Читать книгу Working Class Hero oder Frauke von damals - Hans Wienrich - Страница 6
4
ОглавлениеVor der Tür zur Station zögerte er. Links vom Eingang saßen in einem schmucklosen unbeleuchteten Kabinett drei Raucher, zwei Frauen, ein Mann, alle in Morgenmänteln. Sie unterhielten sich und qualmten vor sich hin. Dass man so nah an einer Krebsstation noch rauchen durfte!
Er wurde von der verschlossenen Tür aufgehalten und las: Keine Besuche nach 20 Uhr. Es war halb neun, also eigentlich zu spät. Durch die Glasfront konnte er den langen Gang übersehen, von dem rechts und links Krankenzimmer abgingen. Nicht weit entfernt betrat eine Krankenschwester den Flur. Er klopfte. Die Schwester schaute unwillig zu ihm zurück, kam dann mit unfreundlicher Miene zur Tür. Sie öffnete nur einen Spaltbreit und teilte ihm mit, die Besuchszeit sei leider vorbei. Er wolle nur kurz zu Frau Tiemann, nur etwas abgeben, sagte er. Wie sein Name sei. Er nannte ihn und die Schwester überlegte einen Moment; dann wollte sie wissen, ob er der Bruder oder ein naher Angehöriger sei. Als er verneinte, schüttelte sie den Kopf - Frau Tiemann könne leider keinen Besuch empfangen. Sie zog die Tür zu, aber Benito hatte seinen Fuß dazwischen gestellt, so dass sie nicht schließen konnte. Die Schwester wurde ärgerlich: der Herr müsse verstehen, die Patientin sei zu schwach und brauche ihre Ruhe. Doch er ließ sich nicht abwimmeln. Er wolle nur ganz kurz die Blumen überreichen und werde gleich wieder verschwinden. Die Schwester bot an, ihm die Blumen abzunehmen, aber so wollte er sich nicht abspeisen lassen. Der Besuch sei fest mit ihrem Vater vereinbart. Und: Frau Tiemann habe ausdrücklich darum gebeten.
Die Schwester wurde von hinten gerufen. Moment, sagte sie, stieß Benito energisch zurück und schloss die Tür. Er sah sie den Flur hinunter auf eine Kollegin zugehen, die mit einem Rolltisch unterwegs war, um Medikamente für die Nacht auszuteilen. Die beiden sprachen miteinander und schauten noch einmal kurz zu ihm herüber, bevor sie nach verschiedenen Seiten in Krankenzimmern verschwanden.
Er stand vor der verschlossenen Tür und starrte auf die Blumen - Nelken - die er noch eingepackt in der Hand hielt. Im letzten Moment, als er unten im Foyer an einem Blumenkiosk vorbei gekommen war, hatte er sie erstanden. Dabei hatte er noch Glück gehabt, denn man war bereits dabei gewesen, die Auslagen zum Feierabend einzuräumen. Peinlich, dass ihm vorher nicht in den Sinn gekommen war, Frauke etwas mitzubringen.
Früher hatte Jutta auf solche Dinge geachtet.
Ein junger Mann öffnete die Tür und ließ ihn ein. Ausnahmsweise dürfe er noch herein, für höchstens zehn Minuten. Benito bedankte sich und folgte dem Pfleger zu einem Zimmer direkt gegenüber dem Stationsraum. Vor der Tür nahm er rasch das Papier von seinem Strauß ab, und hinter dem jungen Mann, der ihn kurz ankündigte, um sich sofort wieder zurückzuziehen, betrat er das Zimmer.
Auf dem Bett lag vor ihm flach unter einer weißen Decke eine blasse Person mit schütterem Haar, die über Kabel und Schläuche mit Apparaten rechts und links verbunden war. Das Gesicht wirkte aufgedunsen, vor allem irritierte das spärlich dünne Haar. Nur mit Mühe gelang es ihm, in dieser Person Frauke Tiemann wiederzuerkennen.
Hallo, Benni, sagte eine schwache Stimme. Er solle nicht so erschreckt gucken - sie sei es trotzdem. Benito entschuldigte sich - er habe sie nicht gleich erkannt. Er wusste nicht, ob er ihr die Hand reichen sollte oder ob das zu anstrengend für sie wäre. Er hielt den Blumenstrauß hoch: Ich habe dir ein paar Blümchen mitgebracht.
Sie bedankte sich und sagte etwas, das Benito erst im Nachhall verstand. Demnach sollte er die Blumen auf die Fensterbank in eine Vase stellen. Er war froh, für einen Augenblick beschäftigt zu sein. Er füllte die Vase mit Wasser, schob vorsichtig die langen Stiele hinein und stellte den Strauß so gegen das Fenster ab, dass er nicht umfallen konnte.
Sie hatte ihn dabei beobachtet und forderte ihn jetzt auf, sich auf das Bett zu setzen. Er zögerte. Nein, er bleibe lieber stehen, er sitze sowieso den ganzen Tag. Er stellte sich ans Fußende und schaute ihr, gestützt auf das Eisenrohr des Bettgestells, entgegen.
Das sei eine schöne Überraschung, sagte sie mit ihrer matten Stimme, denn eigentlich habe sich ihr Bruder für heute angekündigt, aber der habe es wohl wieder nicht geschafft.
