jeremias lebend zum Himmel fahren würde, sozusagen. Nie dachte er ans Sterben als nackte Scheußlichkeit. Er würde in den Himmel der Unantastbaren eingehen. Aber nun war es unbewußt, unvorbereitet über ihn gekommen bei Hörnchen, Kaffee, Ingwermarmelade. Man hatte ihn in einem Augenblick der Schwäche erwischt, beim Frühstück, in der Zeit der Unschuld, der kindlichen Arglosigkeit. Perfide war das gewesen, aber wirksam. Er lag da und wartete darauf, daß er sich in eine Bombe verwandelte, zumindest aber in ein Gespenst.

Die Chartermaschine stand bereit, ihre Silhouette zeichnete sich scharf gegen einen orangeroten Streifen am westlichen Horizont ab. Von einem Seitenportal aus näherte sich ihr langsam eine kleine Eskorte mit dem schwarzlackierten Leichenwagen an der Spitze, dahinter leise murmelnde Mercedes. Ein Trupp Soldaten stand unauffällig im Schatten eines Hangars bereit, um eventuelle Zwischenfälle zu verhindern. Doch es geschah nichts, was sollte auch passieren? Die ganze Angelegenheit war von der neuen Regierung sorgfältig abgeschirmt worden, nichts war an die Öffentlichkeit gedrungen, kein Propagandaeffekt zu erwarten.

Die Anhänger des Generals erfaßte das schmerzliche Gefühl düpiert worden zu sein. Die Reibungslosigkeit der Abfertigung hatte etwas Maskiertes an sich. Sie standen schwarzbefrackt und unbequem an der Luke des Flugzeugs und in ihrer Verlegenheit halfen sie den Trägern den Sarg in die Türöffnung zu schieben. Dabei entfalteten sie eine unfeierliche Geschäftigkeit, die ihre nagenden Gedanken verdrängen sollte.

Im Osten war unterdes der Mond, ein zitronengelber Ball, aufgegangen, er sah riesig und unwahrscheinlich aus, ein echter Theatermond. Sein Erscheinen galt nicht den korrupten Beteiligten des politischen Spektakels, er war nur da für den General. Es war sein Mond und alles Ästhetische um ihn herum ein Mißverständnis. Der Mond, der dottergelb über die Palmen wuchs, sprach mit dem verblichenen Diktator in einer nur ihnen beiden verständlichen Sprache, deren Kernsatz lautete: Es ist alles sinnlos! So spricht der Mond auch manchmal zu Lebenden, wenn sie sich seinem Sog ausgesetzt sehen.

In einer Vollmondnacht war einst der General über den weißen Kies des hauptstädtischen Gefängnishofes auf den Trakt der Todeszellen zugeschritten. Über seinem Kopf stand scharf ausgeschnitten, kreisrund die blendende Scheibe und erhellte einen gläsernen, schwarzblauen Abgrund rings um sich. Er schien wie ein Trichter, in den alle Erinnerungen, die Freuden und Leiden der Vergangenheit und die Hoffnungen der Zukunft hineingezogen wurden. Als der General schließlich vor seinem wegen Hochverrats verurteilten Freund stand, um ihm ein Abschiedswort zu sagen, war sein Gehirn völlig leer. Er erinnerte sich an nichts, wußte kaum noch, wer vor ihm saß, konnte nichts Bedeutendes formulieren, während er mit seinen glänzenden Schaftstiefeln vor dem auf der Pritsche sitzenden Todeskandidaten auf und ab schritt. Der Gefangene wartete auf etwas, vielleicht einen Gnadenspruch, vielleicht hoffte er, den Donner des Zorns zu vernehmen, der die dürren Worte des Todesurteils vermenschlicht hätte. Aber sein ehemaliger Freund und Kampfgenosse schritt weiter gedankenleer auf und ab. Das Licht der Scheinwerfer löste seinen Schatten in kristallene Überschneidungen auf, die kreuz und quer über das offene Hemd des Verurteilten glitten. Schließlich rang sich in dem General etwas hoch, er beugte sich zu dem Zusammengesunkenen hinunter, packte seine Schultern und flüsterte mit einer Stimme wie zerbrechendes Glas die Worte: "Du bist mir doch nicht böse, Carlos...?" Da gurgelte es im Hals des Delinquenten, etwas, das vielleicht "nein" hieß, das aber anhielt wie ein Schrei, dabei klammerte er sich an den General, wie um ihn zu umarmen oder zu erwürgen, doch dauerte es kaum zwei Sekunden, da hatten die Wärter die Tür aufgerissen und seine Hände vom Hals des Präsidenten gerissen. Brüllend warf er sich zwischen den Soldaten, die ihn hinausschleiften, hin und her. Eine Minute später prasselten Schüsse auf dem Hof, und der Schrei starb mit ihnen.

Das geheime Einverständnis mit dem Mond setzte sich fort. Die Totenlade bekam Flügel und schoß in den Nachthimmel hinauf. Durch die Luken des Frachtraumes fiel Silberlicht und umglänzte den Sarg. Schwerelos schwebte der General zwischen Himmel und Erde. Manchmal schien die schwachleuchtende Fläche des Meeres umzukippen, während der Mond herabsackte, dann wieder entschwand er in unerreichbare Höhen, nur seine Spiegelung in gerippten Wellen begleitete das Flugzeug ständig. Wo der Himmel schwarz war, wimmelten Sterne.

Gläserne Schlaflosigkeit dehnte sich im Passagierraum. Die verbannte alte Junta lag, erschöpft von den Anstrengungen und Schrecken der letzten Tage, kreuz und quer in den Sitzen. Mit rotgeränderten Augen sah man in die Nacht hinaus und kam sich vor wie in einem sich endlos fortträumenden Traum. Dem künftigen Präsidenten war, als würde die Reise zum Grabe des Vaters eine Weltraumfahrt, in der sich Sterne wie Inseln zur Ruhe anböten. Doch wie weit war es dahin und ehe man dort war, war man vielleicht selbst schon tot. Der Gedanke überfiel ihn mit erschreckender Wucht: Tote, die einen Toten begleiten! So sah er endlose Prozessionen wie schwarze Würmer durch das Universum kriechen.

Das monotone Brummen der Motoren schläferte ihn ein, doch hielt er die brennenden Augen auf die Tür zum Frachtraum geheftet, als könnte er, wenn er nur wach und aufmerksam bliebe, den Toten dahinter festbannen und alle schlimmen Gedanken, die er einflößte.

Doch es war vergeblich. Es war, als bräche er mit seiner verzweifelten Anstrengung, ihn draußen zu halten, die Klinke ab. Beharrlich und langsam öffnete sich die Tür und aus dem spukhaften Dämmer, den die Mondstrahlen um den Sarg webten, schwebte der General in seiner kostbaren, grünlich aufglühenden Uniform durch den Raum. Blut tropfte aus Löchern in der ordenbesetzten Jacke. Seine Augen waren geschlossen. Mit der preziösen Fingerhaltung gotischer Statuen wies er auf seine Wunden.

"Ecce homo", seufzte sein Sohn und fuhr auf. Die Tür zum Frachtraum stand dunkel und geschlossen am Ende des Ganges. Das Mondlicht glitzerte auf dem Meer und blendete ihn. Er zog die Vorhänge vor das Fenster und dämmerte vor sich hin.

Später träumte er, daß er in hellstem Licht Arm in Arm mit seinem Vater auf ein pompöses Grabmal zuschritt. Der General schleifte die Füße nach, schließlich mußte ihn Porfirio unter die Achseln packen, am Ende schleppte er ihn auf dem Rücken dem gähnenden Loch der Gruft entgegen, über dem sich barocke Skulpturen aufreckten. Allmählich nahm das Gewicht zu, er ging in die Knie, versuchte sich noch einmal hochzustemmen und brach zusammen. Sein Vater war Marmor geworden.

Vom Kreischen und Poltern der aufsetzenden Maschine geweckt, schreckte er auf und sah die Positionslichter der Rollbahn des Airports von Miami an sich vorüberschießen. Ihm war wirr zumute, seine Glieder schmerzten, kaum verstand er die aufgeregten Anweisungen der Mitreisenden. Er wurde völlig übergangen, als zähle seine Anwesenheit nicht. Sein Onkel tauchte bleich aus dem Funkraum auf und wandte sich an den Ko-Piloten, der mit den Achseln zuckte, während das Flugzeug auslief.

Schließlich gelang es Porfirio, seine Benommenheit abzuschütteln, er drängte sich zu seinem Onkel durch und fragte, was los sei.

"Sie lassen uns nicht einreisen," sagte der Onkel, "wir müssen es woanders versuchen."

"Aber der Grabplatz ist doch schon bestellt."

"Sie wollen ihn nicht haben, die verdammten Yankees", zischte Leo, "wir fliegen nach Quebec. Geh schlafen, mein Junge", sagte er versöhnlich, "wir müssen noch nachtanken lassen."