Benito erzählte, dass man ihn nicht zu ihr lassen wollte.
Ja, sie hätten extra angefragt. Die würden sich hier viel zu besorgt anstellen. Sie sei im Augenblick etwas schwach von der Therapie.
Sie bemerkte, dass er von einem Bein auf das andere trat, und forderte ihn auf, sich wenigstens einen Stuhl zu holen, wenn er ihr schon nicht nahe kommen möge.
Nun war er doch bereit, auf ihrem Bett Platz zu nehmen. Er setzte sich vorsichtig mit einer Pobacke auf die Bettkante, wobei er sich ein wenig nach links drehen musste, um sie ansehen zu können. Er räusperte sich, suchte nach Worten. Er sei überrascht gewesen, als Wolfgang ihn gestern Abend angerufen habe, sagte er.
Sie erwiderte nichts und schien durch ihn hindurch zu sehen, als ob sie seine Anwesenheit vergessen hätte. Schließlich sagte sie regungslos: Ich habe Papa gebeten, dich ausfindig zu machen.
Benito fasste sich an den Kopf. Natürlich - er habe sich noch gar nicht klar gemacht, dass sie seine Adresse nicht mehr kannten.
Sie lächelte mühsam und erkundigte sich, wie es ihm gehe und ob er immer noch aktiv sei. Er bewegte seinen Kopf nach rechts und nach links und hob die Schultern - das komme ganz darauf an, wie man das sehe.
Weißt du noch, wie wir an der Nordsee gezeltet haben - in Loikenhusen? fragte sie unvermittelt.
Er legte die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. Nein, daran könne er sich leider nicht mehr erinnern.
Das sei ihr gerade so eingefallen. Sie starrte wieder in den Raum hinein. Ihr Zelt habe gleich hinter dem Deich gestanden - sie lachte - und immer wenn sie baden wollten, hätten sie einen Kilometer weit nach draußen gehen müssen. Das sei nur bei Ebbe möglich gewesen.
Er bedauerte noch einmal. Da komme jetzt höchstens eine vage Erinnerung.
Sie schwiegen.
Die Pflegerin, die Benito vorhin nicht hatte einlassen wollen, schaute ins Zimmer und nickte Benito zu: Sie müssen. Er signalisierte sein OK, und sie zog die Tür wieder zu.
Als er sich erhob, schreckte Frauke auf: Du willst schon gehen?!
Er hielt ihr die Hand entgegen und sagte, er müsse am nächsten Morgen früh hoch - wegen einer Dienstreise nach Berlin. Und sie brauche vor allem Ruhe, damit sie sich von der Behandlung erholen könne.
Sie schüttelte heftig den Kopf - ihr Körper bäumte sich auf. Sie brauche keine Ruhe - Ruhe habe sie genug gehabt! Ihr Blick wurde wild, ihr Gesicht rötete sich. Sie ergriff seine Hand und ließ sie nicht los.
Bleib noch etwas - bitte!
Als er einwilligte, forderte sie ihn auf, ihr Bett höher zu stellen.
Von ihm aus gern, sagte er und machte seine Hand frei. Er wisse nur nicht, was der Drachen da draußen sagen werde, aber eigentlich sei das jetzt auch egal.
Nachdem er ihr Kopfteil höher gestellt hatte, richtete er sich auf und versuchte seinen Rücken mit hinein gestemmten Fäusten wieder gerade zu biegen. Dabei bemühte er sich, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Am Wochenende werde sie reichlich Leben in der Bude haben - Wolfgang habe ihm gesagt, dass er mit Else und der ganzen Familie kommen werde.
Wieder reagierte sie nicht. Sie blickte in den Raum, und auf ihrem unbewegten Gesicht schien ein grauer Schleier zu liegen.
Wolfgang habe erzählt, dass sie schon zwei Kinder habe - oder habe er da etwas falsch verstanden?
Vier und sechs, erwiderte sie tonlos. Und als er erstaunt nachfragte, erklärte sie: Die Kinder sind vier und sechs Jahre alt. Im nächsten Satz fragte sie ihn, ob er verheiratet sei. Als er bejahte, meinte sie: Sicherlich glücklich - das sieht man dir an.
Er kam nicht umhin zu lachen: Wie kann man mir das ansehen?
Das sieht man einfach, sagte sie, du siehst gut aus, strahlst Energie aus - du stehst mitten im Leben. Das sieht man einfach.
Jetzt war er es, der nicht antwortete. Er wusste nicht, ob er geschmeichelt lächeln sollte. Auf jeden Fall würde es keinen Sinn machen, seine komplizierten Verhältnisse näher zu erläutern. Er fragte sich, ob sie ihm gönnte, was sie an ihm zu sehen meinte. Stellte sie Vergleiche mit ihrem eigenen Leben an? Vielleicht wäre es doch angebracht zu erklären, dass bei ihm längst nicht alles so glatt und geregelt war, wie es scheinen mochte.
Er sah, wie sie wieder ins Leere schaute. Das Leben schien aus ihrem Gesicht entschwunden.
Ruppig wurde die Tür geöffnet. Die Schwester verlangte, er solle sofort gehen. Er nahm Anstoß an ihrem Ton - sie gerieten in unfruchtbaren Streit.
Bevor er schließlich die Station verließ, notierte er die Namen des Pflegepersonals.