Und wieder erhob sich der Unglücksvogel in die Nacht. Es war inzwischen zwei Uhr. Man hatte gegessen und war nun beim Whisky. Hatte vor der Landung in Miami jeder für sich schlafend und vor sich hin brütend dagesessen, während die Gleichgültigkeit der Erschöpfung sie überfiel, so drängte sie nun die Ungewißheit, was geschehen sollte, zusammen. Über Funk hatte man den Botschafter Santo Ignacios, einen alten Familienfreund, angewiesen, er solle ein Begräbnis erster Klasse auf einem upper-class-Friedhof bestellen sowie eine Einreisegenehmigung. Jetzt wartete man sorgenvoll auf seine Antwort. Unter ihnen wellten sich dunkle Gebirgsmassen, Lichterhaufen glitzerten wie Diamanten und die Perlenschnüre beleuchteter Straßen zogen sich sternförmig ins Dunkel hinein.

Der Whisky tat allmählich seine Wirkung. An allen Gedanken aber hing der tote General wie ein Bleigewicht. Man freute sich zwar, mit heiler Haut davongekommen zu sein, nachdem der geheimnisvolle Mord ihren Beschützer weggeräumt hatte, unklar blieb, wer dafür verantwortlich war. War doch nur dem engsten Kreis bekannt, wo der Diktator sich jeweils aufhielt. Des Rätselratens müde, sprach man der Flasche zu. Doch wurde das Wohlgefühl des Rausches immer wieder durch die Sorge um die Zukunft getrübt. Das Flugzeug Onkel Leos war eine Insel der Sicherheit, aber man mußte bald wieder herunter auf die gefahrvolle Erde.

Schmutzige Verräter, dachte Onkel Leo, aber ich werde es ihnen noch heimzahlen! Heimlich knirschte er mit den Zähnen und sah von der Seite seinen Neffen, dieses ahnunglose Bürschchen, an, dessen hübsches, von sportlicher Betätigung an frischer Luft gebräuntes Gesicht bleich und abgespannt wirkte. Er hatte sich ja nie um irgendetwas kümmern müssen. Papa bezahlte ihm seine Pferde und Rennwagen. Ihm war nur untersagt, die Töchter der Oberschicht zu schwängern. Dafür hatte er Auslauf genug in Paris und Nizza. Und auf so etwas bin ich nun angewiesen, stöhnte Leonidas.

In den Whisky-Träumen seines Neffen tanzten nackte Mädchen mit Skeletten. Dann war Porfirio, er läge auf einer Bahre, die vorn sein durchlöcherter Vater und hinten sein Onkel trugen. Plötzlich ließ Leo die Griffe fahren und da der Vater, ohne sich umzusehen, weiterschritt, rutschte er von der Bahre und schlug mit dem Kopf auf den Boden auf.

"Porfirio, trink doch nicht so viel," schimpfte sein Onkel und hob ihn mit Hilfe eines Stewarts in den Sessel zurück, von dem er heruntergeglitten war.

Auf ein Bett in einer der Schlafkabinen gelegt, erschien ihm wieder sein Vater. Diesmal erkannte er ihn sofort als Traumgestalt, wachte entschlossen auf und keuchte: "Wie lange soll das denn noch weitergehen? Kann er mich nicht in Ruhe lassen? Tot ist doch tot. Und was soll dieses dumme Hamlet-Hamlet-Gestöhne?"

Er stutzte und fragte sich, wie er darauf gekommen war. Hatte er das eben erfunden oder war es eine Erinnerung an den entschwundenen Traum? Ich träume doch sonst kaum, das muß dieser verdammte Whisky sein, sagte er sich und um nicht weiter an den Toten zu denken, starrte er intensiv aus dem Fenster, als könnte ihn der Anblick der im Dunst daliegenden Erde wachhalten.

Im Osten erschien eine trübe Helligkeit, die allmählich auf die Himmelsfläche überging. Das nüchterne, bleiche Dämmerlicht ekelte ihn an. Dann schüttelte er sich und sprach sich Mut zu: "Ach geh, heute abend haben wir das alles hinter uns. Eigentlich gemein von dem Alten, sich so mir nichts, dir nichts abmurksen zu lassen, und nun haben wir den Ärger mit der Leiche."

Ein Schauder, der ihm den Rücken hinunterlief, sagte ihm, daß das sehr pietätlose Gedanken waren, die man sich nicht erlauben sollte. Vielleicht war an dem Gerede von Gottes Strafe doch was dran. Um sich abzulenken, überlegte er sich, wie er sich aus der Abhängigkeit von Onkel Leo lösen konnte. Testamentsanfechtung? Oder ihn über die liberale Exilpartei seines Freundes Emilio ausbooten? In politischen Intrigen hatte er keine Übung, aber das sollte anders werden, wenn sie erst in Paris wären. Dort hatte er er eine Menge Freunde.

Kaum war das Flugzeug nach der Landung in Quebec zum Stillstand gekommen, erklomm ein eleganter Herr mit schwarzem Menjoubärtchen, das wie ein Strich seiner schmalen Adlernase ein Ende setzte, die Gangway und wandte sich sogleich an Onkel Leo. Diesmal aber ließ sich Porfirio nicht beiseiteschieben, er schritt entschlossen auf die in einer Ecke konferierende Gruppe zu, worauf der Herr, es war der Botschafter Santo Ignacios in Kanada, ihn mit einem Seitenblick musterte, plötzlich den Onkel stehen ließ und Porfirio wortreich zu seinem Verlust kondolierte. Danach murmelte er ihm und Leo die Hiobsbotschaft zu: Die kanadische Regierung bedauere außerordentlich, aber mit Rücksicht auf die engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und die Proteste der Emigrantenorganisationen sowie wegen der zu erwartenden Ausschreitungen bei der Bestattung des Dahingeschiedenen könne man die Einreise nicht gestatten. Er habe mehrere vergebliche Versuche gemacht, den Außenminister zu sprechen. Man könnte es doch in England versuchen, wo man sich vielleicht noch an den Staatsbesuch vor acht Jahren erinnere, aber man müsse berücksichtigen, daß der General in der englischen Presse immer schon schlecht weggekommen sei.... Der Mann mit dem Menjoubärtchen schwieg verlegen und sah in Richtung des Laderaums, wendete dann den Blick mit einem Ruck ab und wollte, ohne den Satz vollendet zu haben, den Rückzug antreten, als es aus dem Onkel brach:

"Was fällt Ihnen ein! Sie haben klare Anweisungen gehabt und nun speisen Sie uns mit Eventualitäten ab."

Senor Cisneros wurde daraufhin eiskalt und förmlich. Er habe den unangenehmen Auftrag nur als alter Freund des Verstorbenen übernommen, aber er stehe jetzt im Dienst der neuen Regierung und könne nicht gegen seine Direktiven handeln.

Welche das wären, donnerte Onkel Leo, der sich immer noch als Innenminister vorkam.

"Darüber darf ich nichts sagen," verlautete der Diplomat und verabschiedete sich kühl.

Porfirio hätte gern wieder einmal festen Boden unter den Füßen gespürt statt des bebenden, schwankenden Flugzeugdecks, aber die vier Polizisten, die am Fuß der Gangway herumstanden, sahen so aus, als hätten sie nicht die Absicht, jemand auch nur auf die Flughafentoilette zu lassen.

"Kein Respekt vor den Toten", grollte Onkel Leo, der entdeckte, daß es so etwas wie geheiligte Konventionen gab, "also gut, dann bleibt uns nur Paris."

"Nein, "seufzte Porfirio, "nicht noch einmal abgewiesen werden. Warum fliegen wir nicht lieber nach Spanien?"

Der Onkel lächelte verächtlich ob so viel Unkenntnis der doppelzüngigen Außenpolitik des Generalissimo, ließ ihn stehen und informierte seine Getreuen und die Flugzeugbesatzung. Und nach endloser, schikanöser Warterei auf die Starterlaubnis entfernte man sich vom westlichen Kontinent und flog in die Dämmerung hinaus.

Porfirio, der trotz seines Playboylebens Sinn für die Schönheit der Natur besaß, ertappte sich, als er träumerisch am Fenster vor sich hinsann, bei einer verzückten Stimmung, in die ihn das gewaltige Schauspiel der untergehenden Sonne versetzt hatte. Vereinzelte Kumuluswolken erstrahlten in rosigem Licht, das Meer glänzte als violette Scheibe. Nun erschienen ihm die verflossenen Tage wie ein einziger grausiger Wirrwarr. Er versprach sich, diese Nacht durch nichts verstören zu lassen und fiel tatsächlich in einen wunderbaren, traumlosen Schlummer, aus dem er erfrischt in Le Bourget erwachte. Shannon hatte er verschlafen. Na bitte, sagte er sich, es geht doch wieder. Man darf sich nur nicht aus der Fassung bringen lassen. Dann sah er, wie sich vom Hauptgebäude her ein Leichenwagen dem Flugzeug näherte. Das klappt ja famos. Onkel Leo hat doch recht gehabt! Während er sich ankleidete, beobachtete er gut gelaunt, wie sich die Träger mit dem schweren Sarg abschleppten, ihn in das Auto luden und wie der Wagen sich in Richtung des Terminals entfernten.

Ah, jetzt befand er sich auf vertrautem Terrain. Kaum hatten sie Zoll und Paßkontrolle hinter sich, verschwand er in einer Telefonzelle und rief Claudine an, die sich wegen der frühen Stunde zunächst mürrisch zeigte - sie hatte bis Mitternacht auf der Bühne gestanden -, aber einem Lunch im Bois nicht abgeneigt war. Danach tätigte er noch vier weitere Gespräche und begab sich zufrieden ins Ritz, wo der Onkel vorsorglich eine Suite hatte reservieren lassen.

Die Nacht wollte er in den Armen Claudines verbringen. Aber es kostete ihn ziemliche Mühe, sie ins Bett zu manövrieren. Als er es schließlich geschafft hatte, erklärte sie, sie habe sich gewehrt, weil er "den Geruch des Todes" an sich habe. Kaum war das aus ihr heraus, verlor sie sich in eine sinnliche Raserei, die ihn fast um den Verstand brachte. Morgens, als sie noch schlief, war ein wenig beschämt, als er daran dachte, daß er noch warm von den Küssen einer Frau an die kalte Gruft seines Vaters treten sollte.

Aber daraus wurde nichts. Im Hotel empfing ihn wütend sein Onkel. Der Sarg stehe immer noch im Frachtraum von Le Bourget. Elende Schlamperei! Erst habe man ihm versichert, die Papiere kämen noch im Lauf des Nachmittags, dann vertröstete man ihn auf den nächsten Morgen. Und jetzt seien sie unauffindbar, angeblich von irgendeiner untergeordneten Behörde verlegt. Also erneutes Warten. Porfirio nutzte es aus, Claudine zu lieben, Beziehungen zu festigen, Rechtsanwälte zu konsultieren und Freunde zu besuchen.

"Wo steckst du nur die ganze Zeit? Du kümmerst dich wirklich um nichts," schimpfte Onkel Leo, wenn Porfirio nachts an ihm vorbeieilte und seinem Zimmer zustrebte. Dem Onkel wurde der Knabe zu selbständig, immerhin konnte er frei über eine halbe Million Dollar verfügen, so stand es im Testament. Aber das würde bei seinem Lebensstil binnen kurzem verbraucht sein, dann war er ganz auf Leo angewiesen und mußte sich erkenntlich zeigen. Zunächst jedoch war es vordringlich, den verdammten Ballast von Sarg loszuwerden.

Tatsächlich kam es so, wie er es dunkel geahnt hatte. Am Morgen des siebten Tages stellte sich die ganze Geschichte mit den verlegten Papieren als bloße Hinhaltetaktik heraus. Es war schon ziemlich beleidigend, in welche faule Entschuldigungen und Taktlosigkeiten ein Zollbeamter die Verweigerung der "Einfuhrgenehmigung" hüllte. Als wäre eine Leiche eine Art Stückgut!

Und wieder saß man im Flugzeug. Porfirio hatte sich erst weigern wollen, weiter an der Irrfahrt teilzunehmen, aber das war schlecht möglich, obwohl Claudine ihn weinend angefleht hatte, dazubleiben. Er würde nie mehr wiederkommen, und alle seine Beteuerungen, sich gleich nach der Beerdigung in die Maschine nach Paris zu setzen, nutzten nichts. Sie war schon ein etwas überspanntes Mädchen wie alle Schauspielerinnen, aber als er es sich in seinem Sessel bequem machte, durchlief ihn noch eine Wonneschauer, so geliebt zu sein. Leicht erschöpft von der letzten Liebesnacht und in angenehme sinnliche Träumereien versunken, genoß er es, wie das Dröhnen der Propeller anschwoll, das Flugzeug erst langsam, dann immer schneller über die Piste rollte und sich dann in die Luft erhob.

Aus dem Onkel, der in den letzten Tagen immer finsterer geworden war und der ihn praktisch nur noch über die Schulter hinweg ansprach, war nicht herauszukriegen, wohin es ging.

"Du wirst schon sehen!", war die kryptische Antwort. Profirio ließ es sich gefallen. Es kam ihm vor, als ob die ganze Angelegenheit ihn nichts mehr anginge. Er versenkte sich in freundliche Erinnerungen, ließ sich vom Stewart eine Flasche Dom Perignan bringen und leerte sie auf das Wohl der frivolen Jacqueline, der entzückenden Bella, der kapriziösen Manon und der schwärmerischen Claudine. Hatte er sie nicht zuerst in einer Ophelia-Rolle auf der Bühne gesehen? Widerwillig hatte er sich ins Odéon mitschleppen lassen. Klassisches Drama lag ihm nicht. Man hatte sie in der Public School schon genug damit gepiesackt, sein Feld war das Olympia oder das Kino. Vom ganzen Ensemble interessierte ihn nur die Ophelia. Welch ein Weib! Wie konnte er jetzt Hamlets Worte nachempfinden: The fair Ophelia - Nymph in thy orisons be all my sins remember'd. Welcher Rausch, sich in den goldenen Wasserfall ihrer Haare einzuhüllen und dem unaufhörlichen süßen Gemurmel von geflüsterten Kosenamen zu horchen. Könnte das nur ewig so dauern!

Wie das Zischen einer Schlange durchfuhr in der Gedanke an den Tod. Doch der Blick durchs Fenster auf das endlose, glitzernde Meer beruhigte ihn wieder. Ihm kam es vor, als würde über ihm aller Ärger, aber auch alle unruhige Lust der letzten Woche wesenlos. Er erinnerte sich noch, mit welch ungeduldiger Sehnsucht er darauf gespannt gewesen war, zum ersten Mal das Meer zu erblicken und wie es ihm dann bei einer Reise von einer Anhöhe aus erschien, eine gewaltige, blaugrau dämmernde Wand, die über Taleinschnitten, Bergen und Wäldern stand. Es war atemberaubend, und wie ein Wilder lief er los, um sich in seine Fluten zu stürzen.

Merkwürdig, dachte er, warum fliegen wir so tief? Fast waren die Schaumkronen auf den Wellen zu erkennen. Aber noch ehe er aufstehen konnte, um sich zu erkundigen, klopfte der Stewart an die Kabinentür und richtete ihm aus, sein Onkel wolle ihn sehen. "Im Frachtraum", fügte er hinzu und Porfirio ging kopfschüttelnd durch den leeren Salon in das Ladeabteil, wo er die Getreuen um Leonidas und den Sarg versammelt fand. Ein starker Luftzug kam von der geöffneten Tür und ließ die Haare wehen. Noch bevor sein Onkel Erklärungen geben konnte, verstand er. Seiner augenblicklichen Stimmung kam ein Seebegräbnis sehr entgegen. Wortlos näherte er sich seinem nächsten Verwandten und umarmte ihn mit einem Schluchzen, das unkontrolliert aus ihm hervorbrach. Onkel Leo sah mit einem genierten und etwas verkrampften Lächeln über seine Schulter weg auf die unter ihnen vorbeischießende grüne Flut. Dann trat er zurück, um ein paar Worte zum Abschied von seinem Bruder und Präsidenten von Santo Ignacio zu finden.

Er mußte laut sprechen, trotzdem zerriß das Motorengeräusch und das Knattern des sich an der Luke brechenden Windes seine Rede in lächerliche Fetzen. Porfirio vernahm in unregelmäßiger Wiederholung nur die Worte "orgullo, corazòn, patria, amor, vida, sangre, muerte". Schon sein Vater hatte in seinen endlosen Ansprachen gern solche großen, leeren Worte von sich gegeben, warum kam ihm das jetzt doppelt falsch vor? Woher kam nur seine Verstimmung?

Ach, zum Teufel damit, dachte er, man muß mitheulen, sonst ist es aus mit dem schönen Leben. Und innerlich weiter "amor, vida, sangre, patria, muerte" skandierend, packte er den hinteren Messinggriff des Sarges, der vor ihm stand wie ein Schlachtschiff zum Stapellauf, und schob ihn auf die Tür zu. Oh, er war unheimlich schwer. Zu fünft gelang es nur mit Mühe, ihn millimeterweise vorzurücken, bis er fast zur Hälfte aus der Luke ragte und der Wind an ihm zerrte und pfiff.

"Jetzt Vorsicht," sagte der Onkel hinter Porfirio, dessen Tränen auf dem vor Anstrengung glühenden Gesicht getrocknet waren, "gleich kippt er ab."

Und tatsächlich, Porfirio hielt noch den kalten Griff gepackt, als sich der Sarg plötzlich vor ihm hob und ihm die Füße nach hinten glitten. Voller Verwirrung hielt er sich noch an dem Sarg fest, der ihm als einzig sicherer Halt erschien und wurde mit einem Ruck hinter ihm aus der Tür geschleudert. Der Sarg überschlug sich im Sturz und Porfirio fiel hinterdrein, Meer, Himmel, Flugzeug und Totenlade kreisten wirbelnd um ihn her, dann spritzte unter dem Aufschlag des Möbels die Gischt des in grünblauen Wogen daherrollenden Meeres auf und der Präsidentschaftskandidat folgte, schoß in die Tiefe und versank wie ein Stein. Der Sarg hingegen mit dem toten General, der eine neue Bestimmung in sich fühlte, begann, nachdem er eine gewisse Tiefe erreicht hatte, wieder Auftrieb zu spüren und während der Sohn hinabglitt, stieg der Vater wieder langsam zu Tage. Auf halbem Weg begegneten sie sich, um sich für immer zu trennen. So sah es also aus, das ewige Leben! Der tote General begann dunkel das chinesische Sprichwort zu verstehen: Der Sohn ist älter als der Vater. Das war also die Ewigkeit, so leer, so gespenstisch leer!

In der Folgezeit sprachen die Karibikfischer beim Voodoozauber von einer neuen Erscheinung: In hellen Mondnächten preschte ein grünlich leuchtendes, uniformiertes Gespenst auf einem Sarg reitend über die Fluten. Wer ihm begegnete, mußte früher oder später abschrammen. Das war leider unvermeidlich.

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Einige Monate später saß Onkel Leonidas frühstückend auf der besonnten Terrasse eines portugiesischen Hotels. Sein Blick schweifte über den atlantischen Ozean, dessen Wellen am Fuß der Felsen brandeten.

Ein herrlicher Morgen war das. Über den Wassern lag noch ein leichter Dunst, in dem zuweilen schattenhaft Schiffe zu erkennen waren, die dem Hafen von Lissabon zustrebten. Vögel zwitscherten ihre naiven Weisen, das Kaffeegeschirr blitzte in der Sonne. Er betrachtete mit versonnenem Vergnügen die reifen weiblichen Formen Adelaides neben sich, die aufs Meer hinaussah.

"Sieh mal dies Schiff," sagte sie zu Leo und deutete auf eine entfernte Silhouette, "sieht aus wie ein Sarg." Da gehört er rein, dachte sie bei sich. Wie er sich heute nacht wieder aufgeführt hatte, als müßte man ihm die Stiefel lecken. Nur weil er reich war.

Leo strich sich eine dicke Schicht Ingwermarmelade auf den Toast. War ziemlich mühsam gewesen, sie hier zu bekommen. Nicht gerade eine Spezialität des Landes. Aber eine Familienerinnerung. Neben der Lust an der Macht die einzige Vorliebe, die er mit seinem Bruder geteilt hatte. Er sah zerstreut von seiner Tätigkeit auf und meinte: "Wird wohl ein Container-Schiff sein."

"Kannst du dir vorstellen, daß mein Bruder und ich uns immer um die Ingwermarmelade gestritten haben, als wir klein waren", fuhr er fort.

"Das widerliche Zeug," bemerkte Adelaide wegwerfend, "kann ich nicht verstehen." Sie empfand das dringende Bedürfnis, ihn zu verletzen. Leonidas spürte den Stachel. Seine gute Laune schlug um.

"Kannst du dir vorstellen", fuhr er in düster schneidendem Ton fort, "daß ich ihn deswegen habe umbringen lassen."

"Ach geh, das kann ich nicht glauben, Dickerchen. Du kannst doch keiner Fliege etwas zuleide tun!" erwiderte sie, um ihn zu reizen.

Das war zuviel. Onkel Leo kochte. Dieses dumme blonde angelsächsische Weibsstück mußte man einmal einen Blick in die Abgründe Lateinamerikas werfen lassen. Wenn er auch als Mann nicht mehr viel bei ihr ausrichten konnte, so sollte sie ihn doch nicht herablassend behandeln. Grausen sollte sie es vor ihm! Und nun beichtete er einem (zugegeben) teuren Callgirl (aber sie war ihr Geld wert!), deren Augen sich immer ungläubiger weiteten, alle seine Morde: Wie er seinen von Kindheit auf gehaßten älteren Bruder Rodolfo, den Präsidenten von Santo Ignacio ("Was soll das sein?") mit Hilfe von CIA-Agenten aus politischen Gründen, von denen sie sowieso nichts verstehen würde, hatte umlegen lassen, beim Frühstück, hahaha, wie ihn diese CIA-Bande aber betrogen habe und dem Führer der Linkspartei Vargas statt seiner Gruppe zur Macht verholfen habe. Wie er sofort nach dem Attentat festgenommen und mitsamt der Bruderleiche abgeschoben worden sei. Wie er mit seinem Neffen, seiner Leibwache und der einbalsamierten Leiche von Land zu Land geflogen sei, um sie irgendwo zu bestatten, von wo man sie einmal als Reliquie hätte herausholen können, um sie dem begeisterten Volk zu zeigen, sie solle an Evita Peròn denken - ("Kenn' ich nicht.") und ihm dann Porfirio als Sohn und rechtmäßigem Nachfolger zu präsentieren. Er selbst sei ja schon siebzig gewesen.

"Ach geh, " meinte Adelaide spitz, "das erfindest du doch alles nur, um dich interessant zu machen. Sowas gibt's doch gar nicht!"

Onkel Leo fuhr ungeachtet seines inneren Grimms fort, irgendwann mußte selbst bei der Dümmsten der Groschen fallen: Das sei aber völlig fehlgeschlagen. Weil sein Bruder ein so berüchtigtes Scheusal gewesen sei, habe sich kein Land bereitgefunden, seine geheiligte Erde mit seiner Leiche zu entweihen, so wäre ihm in seiner Verzweiflung schließlich eingefallen, sie vom Flugzeug aus ins Meer zu werfen.

"Nun sag' doch aber, Leo. Selbst im Scherz...." Adelaide fand es allmählich geschmacklos.

"Hör' zu, dummes Stück!" donnerte Onkel Leo so laut, daß sich zwei Knittergreise sechs Tische weiter erstaunt umsahen. Leo dämpfte seine Stimme: Sein Neffe, sei ihm mit der Zeit aber doch ziemlich überflüssig vorgekommen. Er sei das Gefühl nicht losgeworden, Porfirio wüßte, wer seinen Vater auf dem Gewissen hatte. Einmal habe er im Schlaf "Hamlet, Hamlet!" gestöhnt, da habe es für Leo festgestanden, daß er bald irgendwie verschwinden mußte. Und die Gelegenheit dazu habe sich ganz von selbst ergeben. Als Porfirio mit seiner Wache zusammen den Sarg aus dem Flugzeug wuchtete, habe er, das heißt genau genommen einer seiner body-guards, ihm ein Bein gestellt und ab ging's mit ihm ins Meer. Es sei nicht schade um ihn gewesen, ein Mädchenschänder weniger!

Adelaide hielt es nicht länger aus, sie lachte schrill auf. Onkel Leo konnte tief in ihren rosigen Rachen sehen, in dem das Zäpfchen auf und nieder schnellte. Gerade wollte er ihr eine beruhigende Ohrfeige langen, als sich von einer Seitentür her mit wehenden Rockschößen ein Kellner näherte. Er hielt ein silbernes Tablett in der Hand und stellte es links neben den Onkel.

"Sie haben neue Marmelade bestellt?" fragte er.

Der Onkel sah erstaunt auf. Mißtrauisch musterte er den Ober. Jeder Angestellte des Hotels, der mit ihm zu tun hatte, war sorgfältig unter die Lupe genommen worden.

"Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht!"

Das Gesicht des Kellners war hager und bleich, schwarze Mestizenaugen brannten in tiefen, blauumrandeten Höhlen.

"Aber ich kenne dich!" schrie er plötzlich, riß einen Trommelrevolver unter dem Jackett hervor und feuerte Onkel Leo eine Serie von Löchern in die Hemdbrust.

"Viva la révoluciòn!“ kreischte der Kellner, während Onkel Leo langsam vornüber sackte und mit dem Gesicht im Teller landete. Das Muster der Tischdecke spiegelte sich in seinen erstaunten Augen.

Eine fürchterliche Aufregung entstand. Adelaide schlug die Hände vors Gesicht und kippte vor Schreck mit dem Korbsessel um. Von dem Personal umringt und der zu spät auftauchenden Leibgarde, die friedlich im Keller gefrühstückt hatte, wurde dem Attentäter der leere Revolver aus der Hand gewunden.

"Viva la muerte!“ rief er noch höhnisch, als man ihn von der Terrasse schleppte.

Die Vögel, die während des ganzen Schauspiels verschreckt geschwiegen hatten, begannen wieder mit ihrem naiven Gezwitscher.

Das Gespenst der Karibik

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